Das ist gerade eine ganz merkwürdige Zeit für uns alle: Kontaktverbot in Deutschland und der Schweiz, Ausgangssperre in Italien und Österreich, die Grenzen sind zu, weltweite Reisewarnung … Kurz: Wir alle bleiben wegen des ollen Coronavirus quasi am gleichen Ort: Zuhause.
Und wo wir schonmal alle da sind, hat sich das schwarze Schaf gedacht: Das ist doch ideal für eine virtuelle Kunstreise 🙂
Denn „Kunst ist das flackernde Licht im Dunkel der Welt“ – das wusste schon die sardische Künstlerin Maria Lai (zu ihr weiter unten mehr):
Lassen wir uns also auf dem heimischen Sofa zu einer kleinen Kunstreise durch die Insel verleiten – da werden wir höchstens vom Farbvirus oder mit Fernweh infiziert. Die nächste Gelegenheit, alles persönlich zu besuchen, kommt bestimmt!
Und nun kommt mit zu meinen persönlichen Highlights der Kunst auf Sardinien 🙂
Dieses Wortspiel scheint mir für Kunst auf Sardinien unheimlich passend. Diese tief sitzende Melancholie, die ewige Unterdrückung, die Schwere des Landlebens, dieses wie verrückte Festhalten an dem Alten, das wie in Stein gemeißelte »Das ist so und nicht anders«, egal wie sich die Welt da draußen entwickeln mag: Die Sarden scheinen nicht nur die Traditionen, sondern auch das Leid aller Generationen vor ihnen zu bewahren. Wer das kreativ auflösen möchte, hat mit sich selbst und der Gesellschaft einiges zu tun.
Speziell im letzten Jahrhundert begann dieser kreative Kampf, in dem einzelne Künstler das alte, kollektive Leid zu wandeln suchten und im Schaffen ihre Erlösung fanden: Schriftsteller, Bildhauer, Maler.
Dieser Schaffensprozess hält bis heute an und die Insel befreit sich: War Kunst bis ins Novecento (19. Jh.) noch düster und verarbeitete Themen wie harte Landarbeit, Armut und Unterdrückung, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine zwar immer noch nachdenkliche, aber auch fröhliche und bunte Kunstszene entwickelt.
Einige der folgenden Stationen haben eine leichte Tendenz zum traditionellen Kunsthandwerk – das ist für mich aber kein Widerspruch, denn auf Sardinien wird so ziemlich alles aus dem Alten geboren, alles aus dem Handwerk, die Inspiration für das Morgen wird wird im Gestern gesucht.
Wenn du dich für die Kunst auf Sardinien interessierst, kommst du an Nuoro nicht vorbei: Poeten, Literaten, Musiker, Künstler und Kulturschaffende fühlten sich hier immer wohl. Dichter und Denker fanden Kontakt zu einer Welt außerhalb der Insel, dem einfachen Volk im Inselinneren erweiterte Nuoro den Horizont. Mach bei schönem Wetter einen Stadtspaziergang und dir wird sicher nicht langweilig. Diese Orte sind besonders erwähnenswert:
Das MAN versteht sich als der Motor der Insel für moderne Kunst. Hier verbindet man lokale und regionale Kunst mit dem internationalen Geschehen. Auf drei Stockwerken zeigen die Kuratoren immer wieder bekannte Künstler wie Giacometti oder Paul Klee, häufig in den Wintermonaten. Das Museum beherbergt rund 500 Arbeiten sardischer Künstler, Grafiker und Bildhauer, die platzbedingt nur in wechselnden Ausstellungen präsentiert werden können.
2019 mit viel Ambition und Geschmack in einem alten Stadt-Palazzo neu eröffnet widmet sich der Spazio Ilisso der sardischen Kunst und Bildhauerei des 20. Jahrhunderts. Der erste Stock wird für temporäre Ausstellungen genutzt – eingeweiht wurde der Spazio mit einer Ausstellung der Werke Marianne Sin-Pfälzer (1926-2015), einer deutschen, nach Nuoro ausgewanderten Fotografin.
Und manchmal, sonntags, wenn man ganz viel Glück hat, dann gibt es im Spazio Ilisso auch eine kleine Überraschung, wie den Auftritt des Männerchores Grazia Deledda aus Nuoro:
Und dann geht’s raus, auf einen kleinen Rundgang durch die Stadt.
