Für literarisch interessierte Kulturschafe haben wir heute eine kleine Tour entworfen, die den Spuren einer großen Sardin folgt: Grazia Deledda, im Volksmund „La Deledda“ genannt. Ihre Werke sind keine einfache Kost, aber geben einen großartigen Einblick in die sardische Seele.
Sie ist die vielleicht berühmteste Schriftstellerin der Insel: 1926 gewann sie als bislang einzige Sardin und italienische Schriftstellerin den Literaturnobelpreis, für „ihre von Idealismus inspirierten Werke, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben auf der Insel ihrer Geburt schildern, und die mit Tiefe und Wärme die Probleme des menschlichen Lebens im Allgemeinen behandeln„.
Wir führen Euch gleich zu den Orten ihres Lebens und Schreibens. Zuvor noch etwas über …
Am 27. September 1871 als fünftes von sieben Kindern einer wohlhabenden Familie in Nuoro geboren, wuchs Grazia Deledda in einem kulturell geprägten Umfeld auf. Sie ging bis zur vierten Klasse zur Schule und lernte dann privat Italienisch, Französisch und Latein (zunächst von einem Freund der Familie; später setzte sie die Studien im Alleingang fort).
Früh beschäftigte sie sich mit Literatur und las die unterschiedlichsten Werke – von der Bibel über nationale Romane bis zu den großen ausländischen Autoren ihrer Zeit. Eine Freundschaft mit dem Archivar und Schriftsteller Enrico Costa aus der Region Sassari brachte sie dazu, selbst zu schreiben.
Sie war neugierig, burchikos, frech – und zielstrebig. Ihre erste Geschichte, „Sangue Sardo„, „Sardisches Blut„, veröffentlichte sie mit 17 Jahren.
Ihr Umfeld beäugte ihre Ambitionen trotz aller Kulturnähe sehr argwöhnisch: Sie wurde von Verwandten und Nachbarn angefeindet, so dass sie lange Zeit heimlich schrieb.
„La Deledda“ befand sich ständig in einem Wechselbad der Gefühle zwischen finanziellem Wohlstand und dramatischen Ereignissen in ihrer Familie: Der älteste Bruder gab wegen einer schweren Alkoholsucht sein Studium auf; der jüngste Bruder wurde kriminell; der Vater erlitt einen Herzinfarkt und starb; vier Jahre später starb auch ihre Schwester.
1892 begann sie eine Zusammenarbeit mit der „Rivista di tradizioni popolari italiane“ (Zeitschrift der italienischen Volkstraditionen) in Bologna, herausgegeben von Francesco de Gubernatis (manche sagen den beiden eine Affäre nach). Sie machte schnell mit ihren Erzählungen und Novellen auf sich aufmerksam. Insbesondere „La via del male“ („Der Weg des Bösen„) löste die Bewunderung sowohl der einfachen Leute ihrer Heimat als auch die der italienischen Literaturkritiker aus. 1900 heiratete sie und zog nach Rom, wo sie zwei Söhne bekam, Franz und Sardus.
In Rom schrieb sie die meisten ihrer Werke – jedoch spielen alle auf ihrer Heimatinsel oder haben einen sehr starken Bezug zu Sardinien. Die unverwechselbare Melancholie eines Sarden, der von seiner Heimat getrennt ist, klingt immer mit. Man sagt ihr ein fotografisches Gedächtnis nach – so konnte sie viele Beobachtungen aus ihrer kindlichen Welt und Details aus besuchten Dörfern in der Umgebung auch noch nach langer Zeit aufschreiben.
Nach ihrem Nobelpreis lebte sie ein sehr zurückgezogenes Leben. 1936 starb Grazia Deledda an einem Tumor.
Starten wir nun unsere Reise entlang einiger Stationen ihres Wirkens und Schreibens, und zwar in …
Geboren und aufgewachsen ist Grazia Deledda in einem der ursprünglichen Stadtteile Nuoros: San Pietro, sardisch: Santu Predu, war das Viertel der Hirten und Grundeigentümer. Auch heute begegnet man hier in den Straßen noch Männern zu Pferd – einige Vierbeiner wohnen sogar in den Garagen der Häuser und werden herausgeholt, um mit ihnen zu den Weiden in Richtung Lollove oder Monte Ortobene zu reiten.
Ihr Geburtshaus befindet sich in der heutigen Via Grazia Deledda im historischen Zentrum von Nuoro und ist jetzt das „Museu deleddiano“ (Informationen auf www.isresardegna.it in italienischer Sprache). In zehn Räumen werden Manuskripte, Fotografien und persönliche Gegenstände der Schriftstellerin gezeigt, darunter natürlich auch der Nobelpreis und Details ihrer Reise nach Stockholm. Das Museum ist ganzjährig geöffnet (montags geschlossen, im Winter verkürzte Öffnungszeiten).
