Bei Menhiren denken die meisten zuerst an Stonehenge und Steinkreise. Oder an Obelix. Mit ersterem liegt man nicht ganz falsch, und wer sich für diese Steine interessiert, den wird freuen, dass es erstaunlich viele Menhire auf Sardinien gibt. In ihrer Symbolik und zeitlichen Einordnung unterscheiden sie sich aufgrund der Insellage Sardiniens von denen des europäischen Kontinents naturgemäß. Prähistorische Skulpturen, die sogar älter sind als die Nuraghen, nämlich locker 5.000 Jahre alt.
Um diese prähistorischen Schätze der Archäologie besser zu verstehen, setzt das schwarze Schaf nach diversen Besuchen in Laconi endlich auch einen Huf in das dortige Menhir-Museum (www.menhirmuseum.it). Und staunt mal wieder nicht schlecht, was es in so einem kleinen Ort in der Inselmitte erwartet. Das Museum hat definitiv mehr als ein paar lange, alte Steine zu bieten und birgt selbst für ein vielgereistes schwarzes Schaf einige Neuigkeiten.
Die offizielle Bezeichnung des Museums „Museo della Statuaria Preistorica in Sardegna“ gibt einen ersten Hinweis. Beim Durchgehen wirkt es auf mich fast wie eine Ausstellung für prähistorische Statuen oder Skulpturen. Eine Art antikes Kunstmuseum. Dieser etwas andere Blickwinkel erweist sich letztlich als goldrichtig.
Die allgemeine Bezeichnung »Menhir« soll dem Reisenden die Einordnung erleichtern. »Menhir« stammt aus dem Bretonischen (maen = Stein, hir = lang). Als »lange Steine« oder (in den Boden) »eingefasste« Steine werden sie auch in sardischer Sprache bezeichnet: pedra longa, perda fitta, perda lata, predda ficchidda, preddafitta … Das deutsche »Hinkelstein« nimmt sich im Gegensatz dazu noch profaner aus und hat für viele wirklich mehr mit Obelix als mit der wahren Bedeutung zu tun.
Die Ur-Form des Menhirs eines im Boden eingefassten, aufrecht stehenden, länglichen Steines ist natürlich keine sardische Erfindung, auch wenn auf der Insel ungewöhnlich viele gefunden wurden. Sie scheint dem frühgeschichtlichen Menschen als Ausdrucksform gemein zu sein: Lange oder hohe Steine, die von Menschen aufrecht hingestellt wurden, hatten meistens einen Sinn. Angefangen von praktischen Grenz- und Flursteinen, die ein Territorium begrenzten, über Ruhesteine, wie z. B. auf Friedhöfen, bis eben zu solchen, die einen ästhetischen, sprituellen oder kulturellen Sinn haben – zum Beispiel den, einer Gottheit näher zu kommen.
Auf Sardinien fand man Menhire an vielen Orten, unter anderem die weiblichen Betili di Tamuli nahe Macomer oder die Steinreihen Biru e Concas bei Sorgono oder Pranu Muteddu in Goni.
Dass die schlichte Bezeichnung »Menhir« für einige der Steine zu kurz gesprungen ist, ergibt sich bei genauerem Hinsehen. In Laconi sehen wir fast ausschließlich behauene, steinerne Stelen, sogenannte Statuen-Menhire.
Die 34 steinernen und behauenen Stelen, die 1969 auf einem Stück Land bei Laconi entdeckt und als archäologisch wertvoll identifiziert wurden, besitzen eine mehr oder wenige anthropomorphe Form, ihnen wurden menschliche Züge verpasst und sie haben definitiv eine tiefere Symbolik. Wichtige Fundorte der hier ausgestellten Steine sind Allai und Samugheo.
Ich nehme die Menhire auf Sardinien als »megalithische Skulpturen« wahr und erlaube mir, auch die künstlerischen Fähigkeiten eines Volkes zu sehen, das in der Jungsteinzeit auf Sardinien lebte und bereits kulturell hoch entwickelt war. Bereits der erste Stein, den ich sehe, hat einen künstlerischen Ausdruck, der (vermutlich nicht nur bei mir) gespannte Neugier auslöst.
