Der Maskenkarneval in der Inselmitte, der Barbagia, ist definitiv eine andere Nummer als der in Köln, Mainz oder Düsseldorf. Vergiss Schunkeln und Kamelle, Konfetti und Büttenreden. Und wenn du an Italien denkst: Vergiss auch den Pomp der geheimnisvollen, venezianischen Masken. Der Vergleich mit der alemannischen Fasnacht ist vielleicht noch am nächsten dran.

Die Barbagia legt mit ihrem Maskenkarneval in jedem Fall ’ne Schippe drauf.

Urig. Wild. Ursprünglich. Eigenartig. Archaisch. Intensiv. Lebendig. Ernst. Ruppig.

Halte das aus! Spüre den Herzschlag Sardiniens!

Keine Sorge, das ist nicht schlimm. Denn bei all dem Ungewohnten und Merkwürdigen, das dir begegnen wird, ist nichts ist heimeliger als die Gesellschaft von Menschen, die dich sofort in ihre Mitte nehmen, als wärst du schon immer da gewesen. Völlig egal, wer du bist, was du machst oder woher du kommst. Das ist das echte Sardinien.

Wichtig zu verstehen: Der traditionelle Maskenkarneval ist kein Touristenspektakel. Selbst wenn wir eingeladen sind, zuzusehen.

Hier ist alles echt, geboren vor langer, langer Zeit, als es noch gar keine Touristen gab. Und anders als alles, was wir kennen.

In diesem Artikel soll es um Gemeinsamkeiten und spannende Hintergründe der unterschiedlichsten Masken und Bräuche gehen.

Lesetipps auf diesem Blog: Eine kulturelle Einführung und Vorstellung der verschiedenen Karnevalstraditionen auf ganz Sardinien findest du hier: „Carrasegare! Erlebe den sardischen Karneval„. Und falls du eine Reise zu einem dieser Feste ins Auge fasst, habe ich auch Ideen und Termine zusammengefasst. Auf Artikel zu einzelnen, auf dem Blog vorgestellten Masken verlinke ich im Text.

Carrasegare – der traditionellen Maskenkarneval der Inselmitte

Fangen wir am besten vorne an, beim Wort Karneval: im Sardischen: Carrasegare (Logudorese) bzw. Carrasecare (Nuorese) und ähnlich in weiteren Sprachfärbungen kleinerer Orte, z. B. Harrasehare.

Das Wort stammt von latein: carnem / Fleisch und secare / schneiden, oder im Falle des Carnevale im Italienischen: carnem levare / eliminieren. Damit beschreibt es den Beginn der Fastenzeit – in der nämlich bis Ostern kein Fleisch mehr gegessen wird (bzw. werden soll). 

Das typische Gericht zur Karnevalszeit, fave e lardo / Bohnen und Speck, ist sozusagen die „letzte kräftige Mahlzeit“ vor der beginnenden Fastenzeit – und entsprechend fettig und gehaltvoll.

Fave e lardo / Bohnen und Speck bekommst du zum sardischen Karneval quasi überall – ob privat, im Restaurant oder auf öffentlichen Plätzen

Dieser christliche Bezug ist jedoch der jüngste – denn er wurde während der Christianisierung der der sardischen Bevölkerung mit den seit Jahrhunderten gepflegten, oft antiken Mythen und Riten verbunden. So ähnlich wie die Wintersonnenwende zu Weihnachten „christianisiert“ wurde.

Die eigentlichen Ursprünge liegen weiter zurück.

In der Inselmitte – vom nördlichen Nuorese bis in den südlichen Gennargentu – wurden uralte Riten, Masken und Bräuche bewahrt.

Die Barbagia, als „Insel in der Insel“, hat diese uralten Traditionen konservativ-eifersüchtig vor externen Einflüssen bewahrt und behütet.

Heute zeigt man sie eben anlässlich des Karnevals und doch ist keine der Rituale darum trivial oder albern. Im Gegenteil. Der raue, tragische, archaische und heidnische Charakter ist allen gemein geblieben.

Uns verraten schon die Namen der Masken, woher das Ganze eigentlich kommt.