Nuoro war um die Jahrhundertwende die kulturelle Oase der Barbagia, und Inspiration für die junge Deledda. Man nannte es auch „das sardische Athen“ – „l’Atene sarda„. Viele Künstler trafen sich hier, vom Musiker bis zum Poeten, vom Maler bis zum Bildhauer: Sebastiano Satta, Francesco Ciusa, Antonio Ballero, Giacinto Satta, Priamo Gallisay und Pasquale Dessanay. Ausländische Intellektuelle wie D. H. Lawrence waren begeistert und brachten die Werke auf den Kontinent und verhalfen Nuoro so zu seinem Spitznamen.
Auch heute beherbergt Nuoro ein großartiges Kunstmuseum: das MAN – Museo d’Arte della Provincia di Nuoro (www.museoman.it). Das „Museo del costume e delle tradizioni popolari di Nuoro“ zeigt ebendies: volkstümliche Kostüme und Traditionen aus Nuoro. Im September findet eine europäische Wissenschaftsnacht statt („La notte dei ricercatori„). Auch Archäoliogieinteressierte finden im nationalen Museum in der Via Mannu wertvolle Hinweise auf die sardische Frühkultur: Museo Archeologico Nazionale. Auf der musikalischen Seite ist das Festival „Nuoro Jazz“ zu erwähnen, das Ende August/Anfang September stattfindet.
Tipp für die Übernachtung in Nuoro: Ein sehr hübsches B&B ist das „Nughe’e’Oro“ (www.nugheoro.it), von der Veranda gibt es einen traumhaften Blick auf den Sonnenuntergang am Monte Gonare. Ganzjährig geöffnet ist das Hotel „Il Sandalia„, auf einem Hügel am Stadtrand gelegen, von dem man die Stadt bis in das Hinterland überblickt; das Hotel wirkt auf den ersten Blick schlicht, die Zimmer sind aber geschmackvoll und sauber und hier und da findet sich Sinn für Kunst und Kultur (www.hotelsandalia.com).
Etwa 15 Kilometer lang schlängelt sich eine kleine Sandstraße (Luftlinie ca. 8 Kilometer) ausserhalb der heutigen Stadtgrenzen von Nuoro durch ein Tal und dann hinauf in das kleine Dorf Lollove. Heute ist es fast vollständig verlassen, aber zur Zeit des Deledda-Romanes „La Madre“, „Die Mutter“ gab es dort noch ein paar Einwohner – und eine Kirche, die auch heute noch steht: Die „Cattedrale di Santa Maria della Neve„.
Die auf Wunsch eines Bischofs hier erbaute Kirche steht auf dem Hügel „Sa Tanchitta“ und wirkt fast etwas überdimensioniert für das kleine Dorf. Hier erleben die Protagonisten (ein junger Priester, der sich in eine junge Frau aus Lollove verliebt und deren Mutter, die diese Beziehung zu verhindern sucht) ihre dramatische Geschichte. Eine Tafel an der ersten Kreuzung in Lollove weist auf Grazia Deledda und die verschiedenen Orte ihres Wirkens hin.
Der Ort ist wunderschön am Fuße des Monte Lollove gelegen, und auch heute werden im Herbst einige Feste hier gefeiert. Zum Beispiel macht der „Autunno in Barbagia“ hier Station, und ein Kirchenfest lockt die früheren Bewohner zurück. Lest dazu auch unseren Artikel auf pecora-nera: Lollove ~ das charmante Geisterdorf.
Von Lollove gelangt man über eine kleine Provinzstraße nach 37 Kilometern nach Bitti – oder wie Grazia Deledda den Ort in ihren Romanen nennt: „Tibi“. Der Ort ist Schauplatz in „Colombi e sparvieri„, „Due miracoli“ und „Il padre„. Im Roman „Colombi e sparvieri“ wird eine Friedenszeremonie beschrieben, die 1887 hier zwischen den Dörfern stattfindet. Außerdem wird stets die Wallfahrtskirche „Santuario di Nostra Signora del Miracolo“ erwähnt, die etwas außerhalb auf den Hügeln von Gorofai liegt.
