Da gibt es diese Orte auf der Welt, die ziehen dich wie magisch an und du weißt: das ist ein Lieblingsort. Auch, wenn du noch nie da gewesen bist. Für einige ist das Alaska oder Marokko oder Schottland. Für viele meiner Leser ist das Sardinien. Manchmal enttäuschen dich solche Plätze, wenn du tatsächlich da bist. Und manchmal übertreffen sie die Erwartungen.
Für mich sind es immer noch die Antarktis, Bhutan und die Nordinsel Japans. Aber auch auf Sardinien gibt es noch Sehnsuchtsorte, und da kann ich deutlich präziser werden: Su Suercone (auch: Su Sercone, Su Sellone). Eine Doline, eine durch Erosion, Verkarstung und Landfall entstandene, etwa 400 Meter weite Senke – tief in einer der wildesten Landschaften Sardiniens gelegen, dem Supramonte di Orgosolo.
Seit ich das erste Mal von diesem Platz Welt hörte, wollte ich da hin. Su Suercone war mein Sehnsuchtsort.
Was soll ich sagen? Ein landschaftlicher Traum! Der Supramonte hat mich noch nie enttäuscht. Aber er hat es mir nicht leicht gemacht. Es hat 15 Jahre Sardinien-Reisen gebraucht, bis ich tatsächlich inmitten der ersehnten Wildnis bei Su Suercone angekommen war – und hat auch nicht im ersten Anlauf geklappt.
Das gleich vorab: Der Trek nach Su Suercone ist definitiv eine Exkursion für Fortgeschrittene. Für Orts-Unkundige immer mit Guide empfohlen.
Drei Anläufe hatte ich gebraucht. Den ersten Versuch startete ich mit einer Freundin ab dem Valle Lanaitto auf eigene Faust. Wir hatten eine Karte, aber die Wegführung war unklar und wir kannten die Gegend nicht gut (auch wenn sie Sardin war). Auf Sicht zu laufen ist eine schlechte Idee, wenn man nicht weiß, wo exakt sich das Ziel befindet. Die Landschaft dort oben ist speziell – selbst wenn du 50 Meter davor stehst, kann sein, dass du nichts siehst. Klingt komisch, ist aber so. Noch weit vor dem Ziel schlug auch noch das Wetter um. Echt typisch Supramonte. Rückzug.
Zweiter Versuch, ein paar Jahre später. Ab dem Valle Oddoene. Ich war nun besser vorbereitet, kannte das Gelände bereits ganz gut, und mit meiner superduper topografischen Detailkarte war ich der Meinung, dass das zu schaffen wäre. Dazu ein langer Tag im späten Frühling, beste Wanderbedingungen für eine gut acht- bis neunstündige Exkursion. Der Zeitbedarf zeigt schon das Problem: Der Weg ist weit. Sehr weit. Nach längerer Wanderung kletterte auf eine Anhöhe, von der ich (so deutete ich meine Karte) Su Suercone hätte sehen müssen. Hm. Nein. Nichts. Nicht mal die Ebene Campu Donanìgoro, die ganz in der Nähe sein sollte. Und alles sah gleich aus.
Wieder das alte Problem: Ich stand wie Ochs, äh, Schaf vorm Berg und suchte eher als dass ich fand. Kein Mensch zu sehen, den man fragen könnte. Schilder keine, Pfade aber mehrere. Und die waren offensichtlich auch die von Kühen, Eseln oder Wildschweinen. Ich riet eine Weile herum, lief noch ein bisschen, aber wurde und wurde nicht schlauer. Dann wurde es mir irgendwann zu haarig – denn ich musste ja auch noch zurück und im Dunkeln im Supramonte wandern war dann doch irgendwie keine schöne Aussicht. Rückzug, die zweite.
Für den dritten Versuch überwand ich mein Ego und gab zu: Du brauchst einen Guide. Ich entschied mich für Viaggio in Sardegna – das sind erstens Freunde, zweitens ist Sara in Mamoiada geboren, dem Nachbarort von Orgosolo – zu dessen Gemeindegebiet Su Suercone gehört. Und sie war schon mehr als einmal dort. Zusammen mit ihrem Freund Marco hatte unsere Gruppe auch gleich zwei Guides.
Mit GPS und profunder, aktueller Ortskenntnis ausgestattet sollte es nun losgehen – diesmal wurde nichts dem Zufall überlassen 🙂
Und ganz in der Philosophie dieses Blogs reise ich natürlich in der Nebensaison. Wir schreiben den 21. November, Anno Domini 2021.
Ein grauer, aber angenehmer Sonntag. Eigentlich ist Herbst – aber oben in den Bergen fühlt sich der sehr winterlich an. Bereits in Orgosolo verbringen wir die Wartezeit in der Bar einer Freundin und hoffen, dass der Kaffee bald Wirkung zeigt.
