Orotelli, sardisch: Oroteddi. Das ist einer dieser Orte, in die sich kaum Besucher verirren. Außer man wird extra angelockt – wie wir heute zum Karneval.
Als wir ankommen fällt selbst bei dem grauen Mistwetter auf, wie hübsch es gelegen ist: an Granithängen mit Steineichenwäldern, einigen Nuraghen in der Nachbarschaft und dem weiten Blick auf die Ebene von Ottana. Im Frühling und Sommer muss das hier ein ganz lauschiger Ort sein.
Reich ist der Ort, hier wird seit langer Zeit Getreide angebaut und gedeiht auf den fruchtbaren Hängen besonders gut – hier soll der beste Weizen Sardiniens wachsen.
Seine Einwohner sind ein wenig wohlhabender als die anderer Orte, früher besaß fast jedes Haus Land, Rinder und Pferde. Nomen est scheinbar omen: der Name kommt vermutlich vom lateinischen „auri tellus“, was Erde aus Gold bedeutet.
Orotelli ist auch heute noch reich – und zwar auch an Traditionen. Fast alles ist irgendwie an das harte Landleben der fleißigen Bauern geknüpft – denn der Wohlstand ist hart erarbeitet. Der Bauer ist hier ein sehr angesehener Beruf.
Das drücken auch die Karnevalsmasken aus, Sos Thurpos e S’Eritaju. Wie in einer Pantomime spielen die Figuren das Leben als Landwirt.
Diese Traditionen sind nicht nur zum Karneval lebendig, doch es ist eine schöne Gelegenheit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Interessanterweise sind es in Orotelli vor allem die jungen Sarden, die die Masken neu entdeckt und wieder belebt haben und sie voller Stolz am Leben halten.
Auch kleine Kinder laufen zusammen mit den Halbstarken und den Erwachsenen. Vor ihnen und ihrem Sinn für traditionelle Werte ziehen wir unseren wolligen Hut.
„Su Thurpu“ zeigt sich in vielen Figuren des sardischen Landlebens:
Alle Thurpos sind dunkel gekleidet. Sie tragen schwarze Reithosen aus Kord, robuste Lederschuhe, Gamaschen aus Leder.
Das wichtigste Kleidungsstück ist der dunkle Umhang mit Kapuze (su gabbanu), die weit in das mit verbranntem Kork („su gherdone“) geschwärzte und unkenntlich gemachte Gesicht hängt. Übrigens auch Kleidung und Brauch der Witwer Orotellis in früheren Zeiten, wenn ihre Frau starb. Über dem Umhang tragen sie ein Band mit Glocken – so wie die Tiere früher.
Sie springen durch die Straßen, und mit ihrem heidnischen Tanz wurde ursprünglich der Gott Dionisos um eine gute Jahresernte angefleht.
Denn der Überlieferung nach war er es, der den Menschen beibrachte, die Rinder für die Landarbeit einzusetzen und ihnen den Pflug schenkte, der die Arbeit erleichterte.
Auch diese Figur hat unchristliche Ursprünge, und wurde von den christlichen Besatzern Sardiniens untersagt. Der Eritaju ist mit einem hellen, aschefarbenen Gewand gekleidet, mit einer Kapuze und einer rot gefärbten Maske.
An einem Lederriemen vor der Brust sind mehrere tote Igel befestigt – ihr sardische Bezeichnung ist „erittu“, daher der Name der Figur, „su eritaju“.
Sie verfolgen die Mädchen und Frauen, fangen und umarmen sie – in der Umarmung werden die Damen von den Stacheln der Igel gepiekt, was wiederum den Liebesakt darstellt. Das Blut, das aus den Wunden floss, die die Stacheln in der Brust der Frau verursachen, sollte die Erde fruchtbar machen.
Die Umarmung der Eritajos soll auch heute noch Glück bringen – das kann Kindersegen oder ein reiches kommendes Jahr bedeuten.
Die Szenen, die auf den Straßen Orotellis gezeigt werden, symbolisieren den Kampf des Menschen mit der Natur. Mensch und Tier teilen das gleiche Schicksal. Gemeinsam versuchen sie, die Dämonen loszuwerden und zu vertreiben, da diese die Ernten zugrunde richten. Sie kämpfen gemeinsam um das Überleben.
