Menhir ist nicht Menhir. Und so hinkelsteint der Vergleich mit Stonehenge ein bisschen. Gleichwohl wird er für »Biru e‘ Concas« immer gern bemüht, um die Bedeutsamkeit der sardischen Nuraghenkultur zu untermauern. Dabei ist das überhaupt nicht notwendig. Die »Reihe von Köpfen« ist für sich selbst schon genug.
Anders als das vermeintliche Äquivalent in Salisbury (nein, das ist es nicht, bitte erwarte das auch nicht), hat die Stätte hier deutlich weniger Besucher – was wirklich schön und ein Vorteil ist. Sie ist auch gut zu finden, liegt inmitten lieblicher Weinberge auf einem Hügel an der Landstraße 388, zwischen Ortueri und Sorgono, am Abzweig nach Austis.
Das schwarze Schaf hat die Hinkelstein-WG besucht und echt schräge Typen kennengelernt …
Der große Wohnsitz ist gut einsehbar, aber eingemauert.
Eine Art »gated community«, mit Wachhäuschen (der Wächter glänzt mit Abwesenheit) und verschlossenem Tor. Sowas kann das schwarze Schaf ja haben. Es will schon fast die Nase rümpfen ob dieser abweisenden Haltung.
Hier soll eine WG aus zweihundert Menhiren sein? Oder hat sich hier eine antike Sekte abgeschottet?
Neugierig ist das Schaf ja … Schon will es einfach über die Mauer klettern – da entdeckt es eine Holzleiter, die über selbige in den Vorgarten führt. Also na gut. Sie scheinen ja doch nicht so zu sein. Gib ihnen eine Chance.
Alles ziemlich ruhig. Links ein Brunnen, an dem zwei Motorradfahrer gerade Wasserflaschen nachfüllen. Sie gehen zurück zu ihren Bikes und der Donner der Maschinen hallt in der Stille der Nebensaison nach. Dann ist wieder alles ruhig. Kein Mensch, kein Menhir zu sehen. Ein mit Steinen gesäumter Pfad führt weit außen um die Wiese, zu einer gut erhaltenen Mauer unterhalb eines großen Baumes.
Der erste WG-Bewohner, den das schwarze Schaf trifft, sieht gar nicht aus, wie man sich einen klassischen Menhir vorstellt. Und auch wie ein Sektierer kommt er einem nicht vor. Ist er vermutlich auch nicht.
Er wirkt freundlich, ist ziemlich rund und trägt ein grün-graues Flechtentattoo. „Meine Lieblingsfarben“, sagt er.
Das Schaf guckt sich um. »Alles ziemlich grün und grau hier.«
»Ja, deswegen. Die Herbstfarben. Ich mag das. Im Sommer ist hier alles trocken. Aber im Herbst und Winter, da wird es wieder schön. Und im Frühling erst! Da wachsen hier neben mir kleine Orchideen. Hatte erst überlegt, so eine fürs Tattoo zu nehmen, aber da sind die da hinten alle fast durchgedreht. Kannst Du nicht machen, zu ausgefallen, zu bunt, zu verrückt. Du hast das schließlich ein Leben lang – und das dauert locker noch tausend Jahre!«
Stimmt, denkt das Schaf. Jede Entscheidung hat für einen Stein eine ziemliche Tragweite. Gerade zeitlich.
Der Heini ist redselig.
»Am schlimmsten sind die Streber hinten auf den Plätzen. Stehen schon wieder da. Immer alle zusammen, immer geputzt, immer schön aufgereiht. Tattoos sind schmutzig sagen sie. Also, ich sag, die sind verdreckt in ihren versteinerten Köpfen. Die ziehen sich was schönes an – das ist auch nicht besser als ne Flechte. Aber man macht das eben so. Alles voll mit antiquiertem Gehabe. Das haben wir schon immer so gemacht, blablabla.«
Das Schaf ahnt, warum der Geselle hier außerhalb bei der alten Mauer lebt. Er scheint etwas auf Krawall gebürstet. Aber das macht ihn nicht unsympathisch.