Ein viertägiges religiöses Fest, Su Miraculu genannt, findet hier jährlich Ende September statt, an dem in Trachten gekleidete Gruppen der umliegenden Dörfer die Marienstatue in einer langen Prozession zuerst ins Dorf bringen, und dann wieder zurück ins Santuario. Der sardische Tanz, Gesang und ein gutes Abendessen für die Teilnehmer werden dabei nicht fehlen. Wer sich dafür ernsthaft interessiert und die religiösen Momente respektiert, kann natürlich auch als neugieriger Reisender Kontakt suchen und teilnehmen.
Das Kulturschaf stapft dann natürlich auch in das Multimedia-Museum „Canto a Tenores“. Denn Bitti ist und bleibt in erster Linie berühmt für seine Tenöre, die aber wenig mit den Carusos dieser Welt gemein haben. Der „canto a tenore“ ist eine der ältesten musikalischen Ausdrucksformen Sardiniens. Vier Männer mit unterschiedlichen Stimmen – „bassu“ (Bass), „contra“ (Bariton), „mesu oche“ (Altstimme) und „oche“ (Vorsinger) – stehen im Kreis und singen polyphon. Diese Kunst gehört zum “Immateriellen Erbe der Menschheit” der UNESCO.
Sehenswert ist auch der Nuraghenkomplex Su Romanzesu in der Località Poddi Avru, etwa 13 km außerhalb von Bitti.
Tipp für die Übernachtung in Bitti: Eine schöne alte Villa auf einer Hochebene bei Bitti beherbergt das traditionelle Hotel & Restaurant „Su Lithu“ (www.sulithu.it).
Über die Strada Provinciale 3 ist Lula nur etwa 12 Kilometer von Bitti entfernt. Wer im historischen Zentrum genau hinsieht und nicht gerade zur Mittagsruhe ankommt, wird feststellen, dass sich seit der Schilderung Deleddas bis heute nicht viel geändert hat: „Die Gassen Lulas sind eng … es herrscht ein lebhaftes Treiben von Klatschweibern, Kindern, Hühnern und Hunden, wie ich es noch in keinem anderen Ort gesehen habe. Die Häuser sind aus rötlichem Schieferstein und so klein, dass man sie zu Pferd mit dem Kopf überragt.“
Einer ihrer berühmtesten Romane, „Elias Portolu„, spielt in Lula. Wieder ist eine Wallfahrtskirche der wesentliche Schauplatz, das „Santuario di San Francesco“ aus dem 15. Jahrhundert (erweitert im 18. Jh.). Unüblich auf der Insel findet man sie als sehr reiche, und mit bunten Fresken verzierte Kirche vor, außen ist sie rein weiß gestrichen mit den typischen roten Ziegeln als Dach.
Hinter dem Ort kommt der dominante Monte Albo in greifbare Nähe, ein tolles Trekkingziel. An schönen Tagen kann man hinaufklettern und mit Glück bis ans Meer sehen. Oder die hübsche, ebenfalls weiß getünchte Landkirche „Il Miracolo„ besichtigen, die pittoresk direkt vor den Steinwänden des Berges steht.
Galtellì ist ein lebhaftes Dorf mit rund 2.500 Einwohnern, Galtellinesi genannt. Es wirkt eine bisschen wie eine kleine Stadt, legt Wert auf Kultur und Moderne legt, und dabei sehr authentisch wirkt. Das Gute aus dem Gestern und Heute scheint hier zuhause zu sein. Nicht umsonst findet man ihn unter den „Borghi Autentici d’Italia“ – den authentischen Orten Italiens.
Das schöne Dorf am Fuß des Monte Tuttavista beherbergt den Kulturpark „Parco Culturale Grazia Deledda Galtellì“ (parchiletterari.com/parchi/grazia-deledda). Damit gemeint ist ein Pfad durch die Straßen des Dorfes, den man problemlos selbst entdecken kann, denn an vielen Hauswänden finden sich Zitate aus Deleddas berühmtestem Roman, „Canne al vento“, der fast ausschließlich in Galtellì spielt. Wie die meisten ihrer Werke beschäftigt er sich mit den archaischen sardischen Regeln, die besonders für junge Menschen oft bedrückend sind – und fast zwangsläufig zu Übertretung, Reue und Schuldgefühlen führen.
Eine geführte Tour mit den Initiatoren vor Ort erklärt das alles noch viel besser, und bringt Euch auch zu den versteckten Perlen – zum Beispiel in den Innenhof der Basilika, wie folgt beschrieben: “All’ombra del monte, tra siepi di rovi e di euforbie, gli avanzi di un antico cimitero e della Basilica pisana in rovina” – „Im Schatten des Berges, zwischen Brombeerhecken und Euphorbien, liegen die Reste eines alten Friedhofs und der Ruine einer pisanischen Basilika.“
Übernachtungstipp: Im „Castello Malicas“ (www.castellomalicas.it), wohnt ihr sehr authentisch, auf einem Hügel in einer alten Burg. Die Zimmer sind einfach, schön und sauber. Qualität hat hier nichts mit hohen Preisen, sondern mit schlichter Exklusivität zu tun.