Ein Gedicht des berühmten Sohnes des Ortes, Salvatore Cambosu (Verfasser von „miele amaro“) und das an einer Wand des Platzes „Su Palu“ neben einem Wandgemälde der Thurpos geschrieben steht, vermittelt die ursprüngliche dunkle Stimmung, die über dem Dorf lag:
Zu Pferd brachen sie auf, am ersten Baum,
vermummt, mit ihren schwarzen, wollenen Mänteln,
und hohen spitzen Kapuzen
sahen sie aus wie Menschen aus der Hölle.
Schwarz waren auch ihre Pferde,
bis es aussah, als hätte jemand sie in Brand gesteckt,
im Osten der regennasse Wald.
Es war die Morgenröte.
Die Geschichte war der Tradition Orotellis leider nicht ganz hold. Denn beide Figuren galten als heidnisch und unschicklich – der Eritaju verschwand schon etwa ab 1850 aus Orotelli, die Thurpos nach dem letzten Krieg. Sie wurden erst vor gut zwanzig Jahren wieder entdeckt und werden jetzt von den jungen Sarden mit neuem Stolz vorgeführt.
Die reichen Landbesitzer waren ja nicht immer Sarden, sondern auch Besatzer. Dieser Umstand ist mitunter auch Teil der „sfilate“, der Umzüge durch das Dorf. Die Tagelöhner Orotellis waren schon immer ziemlich stolz und haben sich nie unterkriegen lassen. Sie haben immer wieder versucht, die Autorität ihrer „Herren“ zu untergraben – treue Diener waren sie nie.
Als eine Art Revanche, werden die am besten gekleideten Männer am Rande der Straße „gefangen“ und quasi als dritter Ochse angespannt.
Sie werden im übertragenen Sinne gezwungen, den Helfern und Tieren zu trinken zu geben: Heute heißt das, sie müssen den drei Thurpos Wein ausgeben. Eine winzige Wiedergutmachung für das Leid vergangener Zeiten.
Überhaupt, heute. Wir sind da. Wir haben uns das Ganze angesehen und waren zunächst ein kleiner Fremdkörper. Denn in erster Linie ist das Fest ein fröhliches Miteinander des Dorfes.
Doch es dauert nicht lang, da ist das Eis gebrochen. Das liegt vor allem daran, dass die junge Generation Orotellis sich um das kulturelle Erbe kümmert – und um den Spaß für alle.
Den Karnevalsumzug führten natürlich die traditionellen Gruppen an – erst bog ein echter Ochsenkarren um die Ecke, dann die Thurpos und Eritajus, die pantomimisch ihre Szenen spielten. Dann kamen Kinder und Teenies auf ihren Ponys angeritten und mischten das Volk auf. „Cavalieri“, Reiter, waren die Orotellesi auch schon immer.
Und dann, ja dann … nach einiger Zeit hörte man laute Musik und es tauchten an der Wegbiegung zwei weitere Karren auf, mit tanzenden Menschen, und alle jubelten ihnen zu.
Im Jahr 2013 fiel der Karnevalssonntag auf das chinesische Neujahr. Also schmückte eine Gruppe ihren Karnevalswagen chinesisch, ihm voraus liefen sie unter dem Kostüm eines schlangenförmigen, chinesischen Drachens.
Bei dem nächsten Wagen waren alle als Mäuse und Ratten gekleidet. Sie alle verbreiten eine fröhliche Stimmung – es ist eben Karneval!
Die Bilder, bei denen sich Alt und Neu vermischen und miteinander versöhnen, sind die des modernen Sardinien. Man ist nicht im Gestern verhaftet, sondern die Tradition wird lebendig und ausdrucksstark in die heutige Zeit transportiert. Man bewahrt sie und ist gleichzeitig offen für Neues.
Das Überleben dieser kulturellen Schätze scheint angesichts der vielen Kinder, die bei dem Spektakel mitmachen, gesichert.
Und spätestens als alle gemeinsam den „ballo sardo“ um die auf dem Boden liegenden Glocken tanzen, Sardinnen im China-Kleid und die Thurpos eingehakt, und der Wein für alle herumgereicht wird, ist das wieder Sardinien pur!
Vielen Dank an Orotelli für diesen wunderbaren Sonntag!
Design by ThemeShift.