»Kann Dir ja egal sein, was die denken“, sagt es. „Hauptsache, Dir geht’s hier gut.«
»Ja, ich wohn‘ hier super. Kommen viele nette Leute vorbei. Und neuerdings auch Schafe.« Er lächelt.
Baum und Stein wollen ungestört sein …
»Überleg‘ Dir das nochmal mit der Orchidee. Das sähe bestimmt schick aus. Ich hab mal einen in Olbia gesehen, der hatte sich einen Olivenbaum geflechtet …«
Der Felsen scheint spontan ins Wanken zu geraten.
»Ooooh … Olbia … da würde ich auch gern mal hin … und von da aus nach Rom. Und dann auf die Osterinseln. Da wohnen entfernte Verwandte von uns …«
Aha. Ein Menhir mit Fernweh. Na, wenn das mal kein unerfüllter Traum bleibt.
Das Schaf ist wieder versöhnt mit dem Ort.
Ob die anderen zweihundert, die hier in der WG wohnen sollen, auch so sind? Ein schneller Abschied, dann stapft es weiter, in Richtung Nuraghe.
Ein ungleiches Pärchen knutscht am Wegesrand, Baum und Stein. Sie bemerken das Schaf gar nicht. Das biegt ab auf eine kleine idyllische Wiese.
Für etwas Farbe sorgen einige Gänseblümchen, die sich weit aufrecken, als wollten sie den bald aufragenden Bäumen noch ein paar Sonnenstrahlen abluchsen. Wenn’s hier im Frühling blüht, muss das wirklich sehr schön sein.
Nuraghe Biru e‘ Concas
Der Nuraghe (oder wie man im lokalen Sprachgebrauch sagt: Nurake) der WG ist so eine Art »guter Hausdrache«.
Nochmal extra eingezäunt wacht er über die WG – von der das Schaf ja immer noch nicht viel gesehen hat. Nicht ganz einfach im Umgang (das darf man wortwörtlich nehmen), aber von einer bestimmten Warte aus betrachtet, ein immer noch ziemlich gut aussehender Kerl mit Ausstrahlung.
Etwas verschlafen auch, aber das ist vermutlich nur eine Masche, die ankommenden Feinde in Sicherheit zu wiegen.
»Ganz schön ruhig hier«, beginnt das Schaf die Konversation.
»Stört mich nicht«, sagt er. »Ich hab’s gern ruhig.«
Hm. War das ne Absage an das weitere Gespräch? Testfrage: »Wie ist das denn so mit Besuch in dieser Gegend?«
Tatsächlich, wie so oft. Noch einmal gefragt, kommen die Nuraghen ins Plaudern.
»Mal so mal so. Eigentlich nur so schwarze Schafe wie Du. Die Touristen sind entweder am Strand oder wollen die Menhire treffen. Mir ist das nur recht. Sehr angenehm sind die Einheimischen. Die kommen gern mittags und abends her. Du musst wissen, die Barbagia Mandrolisai ist immer sehr emsig und geschäftig. Wenn die Leute ihre Arbeit erledigt haben, im Sommer in der heißen Sonne auf den gelb leuchtenden Feldern und im Herbst zur Ernte den bunten Weinhängen, dann suchen sie den Schatten der Bäume hier rund herum. Ein kleines Schläfchen, einen kleinen Schluck Wein, etwas frisches Quellwasser aus dem Brunnen. Biru e‘ Concas war schon immer eine Oase.«
Ein alter, zuweilen mystischer Ort
»Gab’s denn auch Zeiten, in denen hier mal richtig was los war? So die letzten Jahrtausende?«
»Absolut!“ Er erzählt in tiefer, sonorer Stimme vom Einfall der Vandalen und von der Christianisierung im Mittelalter, als Papst Gregorius forderte dass die „Barbaren“ die Anbetung der Steine aufgäben.
