Vom Wildschwein zu Shakespeare ist ein kürzerer Weg als ich dachte. Er führt über Seite 82 von Gesuino Némus‘ „Theologie des Wildschweins“ – schon seit Jahren einer meiner liebsten Sardinien-Krimis. In der nun endlich erschienenen deutschen Übersetzung aus dem Eisele Verlag ist das Buch eine tolle Urlaubslektüre für alle, die auf kurzweilige Weise mehr über das wirklich wahre Sardinien erfahren möchten. Und über Wildschweine (ob als borstiges Vieh oder Ragout).
Gesuino Némus nimmt uns zurück in eine Zeit, in der das Inselinnere Sardiniens am meisten mit sich selbst beschäftigt war, mit seinen uralten Traditionen im Rücken und die Moderne noch ohne nennenswerten Einfluss. Er bringt uns an einen unbekannten Ort – nämlich in das erfundene, aber dennoch echte sardische Bergdorf Telévras. In dem verschwindet auch mal der ein oder andere Mensch auf nicht ganz natürliche Weise. So ist das in einer eingeschworenen Gemeinschaft, die lieber sich selbst reguliert, als auf Obrigkeiten zu hören.
Der Klappentext fasst das fein zusammen:
Juli 1969. Im beschaulichen sardischen Bergdorf Telévras kommt Unruhe auf, als einer seiner Bewohner erst verschwindet und dann ermordet aufgefunden wird. Carabiniere De Stefani, ein Piemonteser, der es als Neuling in der verschworenen Gemeinschaft ohnehin schon schwer genug hat, versucht verzweifelt, die ungeschriebenen Gesetze und gut gehüteten Geheimnisse des sardischen Bergdorfs zu lüften. Dabei ist er dringend auf die Hilfe des Dorfpfarrers Don Cossu angewiesen – doch am Ende kommt die Auflösung von gänzlich unerwarteter Seite … (Klappentext „Die Theologie des Wildschweins“)
Tatsächlich gibt das Innere Sardiniens einen idealen Schauplatz für einen Krimi ab. Das haben schon andere erkannt und sich an der dunklen sardischen Seele des bärtigen Bösen abgemüht und sind tief in die Melancholie oder Mystik abgedriftet, vermeintlich die sardische Unergründlichkeit einfangend.
Gesuino Némus wählt einen anderen Weg, einen erstaunlich hellen, verschmitzten und zuweilen genialen. Ihm gelingt es mit Humor und Leichtigkeit, ein Bild des damaligen Sardinien zwischen Viehdiebstahl, Schweigen und Blutrache zu zeichnen – fast ganz ohne Klischees zu bemühen. Er weiß wie das geht, denn er ist Sarde und hat ein erstaunliches Talent, Charaktere zu zeichnen.
Was den Schauplatz betrifft: Mich erinnert Telévras ein bisschen an Gavoi. Und bei Wildschweinen denke ich immer und sofort an Fonni (auf der Straße zum Passo Tascusi begegnen mir immer, wirklich immer Wildschweine). In manchen Textpassagen sehe ich auch Orgosolo oder Lanusei vor meinem geistigen Auge. Aber ob der Autor vielleicht eher sein Heimatdorf Jerzu in den Bergen der Ogliastra meint?
Als ich in dem Geisterdorf Lollove nördlich von Nuoro an einer Hauswand einen ausgestopften Wildschweinkopf hängen sehe, halte ich aber genauso für möglich, dass er den alten Gemäuern dort neues Leben einhaucht.
Aber noch kurz zurück zu Shakespeare: Wenn der Autor über eine Szene in der Kirche, in der „Dorfidiot“ Antoni Esulògu singend hin und her eilt, um verschiedene Stimmen zu simulieren, die Brücke zu Macbeth schlägt, dann ist das nicht zufällig. Antoni singt, um nicht zu stottern, und so ist auch Nemus‘ Sprache fast musikalisch, immer fein gewählt, von dichterischer Qualität, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Die sardische Poesie, die Sprichworte und Fragmente, die eingestreut werden (wunderbarerweise im Original belassen, so bekommt der Leser direkt ein Gefühl dafür, dass Sardinien irgendwie eben doch nicht Italien ist), bereichern das Buch ungemein.
Ich habe das „Wildschwein“ zuerst vor ein paar Jahren in Italienisch gelesen und in Sachen Grammatik einiges dazugelernt. Denn Don Cossu, der Dorfpfarrer und der Junge Matteo liefern sich gern Schlagabtausche linguistischer Art – vom korrekten Gebrauch des Konjunktiv bis zu den Tempi. Mich als Schreiberling begeistert das natürlich. Und als sporadisch als Übersetzerin arbeitendes Schaf ziehe ich den Hut vor der echt guten, weil insgesamt feinfühligen und wirklich nicht einfachen Übersetzung.