Die Namen: Mamuthone, Mamutzones, Maimone, Maimulu …

Sprachlich ähneln sich einige der zentralen Figuren. Zum Beispiel:

  • Aritzo — S′Urtzu, Sos Mumutzones
  • Mamoiada — Mamuthones e Issohadores
  • Oltzai — Sos Intintos, Sos Murronarzos, Sos Maimones
  • Oniferi — Sos Maimones e S′Ammuttu
  • Samugheo — Mamutzones, S′Urtzu, Su ′Omadore
  • Ulassai — Su Maimulu
  • Gairo — Su Maimulu

Maimone in Oltzai und Oniferi ist am einfachsten zu bestimmen, denn es hat einen klaren Bezug auf der Insel: In der sardischen Mythologie ist Mamoine der Gott des Wassers und des Regens. Die Wurzel maim‘o geht auf das phönizische mem (Wasser) zurück.

Viele Quellen auf Sardinien tragen den Namen Maimone. Oder zum Beispiel auch Fonte di Mamujone – eine Quelle in Mamoiada. Und – wer aufgepasst hat, weiß es schon: Der Ortsname Mamoiada geht ebenfalls auf das Wasser zurück, war es doch eine vergleichsweise wasserreiche Region. Die lokalen Masken? Mamuthones. In Mamoiada ist man konsequent, da passt alles zusammen.

Auch in anderen lokalen Sprachräumen haben sich Varianten entwickelt – zum Beispiel in Ulassai und Gairo im südlichen Gennargentu: Su Maimulu. Die Mumutzones aus Samugheo gehen ebenfalls auf diesen Ursprung zurück.

Die antiken Ursprünge der Masken und Bräuche

Sie verlieren sich meist im Dunkel der Zeiten, da auf Sardinien keine schriftlichen Dokumentationen üblich waren. Alt sind sie in jedem Fall.

Der Maskenkarneval der Barbagia zeigt die schlichte, harte Realität auf Sardinien vor 100, 300, 500, 1000 im Einzelfall gar 3000 Jahren.

Einige Bräuche im sardischen Maskenkarneval sollen an über 3000 Jahre alte Riten der nuraghischen Bevölkerung geknüpft sein
Einige Bräuche im sardischen Maskenkarneval sollen an über 3000 Jahre alte Riten der nuraghischen Bevölkerung geknüpft sein

Die meisten der Figuren sind trotzdem gut verständlich, denn sie stammen aus ganz „normalen Umständen“ – wie so vieles aus antiken Zeiten. Aufgrund der bewegten Besatzerhistorie Sardiniens haben sie zudem mehrere kulturelle Überlagerungen erfahren und unterscheiden sich inselweit, aber auch in der Barbagia – mal mehr, mal weniger.

Kommen wir also zu den Gemeinsamkeiten.

Das erste, wesentliches Element ist nahezu allen Figuren des Maskenkarnevals in der Inselmitte gemein: der land- und viehwirtschaftliche Bezug.

Die landwirtschaftliche Realität, die Hirtenkultur und das Leben mit der Natur

In landwirtschaftlichen Kulturen war Unheil ständig präsent. Schlechtes Wetter, schlechte Ernten, Mühsal, Anstrengung, Krankheit, Tod – all das war Teil des Alltags. Man war den Elementen ausgeliefert, es ging darum, so gut wie möglich zu (über-) leben.

Also erfand man landwirtschaftliche Techniken, um sich und die Seinen gut zu versorgen. Aber eben auch Rituale, um das Schlechte so weit irgend möglich einzugrenzen und von Mensch und Tier fernzuhalten.

Tiere auf kargem, bergigen Land zu versorgen, war stets eine Herausforderung

Vieles wurde wegen dieser Unkontrollierbarkeit aus dem Glauben geboren – man brauchte eben Hilfe von oben oder einer übermenschlichen Macht. Der Glaube an Naturgötter spielte eine große Rolle. Auf Sardinien verehrte man das Wasser, eine Muttergöttin und einen Stiergott. Einige Rituale sollen gar eine Reminiszenz an den Stierkult der pränuraghischen Völker sein – damit wären sie tatsächlich rund 3.000 Jahre alt.