Ein erzählender Drache, wie schön! Das Schaf hört auf einem Grashalm kauend, an einen Baum gelehnt, geduldig zu. Er macht seinen Wachjob immerhin seit Jahrtausenden, da hat er einiges erlebt. Persönlich wird er nicht, dieser Nuraghe lässt nicht gern in sein Inneres blicken. Auch sein Eingang ist verwachsen.
Aber er erzählt kurz von Brüdern – dem älteren eher quadratisch gebauten Talei im Südosten und dem jüngeren Lò. Ein Nachzügler, sagt er, rund gebaut. Da wundere sich bis heute die ganze Familie.
Ob’s darüber auch Streit gäbe, mag das Schaf wissen.
»Nein“, sagt der Nuraghe. „Wir reden nicht viel. Auch in der WG gibt’s eigentlich nie Streit.«
»Ah, apropos. Ich sollte mal weiter.«
Der naturbelassene Pfad führt nun endlich zu den Steinen, den vermeintlichen Hauptakteuren dieses Parks.
Mehrere Menhire liegen zerbrochen und reglos am Wegesrand. Einige scheinen frisch umgefallen, vielleicht zuviel getrunken am Vorabend.
Dem Schaf ist als höre es ein leichtes Lallen und irgendwas von »Nie wieder Bienenschnaps …«
Andere Felsen wiederum sind überwuchert und liegen dort sicher schon mehrere Jahrhunderte. So kann man Opa auch entsorgen.
»Der verrottet ja nicht«, sagt einer der noch steht, und wohl das fragende Schafgesicht sieht.
»Ist eigentlich auch ganz nett, wenn alle hier bleiben und sich täglich wiedersehen …«
»Verbuddeln ist doch auch unanständig. Der da hinten liegt da schon ewig, ist nie wirklich weg. Die trockene Luft hält ihn gut in Schuss. Ist übrigens der Vater der Schwägerin meiner Urgroßtante.«
Alles klar …
Auf der Lichtung die erste Ansammlung von aufgerichteten Steinen. Das schwarze Schaf bleibt stehen und schaut neugierig hinüber.
Die Zeit scheint mit einem Mal Jahrhunderte, ach, Jahrtausende, zurück zu drehen.
Etwa zwanzig sind es, der Ort wirkt insgesamt unaufgeräumt, wie in einem großen Büro, mit Laubhaufen, Zweigen und mit mittelprächtigem Geschmack eingerichteten Mobiliar. Stein arbeitet, so dieses und jenes. Mehr oder weniger angestrengt. Man macht irgendwie alles und nichts.
Ihr Hauptjob: Informieren. Aber gibt’s dafür nicht das Infohäuschen unten am Eingang?
„Krise. Stelle gestrichen. War zu teuer das ganze Jahr über. Aber wir sind ja da. Schau da drüben, die Infotafel.“
Und zack, macht er wieder was anderes.
Ja, proaktive Information scheint nicht so seins zu sein. Die Kommunikation der Infotafel ist ähnlich einsilbig, da ist kein Verlust zu bemerken.
Die busy Menhire sind schwer zu fassen zu kriegen. Eine bunt zusammengewürfelte Truppe. Da sind große, kleine, schiefe, gerade, runde und eher eckige. Einer hat einen ziemlich dicken Kopf, der nächste ist wieder ganz schmal.
Der eine da scheint gerade aus dem Auslandssemester zurück zu sein. Sehr eleganter Flechtenanzug, aufrechte Haltung – ein Obelix-Klassiker. So muss man aussehen als Menhir. Bei den Kollegen vermutlich wenig beliebt, aber garantiert Erfolg bei den Steinfrauen.
Klassischer Obelix-Stein
Er wirkt in der wuseligen Truppe allerdings etwas deplatziert. Zu groß, zu schnittig, zu schön. So ganz kann er wohl selbst nicht glauben, dass er in der Barbagia gelandet ist. Armer Kerl. Wird bestimmt noch ein paar hundert Jahre dauern, bis er schätzen kann, wie gut es ihm hier eigentlich geht.