Der ruhige, entspannte Platz unweit des MAN ist dem Dichtersohn der Stadt gewidmet und wurde vom Künstler Costantino Nivola aus Orani (siehe weiter unten) gestaltet. Große Granitsteine, darin kleine Skulpturen, am Rande ein unaufgeregtes Straßencafé. So lässt es sich leben.
35 Künstler verwandelten 120 Meter Betonwand an der Haltestelle der Überlandbusse in eine Galerie mit Murales / Wandmalereien zu Ehren des nuoresischen Poeten und Politikers Angelo Caria.
1926 erhielt die Schriftstellerin Grazia Deledda den Literaturnobelpreis, als erste und einzige Frau Italiens »für ihre von Idealismus inspirierten Werke«. Das Museum in ihrem Geburtshaus (in der Via Grazia Deledda) gibt Einblick in ihr Schaffen und das frühere Leben der Menschen in Nuoro.
Im etnografischen Museum in Nuoro wird die Nähe der Kunst zum traditionellen Kunsthandwerk auf Sardinien deutlich. Das nimmt zuweilen tolle kreative, künstlerische Formen an. Audioguides sind vorhanden. Plane ruhig ein bisschen Zeit ein, es gibt viele erstaunliche Dinge zu entdecken – von kunstvollem Brot bis zur Teppichkunst.
Nur eine kurze Autofahrt von Nuoro entfernt, liegt Orani, ein kleines unscheinbares Dorf, das aber Geburtsort eines großen Künstlers ist, der uns ja schon in Nuoro begegnete: Costantino Nivola (1911–1988). Aus einer Maurerfamilie in Orani stammend, schuf er viele seiner Arbeiten in den 50er Jahren im so genannten sand-casting / Sandformverfahren: Seine Idee bildete er als Negativ in Sand ab und goss sie mit Gips und Zement aus: Getrocknet war eine neue Skulptur entstanden. Und wie so oft auf Sardinien, schafft es auch hier ein einzelner Mensch, ein Dorf zu verändern. Ein Rundgang vom Museo Nivola (das häufig auch begleitende Ausstellungen anderer Künstler zeigt) durch den ganzen Ort lohnt sich. Nivola gestaltete auch die Front der kleinen Kirche / Chiesa Sa Itria mit Graffiti, und dir begegnen dir einige Kunstwerke in den Gassen.
Und noch eine Adresse im Nuorese ist für temporäre Ausstellungen gut:
Neben den traditionellen Masken aus dem eigenen Dorf, den Mamuthoens und Issohadores, zeigt das Museum Masken aus ganz Sardinien und des Mittelmeerraums. Ergänzt wird das durch ständig wechselnde temporäre Ausstellungen. – www.museodellemaschere.it
Jetzt verlassen wir die Inselmitte und machen einen Hüpfer in die Inselhauptstadt!
Seit Cagliari sich als europäische Kulturhauptstadt 2019 bewarb, hat sich die Kunst- und Kulturszene rasant entwickelt. Die Stadt ist Heimat von Street Artists, Musikern und Künstlern aller Art. In der Cittadella dei Musei, dem geschichtlichen und kulturellen Herz der Stadt, ist Horizonterweiterung garantiert: Skulpturen und Fundstücke aus der Nuraghenzeit im Museo Archeologico Nazionale treffen im Kopf auf zeitgenössische sardische und internationale Kunst in der Galleria Comunale d’Arte und dem Museo d’arte siamese / Musuem für siamesische Kunst: alles sehr inspirierend!
Das Museum ist die erste Adresse für Kunst auf Sardinien, da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Galleria in einem historischen Gebäude mitten im Park widmet sich zudem der Kulturforschung und initiiert innovative Projekte. Giardini Pubblici, Largo Giuseppe Dessì, Ruhetag: Dienstag. » www.museicivicicagliari.it
Cartec / The Cave / Cava Arte Contemporanea — Im Park, in die Felsen befindet sich die »Höhle«, eine mittelalterliche Ausgrabungsstätte und Schutzraum im zweiten Weltkrieg. Sie wird für wechselnde Ausstellungen genutzt. Informationen in den angrenzenden Museen.