Ja, das Wildschwein ist durchaus anspruchsvoll, aber der humoristische Schreibstil führt dich wunderbar und wie erwähnt mit Leichtigkeit durch die 285 Seiten. Vielleicht musst du es aber trotzdem wie ich noch ein zweites oder drittes Mal lesen. Dann durchblickst du die kulturellen Perlen und bekommst so tatsächlich ein Bild vom echten Sardinien.
Aber im Urlaub hat man ja Zeit und dann lohnt sich der Kauf erst recht. Außerdem lohnt es sich, weil das Buch noch eines macht, was viele andere, nicht mal Reiseführer, hinbekommen: Es macht Lust auf das Inselinnere.
Das Buch inspiriert tatsächlich zu Ausflügen in das Herz Sardiniens und weckt die Neugier auf diese urigen kleinen Dörfer. Ja, wirklich, auch heute noch findest du zu ganz bestimmten Zeiten eine eingeschworene Stimmung und diese alltäglich wiederkehrerenden Begegnungen wie in Telévras, speziell in der Nebensaison.
In den Orten rund um das zentrale Gebirge Gennargentu und Supramonte ist die Zeit im besten Sinne stehengeblieben und du kannst so viel aus dem Buch wiederfinden.
Am allerbesten ist die Urlaubslektüre darum vielleicht auf einer Piazza in einem Dorf, in dem auch heute noch vieles wie früher ist.
Ich denke da zum Beispiel in Oliena, wenn du im Hauseingang eines verfallenen Gebäudes sitzt, mit Blick auf die Kirche, in der die Leute den neuen Dorfpfarrer begrüßen. Oder in einer Seitengasse, wo hier und da eine alte Dame in schwarz vorbeikommt, und Kinder spielen. Oder in der Bar in der Dorfmitte, wo ein Reiter auf seinem Pferd durchs Dorf trabt. Und wenn du bei einem ein Glas Nepente di Oliena ein heimeliges Gefühl bekommst und wirklich denkst, du bist in Telévras.
Tatsächlich würde ich das Buch darum auch als Pausenlektüre bei Wanderungen mitnehmen und viel eher nach einem Trek zur im Buch erwähnten Gipfel Perda Liana lesen, als am Strand. Zwischen den Granitfelsen der Gallura fühlt es sich ebenfalls sehr wohl. Auch bei einer Wanderung durch den Supramonte und Übernachtungen in Hirtenhütten stelle ich mir das Buch als Begleiter ganz wunderbar vor, um dem „echt Sardischen“ auf natürliche Weise zu begegnen.
Wenn kapitelweise ein Bartgeier auf den Plan tritt, der sich neben der Leiche tot stellt, und du dich fragst, ob es auf Sardinien wirklich Geier gibt – dann lies gern in diesem Artikel über die Wieder-Ansiedelung der Geier weiter und fahre bei nächster Gelegenheit an die Küste bei Bosa oder zum Monte Minerva, wo du sie majestätisch fliegen sehen kannst. Auch dort im Hinterland gibt es kleine Orte, wie Rebeccu, Santu Lussurgiu, Villanova Monteleone … die alle auch Telévras sein könnten.
Oder wähle deine Reisezeit in der absoluten Nebensaison, wenn in den Wintermonaten Wildschweinjagd ist und du in den Agriturismi auf der Insel tatsächlich Wildschweinragout / cinghiale in umido bekommst.
Auch ne Idee: Lege nach einem üppigen, rustikalen Mittagessen im Agriturismo in dessen schattigen Garten oder unter einem Olivenbaum oder einer Steineiche auf dem Feld nebenan eine Leserunde ein.
Das Buch gehört irgendwie in seine natürliche Umgebung, finde ich. Wenngleich natürlich nichts dagegen spricht, es bei einem Glas Vermentino auf der Terrasse des Ferienhauses mit Meerblick zu genießen, oder gar zuhause auf dem Sofa. Speziell dort kann man mit der Lektüre gezielt das Sardinienbild vom Sommer-Sonne-Strandurlaub zerstören 😉
Letztlich gibt das Buch noch einen der besten, schwarzschafigen Urlaubstipps, passenderweise im Kapitel 19: „Bekanntermaßen geben Leute gerne gute Ratschläge“, in dem ein Protagonist sich zu den Buchten im Supramonte aufmacht:
»Du hast gut daran getan, erst die Berge zu besichtigen, und dann das Meer. Es war auch richtig, kein Boot zu nehmen. … es ist schöner, die Buchten zu Fuß zu erreichen, zu wandern, sich die Waden an Dornen und Steinen zu zerkratzen, sich das Ziel, die Einzigartigkeit des Entdeckten zu erarbeiten.«
Seite 229, Die Theologie des Wildschweins
In diesem Sinne wünsche ich euch eine fröhliche, sardische Lektüre und viel Spaß mit dem Wildschwein 🙂
Am besten wendest du dich an den lokalen Buchhändler deines Vertrauens: „Die Theologie des Wildschweins“ von Gesuino Némus ist erschienen im Eisele Verlag unter der ISBN 978-3-96161-098-3
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Das Wildschwein ist zudem als E-Book verfügbar sowie bei audible als Hörbuch.
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