Ihn was fragen? Der Menhir merkt nix – Käfer im Ohr.
Da vorne, der eine, der sieht so aus, als würde er antworten.
Aber er ist nur eine weniger eloquente Ausgabe des schicken Menhirs. Sein Sermon ist typisch für die Zeit: Aufplustern, Schlauschnacken, Imponiergehabe, erzählen wie stolz man sei und wie großartig und wie extrem bedeutsam das alles hier sei. Viel sagen, ohne was zu sagen. Fertig ist die neosardische Art von: ‚Herr Lehrer, ich kann was!‘
Hintergründe? Fassaden beiseite schieben? Nicht mit ihm. Wissen nicht anwenden, nur in Prüfungen rauslassen und ansonsten horten. Das bringt gar nix, Freundchen. Und Du siehst dabei auch noch nicht mal besonders schlau aus. Glaubwürdigkeit ade.
Scheint sowieso eine kleine Gurkentruppe hier zu sein. Ein anderer liegt zerbrochen am Boden.
Manchen lässt die schwache Bandscheibe umfallen
„Bandscheibe“ hört das Schaf den Nachbarstein sagen.
„Kein einfacher Job hier. Die machen dich fertig.“ Der links von ihm lacht leise. Oh, auch noch eine wahnsinnig kollegiale Stimmung, das ist ja super hier …
Lieber weiter traben.
Überall liegen Steine, manche vom Wetter, manche von der Zeit, manche von Halbstarken umgehauen. Oder eben von Bienenschnaps oder der Bandscheibe.
Die nächste Reihe blitzt durch die Bäume. Die stehenden Steine sehen aus wie im Comic.
»Fehlt echt nur noch Obelix«, sagt das Schaf unvorsichtigerweise neben einem relativ kleinen Stein.
»Sehen Sie hier irgendwo römische Bauten? Nein. Sehen Sie einen Steinbruch? Nein. Oder gar Gallier? Nein. Ergo: keine Jahrtausendwende. Keine Hinkelsteine. Kein Obelix.«
Vor jedem Punkt und speziell vor den letzten zwei Worten macht der Stein eine Kunstpause.
Verdammt. Natürlich ist der wollige Wanderer direkt an den Klugscheißer der WG geraten. War ja klar.
Man wird erstmal gemustert. Soso. Wolle. Schwarz. Weich. Mit Sicherheit nie versteinert gewesen. Na dann. Es gibt viel zu tun. Wenn das überhaupt was bringt. Sagt der Blick. Dann bewundert er sein eigenes – zugegeben wirklich schönes – Flechtenmuster und sagt etwas zu laut und in altklugem Tonfall: »Junges Schaf.« – wenn der wüsste – »Sie sollten sich informieren.«
Das Schaf findet ihn spontan doof. Womit hatte es den denn verdient?
Booooh. Die Lust, hier bei ihm stehen zu bleiben, rast direkt und subito in den steinzeitlichen Keller.
Der Möchtegern-Allwissende erklärt aber bereits weiters, dass man hier auf Sardinien weder von Hinkelsteinen spreche, noch die etwas elegantere Bezeichnung Menhire verwende – was ja auch nur einfach langer Stein heiße und bretonischen Ursprungs sei – sondern dass es sich um „perdas fittas“, handele, auch „perdas fichidas“ genannt, was soviel bedeute wie „pietre infisse“. Ob das Wolltier denn wenigstens Italienisch spräche.
»Eingefasste Steine«, schafft das Schaf zu sagen.