Da wurde nicht grob irgendwas in einen Stein gemeißelt. Vielmehr hat ein (bzw. haben mehrere) Bildhauer mit gekonnter Technik einem leblosen Material Leben eingehaucht – oder vielmehr eingehauen – und ihm so eine spirituelle oder philosophische Bedeutung gegeben, die es nun im Menhir-Museum zu entdecken gilt.
Ein Menhir-Museum lag nahe – allein um das archäologische Erbe vor weiterer Verwitterung oder der Unwissenheit der Menschen zu schützen.
In Laconi ausgestellt sind weitere perdas fittas, die in der Inselmitte gefunden wurden: die Menhire von Allai sind in einer Dreiergruppe angeordnet gewesen und als solche nach Laconi gebracht worden. Weitere sind noch in dort befindlichen Nuraghen als Baumaterial eingearbeitet.
In Samugheo fanden sich weitere Menhire, deren Design ein bisschen von denen aus Laconi abweicht. Die gesamte Region in der Nähe des heutigen Lago Omodeo ist seit pränuraghischer Zeit besiedelt und reich an archäologischen Zeugnissen.
Doch nicht alle Gesellschaften hatten ein Bewusstsein für deren archäologischen Wert, sondern nahmen so Dinge wie Steine eher praktisch. So fand man bei Samugheo in neuerer Zeit noch hunderte weitere Fragmente von Menhir-Statuen in einigen der Trockenmauern. Die Fragmente werden nun sorgfältig, wie ein kleines Puzzle zusammengesetzt und werden weiteren wissenschaftlichen Aufschluss geben.
Im Museum sind die Steinskulpturen in männliche / maschili und weibliche / femminile Menhire eingeordnet. Ein erster Hinweis auf den Zusammenhang mit frühzeitlichen Naturkulten, die mit der Dualität des Lebens zusammenhängen (wir finden diese auch bei den zeitgleich errichteten Gigantengräbern der Megalith-Kultur sowie später in der nuraghischen Kultur). Ein bisschen Yin und Yang blitzt durch.
Wer ganz genau hinguckt, dem erzählen die Steine eine spannende Geschichte des frühzeitlichen, sardischen Menschen. Sie alle weisen menschliche Züge auf.
Bei den in Laconi gefundenen Menhiren stehen Männchen und Weibchen etwa in einem Verhältnis von 1 weiblichen Figur zu etwa 10 männlichen Steinen. Bei den meisten männlichen Menhiren finden wir zunächst charakteristische Gesichtszüge des Mannes mit dichten, gewölbte Augenbrauen, manchmal auch den Augen und einer ausgeprägten Nase: das Gesicht / il volto.
Im unteren Teil der Figur dann ein Zeichen männlicher Stärke und Macht: der Dolch / il pugnale ist die konkrete Darstellung einer Waffe, die bereits in der Steinzeit gebraucht wurde, teils sogar sehr präzise gearbeitet mit der ihn umgebenden Scheide. Den auch zu sehenden »doppelten Dolch« kannte man zu Beginn der metallenen Zeitalter. Verdopplung symbolisiert oft eine Potenzierung der Macht. Möglich ist, dass mit der Figur ein Krieger oder Jäger oder gar ein Stammesfürst / capo tribù war, der wie eine Gottheit verehrt wurde oder dessem Andenken bewahrt werden sollte.
Spannend ist aber vor allem das dritte Element einiger Figuren: il capovolto.
Hier verlassen wir die rein darstellende Kunst und treten in das Reich der Philosophie, der Kreativität und der Spiritualität. Und treffen auf eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten.
»Il capovolto« oder »l’uomo capovolto« kann in diesem Kontext in etwa mit dem »auf dem Kopf stehenden Menschen« übersetzt werden.
Die Bedeutung wird klarer, wenn man weiß, dass diese auf dem Kopf stehende Gestalt uns auf Sardinien auch als Petroglyphen / Steinschriftzeichen in natürlichen Grotten (z. B. in der Grotta del Bue Marino soll es sie geben) oder in den »Feenhäusern« / domus de janas (z. B. Museddu in Cheremule) begegnen, die wiederum mit Totenkulten zu tun haben.