Aus dem jährlichen landwirtschaftlichen Kreislauf von Erwachen (Frühling / Aussaat), Leben (Sommer / Wachstum), Niedergang (Herbst / Ernte) und Sterben (Winter / Ruhe) leitete man das Prinzip der Wiedergeburt ab. Und wenn nicht auf dieser Welt, dann in einer anderen, im Jenseits / al di là.

Besonders klare Bezüge für den Bezug zur Landwirtschaft und zum Hirtentum finden wir in Mamoiada mit den Mamuthones und Issohadores, in Ottana mit den Boes e Merdules, sowie in Orotelli mit Sos Thurpos e S’Eritaju.

Sehr schön zu beobachten auch in Orani, wo Su Bundhu auftritt. In einen wetterfesten, schwarzen Wollmantel gehüllt, ist sein bärtiges Gesicht das eines Landarbeiters, einige stellen auch Hirten dar.

Die Maske des Su Bundhu aus Orani. Hier dreht sich alles um die Landwirtschaft, vor allem das Fruchtbarmachen des Bodens und der Aussaat.

Die Szene, die diese Figuren zeigen, dreht sich um das Bereiten des Bodens – mit Harken wird dieser aufgerauht und nachfolgende Bundhus säen das Korn. Manchmal werden umstehende Frauen mit der Harke gepiekt oder mit Weizenkörnern beworfen.

Beides Symbole der Fruchtbarkeit und Ausdruck des Wunsches, die Erde möge guten Ertrag bringen.

Antropomorphe und zoomorphe Masken: der Hirte und seine Tiere

Wie oben gesagt, geht es im sardischen Maskenkarneval im Wesentlichen um den Menschen und seine Sichtweise auf das Leben. Das Tier war nur ein weiterer Protagonist.

Wir haben es eben schon gesehen: Su Bundhu in Orani ist eine menschliche, also antropomorphe Maske. Sowohl bei Su Battileddu in Lula als auch bei Sos Thurpos in Orotelli sind nur Menschen dargestellt. Wobei einige Thurpos auch vor dem Pflug eingespannten Ochsen darstellen.

Selbst die Mamuthones e Issohadores in Mamoiada sind beides antropomorphe Figuren. Der Mamuthone wird zuweilen wegen seines Fellumhangs als Tier missverstanden.

„Wer verbirgt sich hinter der Maske?“

Und so ganz falsch ist das auch wieder nicht: Denn er trägt ja die Glocken der Tiere und auch die Maske des Mamuthone hat sehr starke Gesichtszüge, die ein verzogenes, menschliches Gesicht zeigt, und so doch einen Zweifel lässt, ob er „Mensch oder Tier“ ist.

In der Tat sind menschliche Figuren beim Maskenkarneval in der Barbagia in der Überzahl. Die Figuren, die Tiere darstellen, sind übersichtlich.

Tierähnliche, zoomorphe Masken finden wir natürlich auch.

Su Boe in Ottana ist ein Ochse – wiederum begleitet von antropomorphen Figuren, dem Merdule, seinem Hirten, und Sa Filonzana, einer knorrigen Alten. Der Hirte ist manchmal auch eine separate Figur neben den Hauptprotagonisten.

Die Tiere sind verschiedener Art. Welches, ist abhängig davon, welche Tiere im Leben der Menschen tatsächlich präsent war.

S’Urtzu bedeutet „das Tier“ und kann jedes wilde oder halb-domestizierte Tier meinen. Manchmal wird es mit l’orso, der Bär übersetzt – allerdings gab und gibt es auf Sardinien keine Bären.

In Fonni sind die Urthos wilde, in den höchsten Bergen der Insel lebende Tiere, mit einem langen Winterfell kann er sogar ein Wildschaf sein oder ein wild lebender Hund, er ähnelt sehr der lokalen Rasse cane fonnese. Da sie auch beim Kampf dargestellt werden, ist beides nicht so abwegig. Genau weiß das natürlich niemand.

Wild gewordene Urthos aus Fonni beim Kampf

In Ula Tirso ist S’Urtzu ein Wildschwein, da dieses in den dortigen Tälern präsent war und von den Menschen gejagt wurde.