»Nun, sie geben sich immerhin Mühe. Genauer: eingerammt. In den Boden verankert.«
Faselbla. Nun beginnt ein ellenlanger Vortrag, erstmal über die eigene Bildungskarriere, die ja ein paar Jahrtausende alt ist und schon zu Neros Zeiten, faselbla, die lang ersehnte Ehrenprofessur im achtzehnten Jahrhundert, Loblied auf Alberto Lamarmora den großen Sardinienforscher und Kartografen, faselbla, Rückblick ins Mittelalter, Schwadronat über die Menhire als Symbol der unterdrückten Kultur, faselbla, natürlich viel älter, extreme Bedeutung weit vor Christus, faselbla, anthropomorph und protoantropomorph, mit menschlichen Antlitzen und Formen, faselbla, bedeutende wichtige Funde und Stätten in Laconi, Fonni und Mamoiada, nicht zu vergessen Pranu Muteddu in Goni, faselbla, Unterschiede, Gemeinsamkeiten, faselbla, geologische Entwicklung, Gesteinsarten, Bildhauerkunst, Zeichnungen … Nüchtern und langatmig landet ein Fakt nach dem anderen in den Raum zwischen des Schafes Ohren, und fast nickt es ein … Huch!
Ja, es stimmt, er wusste wahnsinnig viel – im Gegensatz zu Mr Wichtig aus dem Büro zuvor. Und er sprach auch von sich aus.
Aber würde doch trotzdem bloß der alte Nuraghe erzählen, dann könnte das sogar interessant sein!
Professor Stein lässt kaum Fragegelegenheit für seinen wolligen Zuhörer. Aber es will auch gar nichts fragen, sondern weg.
Eine unverhoffte Denk- und Redepause nutzt es, bedankt es sich artig und dackelt schnell hinüber zur ersten Steinreihe.
»Wenn Sie Fragen haben, Sie können jederzeit zu mir kommen! Ich bin hier!« ruft Professor Menhir hinterher.
»Alles klar, weiß ich Bescheid! Danke!«
Schwupp, um die Ecke entwischt. Puh.
Es ist früher Nachmittag, die Temperaturen angenehm. Die nächste Lichtung ist richtig schön.
Ein weiblicher Menhir, Entschuldigung, pedra fitta, steht am Eingang der Reihe aus wiederum etwa zwanzig gut erhaltenen aufrechten Steinen. Das Alter sieht man ihnen allen nicht wirklich an. Sie scheinen gesund und fit – heißen ja schließlich auch Perdas Fittas … puh …
Sie stellt die anderen vor. Eine große Familie sei das hier auf der Lichtung. Die Leute sind freundlich, während sie ihrem Tageswerk nachgehen. Rumstehen, Fotomotiv sein, Gasthaus und Restaurant für Insekten sein, Sonnenplatz für Eidechsen. So stellt man sich eine kleine, nette Kommune vor.
„Sehr idyllisch“, stellt das Schaf fest. „Die Echsen haben ja echte Königsplätze auf euren Köpfen.“
„Ja, sie fühlen sich wohl, gibt ihnen einen guten Überblick.“
„Ihr scheint überhaupt sehr tierlieb zu sein, da hinten die Schmetterlinge …“
„Aber ja. Ich hab eigentlich noch nie einen Felsen erlebt, der nicht gern Besuch bekommt. Manchmal traben hier sogar Ziegen vorbei.“
»Sind die nicht etwas groß?«
»Ach, das ist egal. Nur die Kleineren Steine da vorne, die beschweren sich immer, dass sie zu ruppig sind und auf sie drauf springen.«
Die Steinfrau scheint sich etwas vorzubeugen und spricht leiser.
»Sie kommen ja grad aus dem Büro oder? Da ist ja immer alles ganz anstrengend und wichtig. Wir hier sind etwas entspannter, naturverbundener. Wir glauben, dass man dem ganzen auch natürlicher und ruhiger begegnen kann. Die da oben in der Chefetage beginnen langsam zu verstehen. Aber gehen sie ruhig mal hin. Vielleicht haben die Herren ja Zeit.«
Das Schaf trabt nach oben, ans Ende der Lichtung. Vier groß gewachsene Steine. Einer sieht wichtiger aus als der andere. Nein, sie haben leider grad gar keine Zeit und müssen ins Meeting. Ja dann, have fun …
Chefetage im Menhir-Meeting
Aber der Menhir, Verzeihung, die Menhirin im Vorzimmer ist wahnsinnig fürsorglich.
