Meinen ersten Geier in freier Wildbahn habe ich auf Sardinien gesehen. Oder vielmehr: über. Es war Mitte April, ich wanderte durch die Landschaft am Capo Marargiu bei Bosa und schaute angestrengt mit meinem Guide nach Geiern. Ein bisschen schwierig ist es schon, einzelne Vögel am Himmel im Flug zu erspähen – das ist so ähnlich wie mit Flugzeugen. Aber hat man einmal einen im Fokus, dann ist das wie Weihnachten und Ostern zusammen, und will dass dieser Moment ewig dauert …

Das Geierfieber hat mich definitiv gepackt und ich will unbedingt mal einen ganzen Tag lang welche beobachten. Oder wie man auf Sardinien mittlerweile sagt: „Andiamo a grifonare! / Gehen wir geiern!“ – was nicht weniger meint, als einen Ausflug in Richtung Westküste zu machen, mit den Augen ständig zum Himmel gerichtet.

Geier am sardischen Himmel – ein echt emotionaler Moment 🙂

Geier zu sehen, war auf der Insel lange Zeit kaum möglich. Der Gänsegeier (grifone / gyps fulvus) war lange Zeit auf Sardinien bedroht und zeitweise verschwunden, nur die Alten erinnern sich noch an sie. Seit 1974 wurde immer wieder versucht, Geier anzusiedeln, allerdings ohne größeren Erfolg.

Oft liest man darum bei den jetzigen Berichten von „den letzten Geiern“ auf Sardinien. Aber in Wirklichkeit sind es eher „die ersten“ oder „die neuen“. In jedem Fall kann man wagen zu sagen: Der Geier ist wieder da 🙂

Dass wieder Geier in Sardinien leben und sich vermehren, haben wir dem EU-geförderten Wiederansiedelungsprojekt „LIFE Under Griffon Wings“ (lifeundergriffonwings.eu), begleitet von der Universität Sassari, und nicht zuletzt einigen ganz tollen, unermüdlichen Menschen vor Ort zu verdanken, das ein ein neues-altes Zuhause für die bedrohten Tiere schuf.

LIFE Under Griffon Wings ist eines der erfolgreichsten Naturschutzprojekte auf Sardinien und erzählt eine wahre Erfolgsgeschichte.

  • 2004 stagnierte die Population immer noch bei höchstens 30 Paaren und einigen Einzeltieren, die sich in sechs Kolonien zusammen geschlossen hatten. Rund um Bosa waren 4 feste Nistplätze bekannt.
  • Im September 2015 wurden das LIFE-Projekt gegründet. Rund 60 Geier wurden in den vergangenen Jahren aus europäischen Zoos (Amsterdam, Madrid) zusätzlich ausgewildert.
  • 2019 gab es gute Nachrichten: 57 Paare, von denen 45 gebrütet haben.
  • 12 Nester wurden aufgegeben. Aus den restlichen 34 abgelegten Eiern sind Jungtiere geschlüpft, alle haben überlebt.
  • Im Oktober / Dezember 2018 gab es eine Zählung, bei der an einem Tag 169 verschiedene Geier identifiziert wurden, plus mindestens 11 Geier, die sich (nachgewiesen durch GPS-Daten) zu jenem Zeitpunkt außerhalb des Zählgebietes aufhielten. Das bedeutet: mindestens 180 Gänsegeier lebten Ende 2018 auf Sardinien.
  • Aktuell schätzt man deutlich über 200 Tiere: Tendenz steigend. 

Fast alle halten sich immer noch vorwiegend in der nordwestlichen Region auf. Sie fühlen sich dort offensichtlich sau-, äh, geierwohl.

Hier ein wunderbares Video über die Freilassung von zwölf spanischen Geiern am Monte Minerva. Die Tiere kamen ursprünglich aus einem Zoo in Spanien und hatten eine Eingewöhnungsphase im Bonassai Wildlife Recovery Center (Agenzia Forestas) und in einer Voliere im Wildpark Porto Conte verbracht. Drei Monate lang waren sie dann in der Station am Monte Minerva, konnten ersten Kontakt zu den bereits dort lebenden Geiern aufnehmen – bis endlich der Tag kam, an dem die Voliere geöffnet wurde und sie frei fliegen durften.