Giardino sotto le Mura — Unterhalb der Stadtmauer von Castello, zum Viertel Villanova gelegen, war früher eine Betonwüste. Seit 2014 führt ein kleiner Kunstpfad durch einen kleinen Park. Leider bereits etwas heruntergekommen, aber doch eine kleine Oase in der etwas wuseligen Stadt.
Sant’Elia liegt weitgehend isoliert im Osten der Stadt und steht im Ruf, ein Problemviertel zu sein. In den letzten Jahren erfuhr es Aufwertung durch gezielte Baumaßnahmen. Das Lazzaretto nährt sich gut von dieser sozialen und territorialen Spannung und öffnet sich für multidisziplinäre Kunstprojekte. Schönes Kulturcafé als Treffpunkt. » www.lazzarettodicagliari.it
Und der Vollständigkeit halber noch zwei Adressen:
EXMA Exhibiting and Moving Arts — Früher war der Ort ein Schlachthof (Ex-Macelleria); heute ist es eine feste Einrichtung mit wechselnden Ausstellungen und Events: Kunst, Theater, Kino, Konzerte, Modeevents, Workshops und und und … (Via San Lucifero). » www.exmacagliari.com
X-MEM Mediateca del Mediterraneo — Im Viertel Stampace findest du eine multimediale und multilinguale Bibliothek, Infopoint und Kunsttreff in einem. Ein ambitioniertes Projekt, das vor allem junge Cagliaritaner anzieht und inspirieren will (Via Mameli 164). » mediateca.camuweb.it
Ulassai ist ein Museo d’Arte Contemporanea a cielo aperto, also ein Freilichtmuseum für moderne Kunst. Genauer gesagt, für die der hier heimischen Künstlerin Maria Lai (1919–2013). Entlang der Straße zur Grotte Su Marmuri Casa delle Inquietudini ist ein Haus mit unruhigen Tieren und neben ihm die Fläche La Scarpata, an der Ausfallstraße nach Santa Barbara geht es um lokale Traditionen, im Nachbardorf Osini hängt das Gänsespiel auf schwarzem Grund an der Wand, in Ulassai auf weißem Grund, und und und … Ja, und dann ist da ja noch das unfassbar geniale Kunstmuseum Stazione dell’arte.
Mit den beiden großen Vorbildern und Wegbereitern Maria Lai und Costantino Nivola, die auch zusammen arbeiteten, ist die sardische Gesellschaft definitiv offener geworden. Und so entwickelt sich die sardische Kunstszene auch im Heute prächtig.
Ich habe einige aktive, zeitgenössische Künstler auf der Insel kennenlernen dürfen:
Die zeitgenössische Kunst auf Sardinien ist vor allem eins: bunt. Maler, Bildhauer, Illustratoren, Street Artists und Kunsthandwerker sowie eine große Zahl privater Projekte prägen die heutige Kunstszene Sardiniens.
(Die Werke sind urheberrechtlich geschützt, auch die Fotos dürfen nur nach Genehmigung des Künstlers weiter verwendet werden.)
Bunt und kantig. Ursprünglich und progressiv. Authentisch und sarkastisch. Fröhlich und nachdenklich. Der sympathische Künstler bringt diese scheinbaren Gegensätze mit leuchtenden Farben auf die Leinwand und zeigt unterm Strich ein glückliches Sardinien. Studio: Piazza Michelangelo, Cagliari. — www.laconipaolo.it — Artikel über Paolo Laconi auf diesem Blog
Sein Projekt »Sas Caras« zeigt Gesichter und Masken Sardiniens. CARAS bedeutet „Gesichter“ und sie zeigen die typischen Charaktere der Sarden, ihre Legenden, ihre traditionellen Masken – aber nicht nur: Sie erzählen auch Geschichten über Behinderungen, über soziales Unbehagen und haben „einen erlebten Albtraum in Eisen und Mörtel verewigt“. Sein Studio ist in Oliena. — www.robertoserri.com
Seine Tiere mit den leicht irren Augen sind mittlerweile über die Inselgrenzen berühmt und eine wahre Freude, er nennt seinen Stil mit dem er Fröhlichkeit verbreiten will (was sehr gut gelingt): »Neo Happy Pop«. — www.bobmarongiu.it
Schwarz, Rot, Weiss – die kräftigen sardischen Farben prägen ihre Figuren, die sie Sos Moros nennt (aus »MOro« und »ROSso«). Sie zeichnet ein elegantes und sehr liebenswürdiges Porträt der Sarden. — www.sosmoros.com
Alessandro Tamponi
Der aus Nuoro stammende Künstler malt mit breitem Strich ein ironisches Bild des sardischen Volkes, setzt die Figuren in eine zeitgenössische Umgebung und lässt sie mit uns leben. — www.pitturatamponi.it
Und und und …
Fehlt noch eine Kunstform, die sehr gut zu Sardinien passt. Mit der beschäftigen wir uns jetzt:
Die aus Mexiko stammende Kunstform hielt auf Sardinien zuerst in Orgosolo während der 68er-Bewegung als politischer Protest Einzug.