In Samugheo ist S’Urtzu ein Ziegenbock. Und sein Gefolge, die Mamutzones, imitieren in einigen Szenen den Kampf der Ziegenböcke, mit dem sie Revier und Ziegen-Weibchen erobern.

Mit Ruß geschwärzte Gesichter im Maskenkarneval

Das Gesicht ist mit gebranntem und genässtem Kork eingerieben, so tief geschwärzt und nahezu unkenntlich gemacht. Auch das hat in den unterschiedlichen Orten der Barbagia verschiedene Namen, z. B. su gherdone, su ziziveddu, tintieddhu.

Schwarze Gesicher gehören zum Maskenkarneval – ebenso wie die schwarzen Wollumhänge der Hirten, Hirtenstöcke und Viehglocken

Mit der Geste des Schwärzens verlieren die Personen ihre eigentliche Identität – ein zentrales Thema generell im Karneval.

So verwandeln sich einige Thurpos in Orotelli durch die Mensch-Tier-Symbiose in eingespannte Ochsen, die die verschiedenen Phasen der bäuerlichen Arbeit nachahmen.

Das Schwärzen der Gesichter ist natürlich auch als eine Art Verkleidung zu verstehen, allerdings nicht so wie wir das aus dem nordeuropäischen Karneval kennen, wenn wir uns „als etwas oder jemand“ verkleiden.

Beim sardischen Maskenkarneval werden auch die Besucher geschwärzt – ich lasse das gern mit mir machen!
Beim sardischen Maskenkarneval werden auch die Besucher geschwärzt – ich lasse das gern mit mir machen!

Im sardischen Maskenkarneval bedeutet es, die eigene Identität aufzugeben und eine andere zu anzunehmen – ob als Mensch oder Tier oder beides.

In Mamoiada tragen die Mamuthones gar schwarze Holzmasken mit düsterem und tragischem Ausdruck. Für ihn ist es eine wahre Verwandlung und eine Angelegenheit, die sie sehr ernst nehmen.

In dem Moment, in dem sie die Maske aufsetzen, werden sie zu einer anderen Person oder Persönlichkeit; sie leben ein anderes Leben.

„Ho davvero vissuto una vita“, ich habe wirklich ein Leben gelebt, sagt der Mamuthone.

Schwarzschaf-Tipp: Eine Mamuthone-Maske ist ein authentisches Stück Sardinien, das sogar für uns zu haben ist – als echtes, qualitatives Kunsthandwerk direkt von einem Künstler in Mamoiada gefertigt. 

Auch in Ottana wird von einer ähnlichen Verwandlung berichtet:

»La maschera ci possiede, ci porta via in altri mondi, altri luoghi, altre dimensioni, fuori dalla nostra vita fottuta di servi pastori o di operai di Ottana. Il vino e la danza e i tamburi sono il lasciapassare per il nostro mondo … Buffa! Buffa e beni cun nosus!«

»Die Maske lebt. Die Maske ergreift Besitz von uns. Sie trägt uns in andere Welten, andere Orte, andere Dimensionen, hinaus aus unserem verfluchten Alltag als Schäfer und Arbeiter in Ottana. Der Wein und der Tanz und die Trommeln sind der Passierschein in unsere Welt … Trinke! Trinke, und sei mit uns!«

— Unbekannter Verfasser // zum Karneval in Ottana

Das Aufgeben der eigenen Identität, um eine andere anzunehmen, zeigt sich noch besonders in einer anderen Eigenschaft und Gemeinsamkeit einiger Masken:

Über Männer und Frauen im Maskenkarneval der Barbagia

Häufig sind Männer zu sehen, die als Witwen verkleidet sind. Sie tragen die Röcke und Kopftücher, aber die Stiefel und Anzüge der Landmänner.

Sie intonieren Beerdigungsgesänge, Sos Attitos. Damit beweinen die „Witwen“ üblicherweise den Winter, beispielsweise in Mamoiada, wo dieser in Gestalt des Juvanne Martis in der letzten Nacht des Karnevals stirbt – und dieser mit ihm.