Die einfachste Erklärung also: Es sind »fliegende Seelen«, auf dem Weg vom Diesseits ins Jenseits. Oder anders: die Menhire könnten auch antike Grabsteine sein, die eben dem Gedenken einer wichtigen Person dienten.
Bei diesen Zeichnungen auf den Menhiren sind stilistische Unterschiede zu finden, was sowohl mit der Epoche, in der sie entstanden sind, als auch mit Material und Techniken zusammenhängt. Von der kleinen Strichzeichnung mit Kopf, Armen und Beinen bis zur großflächigen Figur, deren Arme sich engelsgleich berühren, sind fünf Varianten zu sehen.
Ganz ähnlich wie bei Künstlern, die sich einem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln oder einem Motiv mit unterschiedlichen Techniken oder sogar in einem unterschiedlichen zeitlichen Kontext widmen.
Die männlichen Menhire stellen also den Tod dar, oder den Übergang in eine andere Welt – wohingegen die weiblichen Menhire, zu denen wir gleich kommen, das Leben repräsentieren. Da haben wir sie wieder, die Dualität des Lebens.
Raum für Spekulationen lassen die Menhire aber natürlich auch mehr als genug – immerhin sind über 5.000 Jahre vergangen, seit sie geschaffen wurden. Einige sehen in ihnen auch engelsgleiche Gestalten oder die Seele. Wieder andere sehen eine eindeutig phallische Symbolik. Ideen gibt es viele. Und noch mehr, wenn wir den Gedanken zulassen, dass diese Steine tatsächlich Kunst waren / sind.
Die skurrilste Theorie, die ich bei der Recherche zu diesem Artikel auf einem englischen Instagram-Profil sah, war dass es sich bei der Darstellung auf dem Menhir um Außerirdische handelte. Natürlich, was sonst. Augenbrauen und Nase wären das Raumschiff, das die Aliens kopfüber verließen und auf die Erde stürzten. Der Dolch stelle eine Barriere, nämlich die Erdatmosphäre dar, die sie im freien Fall durchbrachen. Als sei das nicht genug, spekulierte man, diese Außerirdischen seien zudem Roboter und identisch mit den Giganten von Mont’e Prama.
Was den Machern egal war: Erstens stammen die Giganten aus einer ganz anderen Epoche, nämlich dem Ende der nuraghischen Kultur, stammen, während die Menhire bummelig 2-3.000 Jahre älter sind. Mal abgesehen davon, dass das mit dem Fallen in der Schwerelosigkeit so eine Sache ist. Und warum genau sind sie nicht gleich mit dem Raumschiff gelandet? Aber was weiß ein schwarzes Schaf schon von Aliens … seufz.
Jedenfalls hatte auch unsere Museumsführerin in Laconi soviel Humor, die ein oder andere wilde Interpretation und eigene Deutungen aus ihrer Kindheit einfließen zu lassen – da dachte sie nämlich, das sei ein Mann, der in der Erde steckte und die Füße gucken raus. Die Faszination der Menhire hat sie bewogen, Archäologie zu studieren und im Museum ihres Heimatdorfes zu arbeiten.
Die weiblichen Skulpturen sind auf den ersten Blick etwas weniger mysteriös. Komisch eigentlich, hält man doch immer die Frau für kompliziert … Aber Scherz beiseite: Zwei eingravierte Brüste und oft eine weitere Gravur in Bauchhöhe, die die Gebärmutter oder Schwangerschaft symbolisieren, sind ziemlich eindeutig – da muss man sich nicht viel zusammenreimen.
Die Frau schenkte das Leben und daher wurde in der frühen sardischen Kultur eine Muttergöttin / Dea Madre verehrt. Gerade in der pränuraghischen Zeit war dieser Kult sehr ausgeprägt. Die Gesellschaft der frühen Sarden war matriarchialisch geprägt.