Nach Oliena kam „La Deledda“ des Öfteren, der Ort lag in der Nähe von Nuoro. Oliena ist berühmt für zwei Dinge: die schroffen Berge und die stolzen Frauen. Beides faszinierte die junge Literarin.
Obwohl sie nie einen ganzen Roman Satz in Oliena spielen ließ, schuf sie eindrucksvolle weibliche Figuren aus Oliena. Sie sind schön, selbstständig und stark, große Verführerinnen und sich stets bewusst, dass die menschliche Existenz ein Kampf ums Überleben ist. „Si spingevano sino a Nuoro, assieme a cavallini carichi di vino e aceto, cestini pieni di frutta fresca e secca, tessuti in orbace.“ – „Wir fuhren bis nach Nuoro, zusammen mit Pferden, beladen mit Wein und Essig, Körbe voll von frischen und getrockneten Früchten und Stoff.“.
Oliena ist wunderbar verwinkelt, liegt am Hang des Monte Corrasì, dem höchsten Gipfel des Supramonte. Das Kalksteinmassiv dominiert den mit über 7.500 Einwohnern für sardische Verhältnisse geradezu großen Ort. Die wunderschöne Lage am übergroßen Berg bestimmt jeden Tag das Leben der Einwohner – man kann sich seiner Faszination und der Dominanz nicht entziehen.
Neben aller Kultur und dem literarischen Interesse ist der Ort heute der ideale Ausgangspunkt für einen echt sardischen Aktivurlaub.
Zurück in Nuoro fahren wir auf den Monte Ortobene. Der Berg ist die Grabstätte Grazia Deleddas und ist Schauplatz von „Il vecchio della montagna“ und „Canne al vento“.
„… dort unten, rings um den Schafstall, war der Ortobene ganz und gar ein Zauber aus Felsen, Wäldern und Lichtungen … das Moos bedeckte Steine und der Efeu auf den hohen Felsspalten ließ seine Büschel vom Wind liebkosen.“ (aus: Der Alte vom Berg)
Der Monte Ortobene selbst ist zuweilen ein sehr mystischer Ort. Auch als letzte Ruhestätte der sterblichen Überreste von Grazia Deledda (überführt aus Rom im Jahre 1959) scheint er geeignet. Sie liegen in einem Sarkophag in der „Chiesa della Solitudine“ („Kirche der Einsamkeit“) am Fuße des Monte Ortobene. Die Kirche wurde 1957 von dem nuoresischen Künstler Giovanni Ciusa Romagna, der die dort früher befindliche Kirche aus dem Jahr 1625 rekonstruierte.
Auf dem Monte Ortobene, 955 Meter hoch, ist auch der Schauplatz des Romans „Der Alte vom Berg“. In ihren Werken beschreibt Deledda auch die Kirche „Nostra Signore del Monte“, die um 1600 auf dem Gipfel erbaut wurde und einige kleine Hütten („cumbissias“), in denen Pilger Unterschlupf fanden und sich hier sich auf religiöse Feste vorbereiteten. Eine weitere Kirche, die Kirche von Valverde (grünes Tal, sardisch: „Balubirde“) wird im Roman „Canne al vento“ beschrieben.
Eines der wichtigsten religiösen und kulturellen Feste Sardiniens wird ebenfalls hier gefeiert: „Il Redentore“ (jährlich am 29. August). Eine bunte Prozession aus vielen Dörfern Sardiniens führt bis zur Statue hinauf, dort wird eine Messe zelebriert und schließlich ausgiebig auf sardisch-traditionelle Art gefeiert und getanzt.
Die wichtigsten ihrer Werke mit deutscher Übersetzung: „Racconti sardi“ (1895, „Sardinische Geschichten“), „Elias Portolu“ (1903, „Die Maske des Priesters“), „Cenere“ (1904, „Asche“), „Nostalgie“ (1905, „Heimweh“), „L’edera“ (1906, „Der Efeu“), „Il vecchio della montagna“ (1906, „Der Alte vom Berg“), „Canne al vento“ (1913, „Schilf im Wind“), „Naufraghi in porto“ (1920, „Schiffbrüchige im Hafen“), „La madre“ (1920, „Die Mutter“), „La fuga in Egitto“ (1925, „Die Flucht nach Ägypten“), „Cosima“ (Memoiren, 1937 posthum, „Cosima, die Jugend einer Dichterin“).
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