Ich kaufe noch Torrone, idealer Energielieferant. Ansonsten ist mein Daypack leicht.
Meine Packliste: eine kleine Flasche Wasser (an sonnigen, warmen Tagen brauchst du mehr), Thermoskanne mit Tee, Nüsse, Torrone, belegtes Brötchen. Kleiner Kompass, Papierkarte der Umgebung, Regencape (das ich auf dem Rückweg tatsächlich brauchte). Klamotten in Zwiebeltechnik. Feste, warme und gut sitzende Schuhe. Socken zum Wechseln. Wollmütze (die sehr gut tut).
Da die Tage in dieser Jahreszeit kurz sind und das Wetter instabil, hatten Sara und Marco kurz zuvor bei einem Test-Trek den kürzestmöglichen Weg ausgetüftelt. Er ist Teil des Sentiero Sardegna / Sentiero Italia des CAI Club Alpino Italiano / interaktive Karte auf sardegnasentieri. Um ihn zu erreichen, müssen wir aber relativ weit in den Supramonte hineinfahren.
Das wichtigste, was man über den Supramonte di Orgosolo wissen muss, ist: Alles sieht einfacher aus, als es ist. Zunächst einmal ist es überall ähnlich hoch, so durchschnittlich rund um 1.000 Meter +/- 200 Meter – und zudem ohne prägnante Gipfel oder Landmarken, so dass das Auge wenig Orientierungspunkte hat.
Die Landschaft ist in der gesamten Ausdehnung des Gebirges sehr abwechslungsreich (Su Suercone ist zum Beispiel ganz anders als der Monte Novo San Giovanni und anders als der Monte Tiscali). Die Grenzen zu den anderen Supramontes mit der Gola Su Gorropu, dem Monte Corrasi oder dem Supramonte di Baunei verschwimmen.
Das Gelände selbst ist gleichzeitig dort, wo du bist, von einer Schlichtheit, die selbst geübte Augen ermüdet. Es gleicht sich sehr – insbesondere wegen der Farbwelt aus grauem Granit, lehmhaltigem und terracotta-ähnlichem Gestein sowie immergrünen Pflanzen mit grau-grünem Moosbewuchs.
Dass viele Treks auf Sardinen grundsätzlich zwar irgendwie markiert sind, aber vielleicht nicht so, wie wir es aus anderen touristisch gut erschlossenen Wandergebieten (z. B. im Elsass oder in den Alpen) gewohnt sind, ist im Supramonte der Wildheit des Geländes geschuldet.
Im Supramonte di Orgosolo versteckten sich einst sehr erfolgreich Banditen. Das sagt auch fast alles über die Zugänglichkeit gewisser Gebiete.
Die grundlegenden Markierungen in rot-weiß zeigen den offiziellen Wanderpfad an. Allein darauf zu bleiben, erfordert einiges an Aufmerksamkeit. Es gilt, sie auf Entfernung auszumachen und an Verzweigungen immer wieder neu zu schauen, wo es lang geht.
Allein die Markierungen auf allen Wegen anzubringen (ohne dass die Natur nennenswerten Schaden nimmt) ist auf 350 Quadratkilometern allein im Supramonte ziemlich aufwändig. Die Instandhaltung um so mehr, denn die Bergregion selbst ist weitgehend unbesiedelt und das alles ein irrer Aufwand.
Allein und auf eigene Faust loszugehen – davon wird im Supramonte generell abgeraten. Auf einigen Treks geht es wohl, wenn man Erfahrung hat. Das ist denn auch die Weisheit: Die Treks sind generell eher für Personen mit einschlägiger Outdoor-Erfahrung (Escursionisti Esperti) gedacht. Und selbst die brauchen oft jemanden, der weiß, wo im Supramonte vorne und hinten ist.
Wir treffen uns also in Orgosolo um 8 Uhr morgens und starten die obligatorische sardische Viertelstunde (oder auch zwei) später. Bis zum Startpunkt unseres Treks dauert es eine gute Stunde.
Wir fahren durch stark hügeliges Gebiet. Eine der hinführenden Straßen ist gesperrt, wegen des Starkregens der Tage zuvor. Überhaupt: Schilder, die von Orgosolo den Weg in den Supramonte weisen – Fehlanzeige.
Macht aber nichts. Denn wenn man so will, ist die Nicht-Beschilderung sogar Teil des Sicherheitskonzeptes. Wer unbedingt so tief in diesen wirklich nicht einfachen Teil Sardiniens hinein will, muss fragen und einen Guide haben. Punkt.