Das war früher in einigen Orten sogar wirklich Brauch – zum Beispiel in Orotelli, wo der Witwer beim Tod seiner Frau deren Kleider anzog. Aus Respekt vor ihrer Arbeit und ihrer Rolle, die er nun zusätzlich ausfüllen musste. Also neben dem Hüten der Tiere musste er auch Haus, Hof und Kinder versorgen.

Eine „Witwe“ in Lula

In Lula können wir noch etwas tiefer in die Symbolik schauen: Dort heißen die Witwen Battileddos Gattias. Sie sind nicht einfach als Witwen verkleidete Männer, sondern sie erleben (auch nach eigener Aussage) eine Verwandlung in eine neue Identität als Frauen.

Heute würde man dazu vielleicht sogar Transgender-Identität sagen. Und das hat nichts, aber auch gar nichts mit einer Karnevalsverkleidung zu tun – auch wenn Karneval ist und sie verkleidet sind –, sondern mit dem Annehmen einer wahren Identität. Zumindest temporär für diese besondere Zeit.

Die „Witwen“ in Lula tragen versteckt eine Peitsche, gefertigt aus getrocknetem Rinderpenis. Eine Einwohnerin erklärt mir, dass hier das archaische Sardinien durchblitzt, in dem männlich und weiblich in gottgleicher Kraft existierten.

Auch Sos Intintos in Oltzai sind als Witwen gekleidet, die den Tod des Karnevals betrauern. Neben den Schweins- und Ziegenmasken Sos Murronarzos gibt es in dem Ort noch Sos Maimones.

Diese stellen sehr eindeutig Fruchtbarkeitsriten dar: Halb Mann, halb Puppe mit weiblichen Zügen, haben Sos Maimones vier Arme, vier Beine und zwei Köpfe und verkörpern die Verschmelzung von Mann und Frau beim Akt. Es handelt sich um besonders fröhliche Masken, denen die übliche Ernsthaftigkeit des barbaricinischen Maskenkarnevals abhanden kommt.

Dass nur Männer am traditionellen Maskenkarneval teilnehmen, ist noch eine andere Frage, die sich zwar aufdrängt, die Antwort liegt aber nicht gleich auf der Hand. Denn heute werden mit der Geschlechterfrage andere Themen aufgeworfen.

Das Verständnis von Mann und Frau war vor 100 oder 1000 Jahren grundlegend anders. Wir müssen eigentlich sogar weit in die vorchristliche Zeit zurückschauen.

Man muss dazu verstehen, dass die sardische, vom Christentum unbeeinflusste Kultur matriarchialisch geprägt war.

Die Frau hatte einen enormen Stellenwert und war dem Mann in gewisser Weise überlegen – denn sie schenkte das Leben und konnte es aus sich selbst ernähren.

Der Mann hingegen war gezwungen, der kargen Erde durch harte Arbeit das Lebensnotwendige abzuringen. Nur er musste sich daher mit den Naturgöttern versöhnen. Die Frau hatte bereits eine göttliche Lebenskraft in sich.

In Ottana spinnt Sa Filonzana den Lebensfaden und entscheidet über Leben und Tod. Wen sollte sie um Fürbitte anflehen? Sich selbst?

Sa Filonzana – eine antropomorphe Maske in Ottana, die eine alte Frau darstellt
Sa Filonzana, eine antropomorphe Maske in Ottana stellt eine alte Frau dar, die den Lebensfaden spinnt. Sie wird aber stets von einem Mann verkörpert.

Das ist auch der tiefere Grund, warum es zum Beispiel keine „Mamuthona“ gibt und Frauenfiguren im sardischen Maskenkarneval nicht vordergründig präsent sind.

Die Ideen, den Karneval auch für Frauen zu „öffnen“ und ihre Rolle aufzuwerten, werden von außen, speziell nordeuropäischen Touristinnen, immer mal wieder geäußert, treffen aber auf Widerstand und Unverständnis – sowohl bei sardischen Männern als auch Frauen.

Versteht man die obige Symbolik, wäre das sogar absurd. Wie kann man Frauen aufwerten, wenn sie schon seit tausenden von Jahren den höchsten Stellenwert haben?