Auswilderung von 12 spanischen Gänsegeiern

Zuletzt ließ man bei Pozzomaggiore den jungen Gänsegeier „Entulzu“ frei: èntulzu heißt im sardischen Dialekt, den man rund um Bosa spricht, schlicht: „Geier“. In der Barbagia hingegen nennt man sie guturju; in anderen Regionen unturzu oder enturzu.

Wo’s Aas gibt, gibt es Geier

Eine wichtige Aufgabe des Projektes ist unter anderem die Bereitstellung von Futterstationen für die Gänsegeier. Das war lange Zeit nicht einfach. Erst seit 2011 gestattete eine europäische Regelung die Entsorgung von Schlachthofresten und Körpern von Nutztieren wie Schafen und Ziegen zur Fütterung aasfressender Vögel, wenn überlebensfähige Populationen vorhanden sind.

Und so wagte man im Projekt einen weiteren Anlauf und schuf als Basis für eine erfolgreiche Wiederansiedelung ein Netz von carnai, also Orten an denen Kadaver von auf natürliche Weise verendeten Tieren (z. B. Schafe, Kühe, Pferde) gesammelt werden. Hier finden die Aasfresser ganzjährig Futter. Voraussetzung dafür, dass die Tiere sich auf Sardinien so heimisch fühlen, dass sie brüten und sich fortpflanzen. Und das tun sie jetzt.

Geier fressen ein totes Schaf im Hinterland von Bosa (unten an der Küste sieht man den Torre Argentina). Credits: Gianfranco Mattu. Lizenz: CC BY-NC-SA.

Dass es sich in Sardinien leben lässt, hat sich übrigens auch unter Geiern rumgesprochen: Ein paar Schmutzgeier (it.: Capovaccaio), die eher in Afrika und Vorderasien heimisch sind, haben sich spontan im Naturpark von Porto Conte bei Alghero niedergelassen und wollen dort offensichtlich nicht mehr weg: Auch sie beginnen zu brüten.  

Geier auf Sardinien: Kolonien und Schutzzonen

Fast alle Geier leben an der nördlichen Westküste Sardiniens bzw. in dessen Hinterland (Übersichtskarte), da sie hier optimale Bedingungen in Sachen Fortpflanzung und Futter vorfinden.

Hier wurden Schutzgebiete eingerichtet, das wichtigste rund um Bosa, dort, wo der Fluss Temo durch ein Tal fließt, aufgestaut wurde und bei Villanova Monteleone einen See bildet finden die Geier eine ausgedehnte, schroffe Felslandschaft in höheren Lagen vor, in der sie ihre Nester bauen können, ohne gestört zu werden. Ein weiteres wichtiges Gebiet ist der Parco di Porto Conte bei Alghero. In diesen Schutzgebieten gibt es Pflegestationen, die von Veterinären betreut werden und die erwähnten Carnai / Aas-Futterstellen.

Wenn ihr ein bisschen Zeit habt, und Geier sucht, dann orientiert euch an den folgenden Orten; an vielen findet man auch Trekkingpfade und tolle Aussischts- und Beobachtungspunkte.

  • Capo Caccia bei Alghero
  • Punta del Giglio im Parco di Porto Conte
  • der Süßwassersee Lago di Baratz – Porto Ferro
  • Flusstal Valle del Temo und Monte Minerva
  • Hinterland und Küste von Bosa, Capo Marargiu und Porto Tangone
  • Hochebene Altopiano di Campeda
  • Küste von Bosa
  • Hinterland von Bosa, Suni und Montresta
  • Ebene Piana di Semestene
  • Hinterland bei Bonorva, Macomer und Bortigali

Geier und Mensch

Leider ist es für Wildtiere gar nicht so einfach, sich in eine neue Umgebung, die ja vom Menschen geprägt ist, einzufügen. Und so gab es auch einige Verluste.

Hauptsächliche Todesursache waren Leberschäden durch Vergiftungen; unter den 2018 ausgewilderten Tieren lag die Rate leider bei 3 von 8. Die Vergiftung waren häufig medikamentösen Ursprungs, wie bei Autopsien entdeckt wurde: Geier, die sich von Tierkadavern ernährt hatten, die kurz vor ihrem Tod mit Antibiotika oder Entzündungshemmern behandelt wurden, starben innerhalb weniger Tage an Nierenversagen.