Initiiert von der studentischen anarchistischen Gruppe Diòniso aus Mailand, die 1969 die erste Hauswand bemalte. Sie klagten das Desinteresse des Staates an seiner Bevölkerung an. Francesco Del Casino (geboren in Siena, verheiratet nach Orgosolo) nahm den Ball auf und widmete sich weiteren Themen. Er gilt als der geistige Vater des Museumsdorfes. Von vielen murales sind die Urheber jedoch nicht bekannt oder werden bewusst verschwiegen.
Hier auf dem Blog gibt es noch mehr Eindrücke aus Orgosolo und die „Botschaft des Friedens“.
1968 kehrte auch der aus dem Dorf nördlich von Cagliari stammende Künstler Pinuccio Sciola (1942–2016) nach Studien in ganz Europa in sein Heimatdorf zurück. Er tünchte die ärmlichen, uralten, schmucklosen und im Verfall begriffenen Lehmhäuser mit graubraunen Wänden kalkweiß – durch diese simple erste Maßnahme zogen Lebensfreude und Kreativität in San Sperate ein., findest du rund 350 Kunstwerke unter freiem Himmel, ohne Eintritt: Murales, Street Art, Graffiti, Skulpturen, Zeichnungen, Fotos, Arrangements von Gegenständen.
Noch mehr Impressionen aus San Sperate findest du hier.
Inselweit sind viele Orte den Vorbildern Orgosolo und San Sperate gefolgt und gestalten ihr centro storico / historisches Zentrum und viele schäbige Wände neu. Du findest tolle Murales z. B. in Tinnura, Onani, Muravera, Fonni, Sadali, Urzulei, Masullas, …
Artport Gallery, Flughafen Aeroporto Costa Smeralda — In der Einkaufspassage hängt ein großes, farbenfrohes Gemälde von Alessandro Tamponi, der seine sardischen Landsleute quasi karikiert und in ein Flugzeug verfrachtet. Im ersten Stock findest du die Art Port Gallery finden regelmäßig wechselnde Ausstellungen statt – ideal, um Wartezeiten zu überbrücken.
Die Galleria Artespazio ist eine der besten Adressen für sardische Kunst des Novecento (18. Jh.). Die Pinakothek zeigt eine der bedeutendsten Sammlungen der Insel, Tomè e Sanna, mit Kunstwerken vom 13. Jahrhundert bis in die Neuzeit. Auch in der Stadt begegnet dir vereinzelt Kunst: Der Künstler Angelo Maggi gestaltete den Brunnen / fontana in der Via Brigata Sassari; zu speziellen Gelegenheiten wird dieser illuminiert und für Kunstaktionen genutzt. Eingebettet in den öffentlichen Park / Giardini pubblici, ist der Padiglione per l’Artigianato, vom Architekten Ubaldo Badas erbaut und mit Reliefs vom Bildhauer und Designer Eugenio Tavolara aus Sassari, die z. B. die Cavalcata Sarda darstellen.
Manchmal begegnet man der Kunst auch da, wo man sie gar nicht erwartet, abseits aller Rennstrecken und Touristenpfade. Hier ein paar Eindrücke, auf der Insel verstreut:
Ich hoffe, euch hat diese kleine Tour Spass gemacht. Der nächste Urlaub kommt bestimmt, dann kannst du alles persönlich anschauen 🙂
Wenn du noch weiter schauen magst, dann empfehle ich dir, auf Instagram dem Hashtag #artesarda zu folgen.
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