Ausnahmen bestätigen wie so oft die Regel:

1. In Gavoi sind unter den Tamburinos auch viele Frauen.

2. Im Sinne des Identitätswechsels ist natürlich auch möglich, dass eine Frau wenn sie denn will, eine männliche oder andere Gestalt anzunehmen.

3. In Fonni sind als „Gegengewicht“ zu den düsteren Urthos und Buttudos auch die Mascheras Limpidas zu sehen, die Frauen darstellen. Zwar befinden sich unter den Masken vielfach Männer, aber eben auch Frauen.

Mascheras Limpidas in Fonni – unter der Maske können sich Frauen oder Männer verbergen

4. Am Karnevalsdienstag ist theoretisch alles erlaubt, wenngleich manche Dinge trotzdem unantastbar bleiben. Dazu sicher beizeiten mehr in einem anderen Artikel.

Auch in der landwirtschaftlichen Realität findet sich nur schwer ein passendes Symbol, denn weibliche Tiere, speziell Kühe, nicht zur Landarbeit eingesetzt wurden. Es waren der Mann und das männliche Rind, die vereint in angestrengter Arbeit um das Überleben kämpften.

Kommen wir also zum Tier und den Glocken – ebenfalls wichtiger Bestandteil der Symbolik im sardischen Maskenkarneval.

Glocken. Immer wieder Glocken.

Durch die Gassen der Dörfer dringt der starke, dumpf-scheppernde Klang großer Viehglocken, die die Arbeitstiere auf dem Land tragen.

Ein solcher Glockenschmuck kann über 20 Kilogramm wiegen

Ihr Klang hat – wie in vielen landwirtschaftlich geprägten Kulturen – die Funktion, das Böse zu vertreiben und für ein Wiedererwachen des Bodens zu sorgen, der für das kommende Jahr fruchtbar werden und Mensch und Tier ernähren muss.

Auch sie haben unterschiedliche Namen: sos marrazzos, campanacci, su erru

Wir sind mit dem Gedanken des Unheil abwehrenden Charakters vertraut: Das laute Scheppern soll böse Geister von Menschen und Herden vertreiben. Der Klang der Viehglocken und der Tanz, mit dem viele der Figuren sie zum Läuten bringt, ist entsprechend beeindruckend.

Der tiefere Sinn ist, den Menschen mit der Natur zu versöhnen. Oder vielmehr mit den Naturgöttern. In früheren Zeiten lebten die Menschen sehr nah an den Elementen, alles war um einiges beeindruckender. Man glaubte, jedes Unheil aber auch alles Gute sei von höheren, unkontrollierbaren Kräften gewollt.

Und so war die Fürbitte an die Götter der Natur um Fruchtbarkeit der Felder und um Regen in Trockenzeiten ein wesentlicher Bestandteil des landwirtschaftliches Jahres.

Mit dem lauten Klang der Glocken glaubte der Mensch, sich bei diesen Gehör verschaffen zu können.

Glocken gibt es je nach Art der Tiere, die man vorwiegend im Dorf hielt in klein, z. B. von Schafen oder Ziegen …
… oder in groß als Kuhglocken – hier die Masken aus Ottana. In dem Tal wurden traditionell Kühe gehalten, auch an der Maske des Boe = Ochse erkennbar.

Die Klöppel der Glocken sind übrigens bei den großen Glocken traditionell aus Knochen gefertigt. Bringt uns zu einer weiteren Gemeinsamkeit einiger Masken:

Tierfelle und Knochen …

Spätestens jetzt wird’s für zarte Gemüter anstrengend: Dunkle, kräftige Gestalten mit umgehängten oder zusammengenähten Tierfellen und Tierknochen treten auf … zum Beispiel Sos Colonganos e s’Urtzu in Austis.

Knochen und noch mehr Knochen – eine Verbindung zum Jenseits

Die Sos Colonganos tragen Gewänder aus dunklem Schafsfell und auf dem Kopf ein Fuchs- oder Marderfell. Die Felle waren zunächst einmal notwendig als Schutz vor Regen und Wind in der bergigen und ungemütlichen Landschaft.

Dazu tragen die Figuren Tierknochen auf dem Rücken, die früher mit getrockneten Gedärmen, heute mit Seilen zusammengehalten werden.