Darum gibt es tatsächlich gibt es noch eine weitere Theorie: Dass nämlich auch die männlichen Menhire weiblich sein könnten. Tatsächlich macht einer der perdas fittas auf mich den Eindruck, als sei es eine gebärende Frau und der Dolch könnte vielleicht Geburtsschmerz symbolisieren.
Erst denke ich: „zu einfach“, aber nach dem Gespräch mit unserer Führerin landen wir bei der Theorie, dass die alten Sarden ja durchaus an die Wiedergeburt glaubten und der Körper der Frau auch das Mittel zum Übergang eines Reinkarnierten aus dem Jenseits in die irdische Welt sein könnte.
Diese Ansicht haben aber nur wir diskutiert und sie hat keine wissenschaftliche Grundlage. Und selbst wenn: Die Archäologie braucht für einen Deutungswechsel tendenziell immer ziemlich lang und eindeutige Beweise. Also, weitere Ausgrabungen abwarten und schauen, was die Zeit bringt.
Apropos weitere Ausgrabungen: Im Museum werden eher am Rande noch ein paar spannende Dinge rund um die Menhire präsentiert, wie zum Beispiel eine Rekonstruktion der Cava Mind ‚e Putzu – eine Art Steinbruch, aus der die Macher der Menhire wahrscheinlich ihr Material bezogen. Ein Schelm, wer da schon wieder an Obelix denkt …
Das mag für den Moment zu den Steinen reichen. Widmen wir uns noch kurz dem Museum bzw. dem Gebäude. Das ist nämlich für sich genommen auch sehr sehenswert.
Das Anwesen der noblen Familie spanischer Abstammung, die im 19. Jahrhundert Verwalter der Region war und hochrangige Beamte des Königreichs Sardiniens stellte, steht mitten im Ort und bereits von außen imposant.
Innen finden wir einige Wandbilder, in einigen Zimmern sind es kunstvolle Tapeten und auch ein Klavier aus Wien wurde mitgebracht. Geld machte schon damals vieles möglich, und arm waren die Aymerichs nicht. Das gilt aber für die gesamte Region – sie war fruchtbar und auch die ansässigen Landwirte profitierten von den Investitionen der Familie.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Burg im Park (gebaut vermutlich um 1053) die Residenz der Herren / Marquise von Laconi. Als diese immer mehr verfiel, ließ der Marquis Ignazio Aymerich, einflussreicher Senator im Königreich Sardinien, den Palazzo bauen – um einiges repräsentativer – und ließ um die alte Burg einen großen Garten mit exotischen Pflanzen anlegen, wie der libanesischen Zeder. Auf einem der Tapetenbilder ist Laconi quasi im Umbruch zu sehen.
Wenn du schonmal da bist, plane unbedingt 1-2 Stunden für den weitläufigen Park ein. Der Parco Aymerich mit seinen Wasserfällen, idyllischen Spazierwegen, Teichen, der alten Burgruine und Jahrhunderte alten hohen Bäumen bietet eine herrliche Abwechslung vom Urlaubsalltag. Besonders gefallen hat er mir im Frühling, wenn sporadisch kleine Orchideen blühen oder im Spätherbst, wenn die Blätter des Waldes sich färben.
Der Ort Laconi hat außerdem ein hübsches Zentrum, durch das wir schlendern und machen noch einen Abstecher in den Park, es ist fußläufig alles zu erreichen. Wir bekommen in der Bar im Park ein Brötchen mit Pecorino und Trüffeln, der in den Wäldern der Region bis Nurallao gefunden wird. Wir finden noch einen kleinen Laden, in dem Likör verkauft wird. Insgesamt ein wunderschöner Tagesausflug. Wir wohnten übrigens in einem hübschen B&B in Mandas und fahren mit dem trenino verde (der mittlerweile Barbagia Express heißt) nach Laconi. Das dauert, aber ist wirklich eine tolle Tour.
Auch, wenn Laconi ziemlich weit im Inselinneren liegt: Jede weite Anfahrt lohnt sich und die Menhire auf Sardinien sind wirklich eine megalithisch spannende Sache.
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