Bei anderen gefundenen toten Geiern wurden auch Leberschäden (Nekrosen) nachgewiesen. Eine Ursache dafür sind Fleischköder mit Rattengift oder anderen Substanzen, die (illegal) von Einheimischen ausgelegt werden – und denen eben nicht nur Ratten, sondern auch Katzen und Hunde und eben jetzt auch Gänsegeier zum Opfer fallen. Eine Hundestaffel hilft, die vergifteten Fleischreste zu finden, den Schaden zu begrenzen. Und man hat einiges damit zu tun, die Bevölkerung, die an ihren alten Gebräuchen festhält, aufzuklären und zu motivieren.

Augen nach oben: Mein nächster Geier, bei einer Wanderung am Monte Minerva erspäht.

Eine große Frage war, ist und bleibt, wie das Geierprojekt touristisch genutzt werden kann, ohne dass die Tiere gestört werden. Menschen sind ja bekanntlich nicht die vorsichtigste Spezies … Darum sind die inneren Bereiche und die bekannten Nistplätze natürlich nicht frei zugänglich, denn die Tiere brauchen unbedingt Ruhe und Sicherheit, um zu nisten und sich fortzupflanzen.

Aber sie sind ohne Zweifel eine neue Attraktion und ihr Flug ist wirklich schön anzusehen. Zudem ist der Nordwesten ein sehr schönes und attraktives Stück Sardinien. Wie wäre es also, beim Urlaub in Alghero einen Ausflug in die Natur zu machen?

„Was machen wir heute? Wir gehen geiern – Andiamo a grifonare!“

Wo kann ich die Geier beobachten?

Die Geier fliegen mittlerweile über die ganze Insel. Der Geier BULGA hatte sich sogar kurz mal Porto Cervo angeguckt, während BARCA es auf der Insel Asinara hübsch fand; ein anderer flog gar bis Tertenia an die Ostküste.

Einen einzelnen Vogel am Himmel zu entdecken, ist aber nicht ganz leicht. Insofern empfiehlt sich, in eines der Schutzgebiete zu fahren (siehe oben), wo die Carnai / Futterstationen sind, und wo sie in kleinen Gruppen auch weiter zur Futtersuche ausfliegen.

Alle Geier, die ich selbst bisher auf Sardinien gesehen habe, waren an oder nahe der mittleren Westküste unterwegs: bei Bosa am Capo Marargiu und in Tresnuraghes, bei Pozzomaggiore, bei Monteleone Roccadoria und am Monte Minerva.

Mein bester Tipp, um Geier zu erspähen, ist die Strada Provinciale SP 49, in Höhe des Capo Marargiu, etwa 30 km von Alghero, 15 km von Bosa.

Fahre zu dem Parkplatz „Su Ferru ‚e Su Caddu / Hufeisen“, so genannt weil die Straße dort eine U-Kurve macht. Hier ist im Hinterland eine Steilwand, wo die Geier nisten. Auf der Suche nach Futter fliegen sie mit den Windströmungen auch öfter mal aufs Meer hinaus, um dort zu drehen und durch ein kleines Tal wieder zurück zu den Nestern segeln.

Der beste Zeitraum ist zur Nistzeit im Frühling, aber auch im Herbst. Die besten Zeitpunkte sind dann morgens, etwa zwischen 9 und 12 Uhr, dann fliegt man zur Futtersuche aus. Und vor Sonnenuntergang.

Mein erster Geier, im Flug am Capo Marargiu. Foto leider etwas unscharf, war aber ein genialer Moment!

Eine Tour mit einem orts- und fachkundigen Guide ist natürlich das Nonplusultra. Besonders wenn es sich bei jenem Guide um jemanden handelt, der aktiv im Projekt mitarbeitet: Alfonso Campus von „L’altra Bosa“ bescherte mir meinen ersten Geier (wofür es natürlich keine Garantie gibt). Neben der eigentlichen Arbeit (Monitoring der Geier- und Adler-Population) bieten sie auch fachliche Wanderungen, drei Stunden durch schönste Natur. Infos auf www.laltrabosa.com

Ich wünsche dem Projekt weiterhin viel Erfolg und den Geiern: Buon volo, guten Flug!

Geier auf Sardinien: Weitere Informationen

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