Wir biegen auf irgendeine Schotterstraße, die uns durch ein Gebiet führt, in dem die Bewohner von Orgosolo auf kleinen Grundstücken Gemüse, Obst oder Wein anbauen oder sogar Schafe und Ziegen halten. Das Selbstversorgerprinzip ist hier noch sehr lebendig.
Dann folgen mehrere Hügel mit mittelhohem Bewuchs und eher jungen Bäumen – in diesem Gebiet sind die Spuren der Abholzung der Wälder in den letzten Jahrhunderten und die Wiederaufforstung gut sichtbar.
Die Geländewagen fahren nun auf die steile Bergwand und den Grat (it.: cresta) der Westseite des Supramonte zu. Unsere Straße ist eher ein breiter Steinweg, selbst die stark motorisierten Autos klettern und tanzen mühsam hinauf, es ist ein Gerüttel und Geschüttel. Wir passieren die Baumgrenze und sind am Pass im Gebirge sind.
Für meinen Panda wäre übrigens schon nach einer Viertelstunde an einer Furt im ziemlich viel Wasser tragenden Flussbett des Cedrino Ende gewesen. Soviel zur Frage, ob man das auch mit dem Mietwagen schafft.
Oben angekommen, legen wir noch ein Stück des offiziellen Trekkingpfades mit den Autos zurück. Dann steigen wir endlich aus und eine etwa zweistündige Wanderung beginnt.
Im Fall von Su Suercone finden wir uns zunächst in einem wunderschönen, mystischen Wald aus uralten Steineichen wieder. Einer der wenigen Primärwälder, die Sardinien noch hat.
Hier wird alles so belassen, wie es wächst. Fällt ein Baum aufgrund von Altersschwäche oder starker Witterung (Wind, Regen, Schnee) um – dann fällt er halt um. Und dient als Nährboden oder Heimat für Pflanzen, Insekten und anderes Getier.
Auch der Mensch hat hier oben Spuren hinterlassen – die modernsten in Form von Farbmarkierungen an Bäumen oder auf Steinen. Aber ansonsten erahnt man seine Präsenz nur durch Steinmännchen, die immer wieder am Wegesrand zu sehen sind. Oder in Astgabeln geklemmte größere Steine. Diese Markierungen, die auf dem schmalen Pfad Orientierung geben, muss man natürlich zu deuten wissen.
Älter sind die Spuren, die die Hirten der Region hinterließen, wie praktische Schutzhütten (oviles oder cuiles) oder eingefasste Quellen. Erstere sind im Winter, letztere speziell im Sommer wichtig.
Alles in sehr natürlicher Bauweise – meist wurden Steinen und Wacholderbäume verwendet und die Materialien ineinander verkeilt, so dass sie auch Wind aushielten, dessen Böen hier oben oft unbarmherzig, kräftig und kalt über den Grat pfeifen.
Die Hütten auf unserem Weg sind allerdings nicht mehr in Benutzung. Das mühsame Hirtenleben pflegt heute fast niemand mehr. In anderen Teilen des Supramonte hingegen gibt es sie noch (etwa die Ziegenhirten im Supramonte di Baunei) und ihre Hütten werden von Mehrtages-Wanderern oder Jägern genutzt. Andere sind gar umgewidmet und werden touristisch genutzt.
Nein, von Touristen ist hier heute rein gar nichts zu sehen. Adiletten- und Strohhutträger würde ich auch gar nicht in die Nähe dieses Ortes bringen. Der Weg ist selbst für jeden Aktivurlauber nicht auf Anhieb machbar. Auch wenn er körperlich nicht anstrengend ist – die zuvor beschriebenen Besonderheiten des Supramonte sorgen dafür, dass alljährlich Leute verloren gehen und gerettet werden müssen.
Unsere Gruppe stapft über den Waldboden. Es geht über eine Lichtung, dann wieder durch ein Waldstück, mal dicht bewachsen, mal licht, mal bergab, mal bergauf.
Wir gehen recht langsam, auch um bei dem auf rund 1.000 Metern Höhe doch recht kalten Wetter nicht zu sehr ins Schwitzen zu geraten. Die Guides nehmen sich auch Zeit für Gespräche und neugierige Fragen.
Dann sieht es von der Landschaft her für mich irgendwie so aus, als wären wir schon da. Tatsächlich wäre ich dort, wo Sara und Marco abbiegen, eher geradeaus gegangen: Mir war das kleine Steinmännchen, das die Weggabelung anzeigt, nicht aufgefallen.