Mit dem Klang, den sie machen, wenn sie beim Laufen oder Tanzen aneinander schlagen, wurde der Regen herbeigerufen, mit dem Trockenzeiten und Dürren verhindert werden und die Quellen und Flüsse zur Versorgung von Mensch und Tier gefüllt werden sollten.

Bevor der Mensch Metalle entdeckte und verarbeitete, waren Knochen auch ein Ersatz für Glocken.

In der ursprünglichen Symbolik repräsentieren Tierknochen den Tod und die Wiedergeburt.

In Escalaplano habe ich mir auch die Maske des Su Omadori (Bild etwas unten) erklären lassen: Die Maske, die er im Gesicht trägt ist ein Teil des Beckenknochens eines Ochsen.

Dieser wurde in uralten Zeiten von denen getragen, die mit dem Jenseits kommunizierten.

Knochen gelten als verbindendes Element in andere Welten, da sie nach dem Tod das sind, was in dieser Welt von Mensch und Tier übrig bleibt.

Auch die Figuren aus Neoneli tragen Knochen auf dem Rücken (hier zu sehen bei der Cavalcata Sarda in Sassari, jährlich im Mai)

Tierschädel – ein gutes Omen

Uns begegnen auch immer wieder ganze Tierschädel. Teils ganz präpariert und ausgestopft, teils Hörner auf einer Holzkonstruktion.

Da wo sich Ottana die Mühe macht, für den Ochsen Su Boe eine kunstvolle Maske aus Holz zu schnitzen, werden in Escalaplano für Su Boi ganze Stierköpfe vom lokalen Schlachter geholt und präpariert.

Su Boi e Su Omadori

Das ist sicher nichts für zarte Gemüter und Veganer. Andererseits werden die Tiere ja nicht extra dafür geschlachtet. Zudem ist die Zahl der Personen, die am Karneval aktiv teilnimmt vergleichsweise gering. In Einzelfällen war der Protagonist sogar Eigentümer (also der echte Hirte) des Tieres und hat eine Bindung zu ihm. Nicht alles ist so rau, wie es scheint.

Selfie mit Schädel … letztlich ist es ein schönes Symbol für die Wiedergeburt und soll Glück bringen!

Letztlich kann man das im Sinne der Wiedergeburts-Symbolik des Karnevals sogar positiv sehen: Hier beginnt alle paar Jahre mal ein Rind mit Kopf und Fell ein zweites Leben im Karneval und ein Mensch nimmt seine Gestalt an.

Mich hat dieser letzte Gedanke mit den Tierschädeln versöhnt und ich kann sie – auch als Tierfreundin – heute gut ertragen.

In der Symbolik geht es sowohl in Ottana als auch in Escalaplano um den Kreislauf des Lebens, gebunden an reale Vorgänge. Und der Protagonist des Su Boi trägt eben einen echten, schwarzen Kuhschädel. Er wird vom Hirten Su Omadori zur Landarbeit unterworfen. Und am Ende ihrer arbeitsreichen Tage stirbt er.

Ich mag Ziegen. Habe aber auch meinen Frieden mit dem Anblick von S’Urtzu aus Samugheo gemacht.

Wie lebendig diese Symbolik bis heute im sardischen Alltag ist, bemerken wir auf Rundreisen, wenn Tierschädel an Zäunen oder Gebäuden befestigt sind.

Speziell Rinderschädel / teschio di toro ist ein Zeichen für das buchstäbliche Wiederauferstehen und die Regeneration: Brannte jemandem zum Beispiel sein Land ab, war der Stierkopf das Zeichen für die Fähigkeit der Natur, sich zu erneuern, und damit für den Kreislauf des Lebens. An die antiken Riten geknüpft, glauben viele immer noch, er bewahre sie vor Unheil.

Tierschädel werden als Schutz für das Land, die Herde, die Gemeinschaft verstanden – und auch für jeden, der sie berührt.

Also: Hab keine Angst. Es ist schon gut und zutiefst menschlich.