»Sie können gern warten, bis das Meeting vorbei ist.«
Zack, steht ein Haufen Grüngras garniert mit Gänseblümchen vor dem Schaf. Warum nicht ein wenig verweilen.
Die etwas rundliche Dame mittleren Alters ist Esoterik-Fan, das sieht man an dem zur Sonne ausgerichteten Standort ihres Arbeitsplatzes. Das Flechtenherz auf ihrem Mäntelchen ist so wahnsinnig klischeehaft, dass es fast weh tut.
Sie freut sich, jemanden zu haben, der zuhört. Das Schaf, beschäftigt mit seinem Grashaufen, ist nicht abgeneigt, das zu tun.
»Also wenn sie mich fragen, ich glaube ja, das ist kein Zufall. Dieser Ort liegt haargenau in der Mitte Sardiniens. Oder ist das ein Zufall? Nein, kann es nicht sein. Oder was meinen sie? Ich finde das wäre schon ein sehr merkwürdiger Zufall …«
Das Schaf zeigt guten Willen und widerspricht nicht.
Denn die geografische Mitte der Insel ist eigentlich wirklich nicht hier, sondern bei 40° 00′ 00, 71″ nördlicher Länge und 09 °07′ 00, 80″ östlicher Breite, also acht Kilometer weiter östlich. An der Stelle steht übrigens auch ein Schild, und das steht eben nicht hier. Könnte ein Indiz sein …
Aber es hält die Klappe, denn 8 km ist auch echt nicht weit weg, und zu antiken Zeiten war das eine ziemliche Leistung, das auszurechnen. wenn das die Motivation war, sich hier anzusiedeln und die Menhire aufzustellen – Chapeau.
Und wer weiß denn wirklich, wie es vor fünftausend Jahren war. Raum für Spekulationen ist da sowieso immer.
Und auch für Wahrscheinlichkeiten, denn die Nord-Süd-Ausrichtung und die Anordnung der Steine, ob nun nach Größe oder Form, kann dem antiken Volk durchaus beim Wechsel der Jahreszeiten und bei der Orientierung geholfen haben. Heute gibt es Kalender und Landkarten, damals brauchte es andere und vielleicht sehr viel deutlichere Hilfsmittel.
Ob sich den Ort nun allerdings irgendwelche Aliens ausgesucht haben – was ebenfalls in den Theorien der Vorzimmermenhirin vorkommt – sei dahingestellt.
Das Schaf soll aber auch gar nichts Sinniges dazu meinen. Die Dame weiß es ja schon und lässt nicht locker.
„Überlegen Sie mal. Wenn, ja wenn man von oben drauf schaut“ – sie spricht leiser – „also, mit einem Raumschiff, und sich genau die Mitte der Insel aussuche“ – geheimnisvolle Pause – „dann ist das hier besser als Stonehenge! Viel besser!“
Stonehenge … da haben wir’s wieder. Neee, nicht doch!
Aber keine Chance, jetzt geht’s rund. Unerklärliches wird erklärt.
Eine außerirdische Macht stecke hinter all dem. Hier gäbe es Wasseradern, hier fließe doch nicht zufällig der Riu Mannu, und ob das Schaf die ganzen Quellen gesehen hätte, antike Wasserkultstätten seien das. Astrologische Deutungen folgen Ausführungen über Lebens- und Leylinien, die genau hier, aber auch ganz haargenau hier entlang laufen sollen.
»Wissen sie, das ist hier ganz in der Nähe. Man hat da Figuren von dünnen vieräugigen Männchen mit Tentakeln gefunden. Die sind doch Beweis genug!«
Wieder wühlt das Schaf in seinem Hirn. Selbst in Teti folgt man der Ansicht der Forscher, die diese Figuren als Shardana einordnen, antikes Kriegervolk im Mittelmeerraum.