Und tatsächlich liegt immer noch ein gutes Stück des Weges vor uns. Zwischendurch noch ein kleiner Schock für einige Mitwanderer: eine tote Kuh liegt in einer Wegbiegung, etwa 10 Meter abseits und riecht schon sehr intensiv. Sie scheint abgestürzt zu sein, der Kopf liegt verdreht: Genickbruch. Das Foto spare ich mir. Armes Ding.
Wieder einmal gerate ich ins Nachdenken. Leben und Sterben liegen auf Sardinien irgendwie ein Stück näher beieinander. Und gefühlt wird mehr geklagt und gestorben als gelacht und gelebt. Schnell wische ich die Gedanken beiseite.
Weiter geht es, und nun ist Su Suercone tatsächlich ganz nah. Ein Geröllfeld aus glatt geschliffenem, grauen Stein breitet sich vor uns aus, lichter Bewuchs in Augenhöhe.
Von hier aus müssen wir den Einstieg zum Panoramapunkt finden, um Su Suercone in seiner ganzen Pracht zu sehen.
Wir laufen tatsächlich kurz ein paar Mal im Kreis, weil durch das Gestrüpp in Richtung Doline kein Durchkommen ist. Su Suercone ist zu erahnen … Unsere Guides trennen sich und rufen sich gegenseitig. Sie sind ganz nah beieinander, hören sich, aber sehen sich nicht. Dieser Supramonte ist schon irre.
Irgendwann dann der erlösende Ruf von Sara: Hier ist es! Wir folgen ihrer Stimme und dann urplötzlich tun sich die ganze Pracht des Supramonte und unser Ziel – die enorme, trichterförmige, fast runde Senke – vor uns auf. Su Suercone wirkt wie ein Vulkankrater – ist aber keiner.
Und damit sind wir direkt im didaktischen Teil, der einordnet, was Su Suercone eigentlich genau ist.
Su Suercone ist zunächst ein offiziell registriertes Naturmonument / monumento naturale der Region Sardinien, und als solches steht das Monument selbst und alles, was auf, an, in ihm lebt, unter Naturschutz. Von verschiedenen Vogelarten über Marder, Füchse und Wildschweine bis zum Mufflon ist hier eine wunderbare, wenngleich scheue Artenvielfalt zu finden. Infos auf sardegnaforeste.it »
Man kann zwar mit einem Guide hinuntergehen (der Einstieg ist nicht ganz einfach zu finden und wir heben uns das für eine Tour im Frühling auf, wenn wir mehr Tageslicht haben), aber muss dabei sehr vorsichtig sein und darf Flora und Fauna nicht stören. Besonders erwähnenswert ist der Wald aus uralten Eibenbäumen (tassi secolari), die teilweise bis zu 20 Meter hoch wachsen und Stämme von über einem Meter Durchmesser haben. Außerdem der Steineichenwald / Lecceta von Sas Baddes.
Die Dimension von Su Suercone ist enorm: eine Fläche von gut 18 Hektar, ein Durchmesser von 400 Metern. Der höchste Punkt am Rand liegt auf 884 Metern über dem Meer, der tiefste Punkt auf dem Grund der Doline auf 685 Metern. Das ergibt eine Tiefe von rund 200 Metern. Tatsächlich erschwert vor Ort die Trichterform, diese Dimensionen zu begreifen – aber gemessen ist gemessen.
Im Inneren gibt es einen etwa 30 Meter tiefen Erdschlund, der wiederum in einem unterirdischen Karstsystem mündet, das vermutlich über Grotten und Wasserwege mit dem Karstkomplex der Grotte Su Bentu im Valle Lanaitto verbunden ist.
Auch historisch ist Su Suercone sehr interessant. Archäologische Funde in der Doline datieren auf die späte Bronzezeit (ca. 10./11. Jahrhundert vor unserer Zeit) und die am Grund von Su Suercone gefundenen ausgehobenen, tiefen Erdlöcher deuten auf eine Nutzung als Begräbnisstätte hin. Leider gab es auch hier illegale Ausgrabungen, wie so oft auf der Insel. Auf der Suche nach Wertgegenständen wurden die Reste der Gebeine und Grabbeigaben entfernt und in der Nähe verstreut.
Su Suercone gehört historisch zu einem größeren, besiedelten Gebiet, das bis zum Campu Donanìgoro reicht. Dort sich der archäologische Komplex von Nuragheddu befindet, der aus einem Nuraghen, Resten einiger Hütten und etwas weiter nördlich einem Brunnentempel / pozzo sacro besteht.
Ich nehme mir vor, so bald wie möglich und mit mehr Zeit zu Su Suercone zurückzukehren, um seine Geheimnisse und inneren Schönheiten in aller Ruhe zu erkunden.
Denn er ist und bleibt mein Sehnsuchtsort – und ist jetzt auch einer meiner Lieblingsplätze auf Sardinien 🙂
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