Keine Berührungsängste, auch wenn S’Urtzu mich im Griff hat …

Außerdem ist der Weg von den Phöniziern zu den Griechen nicht weit: Ein Einfluss der griechischen Kultur bei den Figuren des Maskenkarnevals in der Barbagia gilt als historisch sicher.

Symbolik aus Wein und Wahnsinn: Dionysos!

Die zoomorphen Figuren des sardischen Karnevals gehen fast alle auf vorchristliche Riten zu Ehren von Dionysos zurück, den griechischen »Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase« (Wikipedia).

Eine "Witwe" gibt Wein aus – das Lebenselixier des Karnevals
Eine „Witwe“ gibt Wein aus – Lebenselixier des Karnevals

Wie genau dieser griechische Gott nach Sardinien kam, ist nicht dokumentiert. Doch der starke Einfluss der griechischen Kultur in ganz Europa ist unbestritten – immerhin haben wir unser bevorzugtes Staatssystem der Demokratie und viele bedeutende Philosophen ihnen zu verdanken.

Sardinien war aufgrund seiner prominenten Lage im Mittelmeer quasi das Zentrum der Kulturen im Mittelmeerraum. Zwar siedelten die Griechen selbst auf Sardinien nur kurz in Olbia, aber sowohl Handel als auch Kultur beeinflussten die Insel.

Die Phönizier und Karthager, die bis ins östliche Mittelmeer aktiv warne, hinterließen ebenfalls ihre kulturellen Einflüsse, schon zu Zeiten der nuraghischen Kultur auf Sardinien. Ein Zeugnis davon sind die Giganten von Mont’e Prama, datierend auf etwa 900 vor unserer Zeit.

Insofern kann man vielleicht davon ausgehen, dass die Ursprünge der sardischen Traditionen sicher 3.000 Jahre, wenn nicht noch weiter, zurückreichen.

Was hat Dionysos mit dem sardischen Maskenkarneval zu tun?

Ihr erinnert euch an das phönizische Wort mem Wasser als Namensgeber für den sardischen Gott Maimone? Daas griechische émmonos (έμμονως) soll auf den gleichen Wortstamm zurückgehen (bitte fragt danach gern den Sprachforscher eures Vertrauens).

Und das Wort bedeutet „besessen“. Von manchen Wasserquellen auf Sardinien wird interessanterweise behauptet, dass sie verrückt machen … Und so ist dieser Zusammenhang gar nicht so abwegig.

Diese Besessenheit, die sich direkt auf den griechischen Gott Dionysos bezieht, prägte die landwirtschaftlichen Riten und Naturkulture Sardiniens. Von der unkontrollierten Wildheit mancher Figuren lässt sich durchaus eine Verbindung herstellen.

In Samugheo lässt sich der Dionysos-Kult sehr gut nachvollziehen. Die Karnevalsfiguren S’Urtzu e Mumutzones binden sich klar an das antike Vorbild:

Eine Hirtenfigur, Su ‚Omadore kontrolliert und beobachtet die Szene, in der S’Urtzu den Gott Dionysos darstellt. Er trägt das Fell und den Kopf eines Ziegenbocks und regiert majestätisch.

Die Mumutzones sind das Gefolge des Gottes, der wie im griechischen Vorbild stirbt und wieder aufersteht – wie in jedem Jahr die Vegetation. Sie gehen kraftvoll-elegant im Kreis, bis in einer »sterbenden« Phase (Winter) einer nach dem anderen seinen »Kopf« um ein kleines Feuer ablegt.

Feuer hat übrigens auch bei den Mamuthones aus Mamoiada eine Bedeutung – nämlich zu Beginn des jährlichen Karnevals zu den Feuern zu Ehren des Heiligen Sant’Antonio.

Dann nämlich beginnt der traditionelle, sardische Maskenkarneval mit dem ersten Erscheinen / Sa Prima Essida der wichtigsten Figuren in der Barbagia. Die gesamte Dorfgemeinschaft kommt zusammen. Sant’Antonio ist – neben einer tollen Attraktion für Nebensaison-Reisende – ein Fest für alle.

Und so ist jedes Fest im sardischen Maskenkarneval auch ein Fest unter Freunden und eines, zu dem Reisende immer willkommen sind.

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