Die Figuren seien stilisierte Krieger mit behörnten Helmen, die Muster auf Gesicht und Rüstung trugen, um ihre Kultur mit sich zu tragen und den Feinden Angst einzujagen.
»Die Shardana, jaaa, die Theorie habe ich gehört, aber soll ich ihnen was sagen? Ich stehe jetzt schon lang hier. Sehr, sehr lang. Ich habe hier in der Gegend keinen einzigen Seefahrer gesehen. Und erzählen sie mir mal: Welches Seefahrervolk kommt denn 100 Kilometer tief ins unzugängliche Land, um sich da anzusiedeln und die Insel zu verteidigen?«
»Vielleicht …«
»Und warum glauben sie, ist die Gegend hier so fruchtbar?«
»Ja weil es hier viel regnet und das Land eben doch nicht ganz so unzugänglich ist?«
»Papperlapapp. Die Mandrolisai ist wie eine Mutter, hier pflegte man den Göttinnenkult, man betet die Dea Madre an, die erste weibliche Gottgestalt überhaupt wurde auf Sardinien verehrt – das muss also von ganz woanders kommen. Und diese Fülle, die man in allen anderen Inselteilen sucht … das Land gebe im Überfluss zurück, Getreide, Wein, alles. Es ist schwanger und gebärt und …«
Uff. Das wird langsam mühsam. Das war ja nicht uninteressant, aber genug ist genug. Das Schaf nutzt die Gelegenheit für einen schnellen Themenwechsel:
»Apropos gebären. Wie ist das hier eigentlich mit dem Menhir-Nachwuchs?« fragt das Schaf.
Das bringt die Dame zum Glück aus dem Konzept. Also, das wisse sie jetzt auch nicht. Vielleicht mal die kleinen da vorne fragen? Die sähen ja noch etwas jünger aus …
Das Schaf bedankt sich ehrlich und artig, und geht mit vollem Magen sowie um einige schräge Theorien reicher hinüber.
Doch am Nachwuchs hapert es etwas in der Hinkelstein-WG tatsächlich (ja, es benutzt jetzt wieder das böse H-Wort!), und klein heißt hier nicht zwingend jung. Die Steine wissen auch nichts, außer dass hier seit Jahren niemand mehr zur Welt gekommen ist. Naja, außer Eidechsen, Spinnen und ein paar Pilzen unterm Baum.
Für zeitgenössisches Leben sorgt hier der Mensch. Selbst die religiöse Pilgergruppe, die hier jährlich anlässlich des Festes von San Mauro (eine kleine Klosteranlage nur knapp einen Kilometer weiter Richtung Sorgono) herumstiefelt, senkt den Altersdurchschnitt rapide.
Biru e‘ Concas – einfach mal vorbeikommen!
Auch die Jugend von Sorgono hat den „parco archeologico“ für sich entdeckt. Die Kids kommen oft nach der Schule oder am Wochenende in der Dämmerung mit dem Roller her. Von wegen nicht naturverbunden, die Jugend. Klar haben die Handys dabei, aber wer hier unten in den Resten des Nuraghendorfs oder mit dem Rücken an Perdas Fittas gelehnt, redet, lacht und auf Instagram postet, macht nicht so viel verkehrt.
Vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahre! Das ist ein Nichts, ein Mü gegen fünf Jahrtausende! Aber selbst vierzig oder sechzig ist dagegen lächerlich. Erwachsen oder gar alt dürfte sich der Mensch sich hier wirklich nicht vorkommen.
Das Schaf jedenfalls überlegt sich, dass es doch hübsch wäre, wenn hier etwas mehr Leben her käme. Wenn mehr Menschen oder schwarze Schafe den Weg nach Biru e‘ Concas fänden und sich die »Reihe von Köpfen« anschauen.
Aber bring Zeit mit. Hier wirst Du nur so vollgequatscht … 😉
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