»Das ist der beste Nurak der Welt!« ruft ein kleiner Junge, der gar nicht genug davon bekommt, durch die Ruinen der nuraghischen Siedlung / Villaggio nuragico di Su Nuraxi bei Barumini zu tollen. Kinder mögen Archäologie, weil sie neugierig sind, weil sie ihnen die Welt erklärt, weil sie ihre Fantasie freien Lauf lassen können. Nur Erwachsene finden Steine und Ruinen langweilig. Seine Eltern wirken eher nach „Pflichtprogramm aus dem Reiseführer“, während er ganz oben steht und ihnen ganz genau erklärt, wie das früher mal war.
»Das ist ne Burg! Da sind Türme an jeder Ecke! Da haben die aufgepasst und verteidigt nämlich!» — «Guck mal, da ist Wasser, das ist ein Brunnen, damit die sich einschließen konnten, wenn Feinde kamen.» — «Hier so Schießscharten! Peng! Peng!«
Der Junge hat jedenfalls die Bedeutung von Su Nuraxi (das ist einfach Sardisch / Campidanese für „der Nuraghe“, das „x“ ist ein stimmhaftes „sch“, ähnlich wie im Französischen das „j“) bei Barumini instinktiv ganz gut erfasst.
Der Vergleich mit einer Burg stimmt im Grundsatz – nur dass wir hier nicht im Mittelalter mit Rittern oder gar in der Neuzeit mit Gewehren sind, sondern in der Bronzezeit, genauer: etwa 1400 VOR, und nicht NACH unserer Zeit. Eine zitadellenähnliche Anlage mit dicken Außenseiten und fünf Türmen war ihrer Zeit weit voraus. Und ein derart wehrhafter Aufbau wurde mit einiger Sicherheit mindestens oder auch zur Verteidigung genutzt. Oder zum Schutz von Wertgegenständen (im Fall von Barumini z. B. die Ernte oder Bronzestatuetten).
Vieles andere entgeht dem Jungen auch deshalb, weil er aus Deutschland kommt und na klar die italienischsprachige Führung nicht verstehen kann. Aber auch die italienischen Kinder hören dem Guide nicht wirklich zu. Ist ja auch nicht wichtig, wenn man selbst genug Fantasie hat.
Rund um die Festung spielte sich vor allem der Alltag ab (auch ähnlich einer mittelalterlichen Burg). Gut 200 kleine Rundhütten, früher mit Dächern aus Zweigen und Ästen, zu unterschiedlichsten Zwecken sind zu Füßen des Hauptbaus angeordnet. Als wahrscheinlich gilt auch, dass – wie in der heutigen Zeit – die Landwirtschaft eine große Rolle in der Region spielte. Es sind also Lager, Wohneinheiten, Arbeitsplätze …
Die archäologischen Funde (zu sehen im Casa Zapata in Barumini und im Archäologischen Museum in Cagliari) deuten auch auf eine insgesamt vielseitige Nutzung des Nuraghen selbst hin: als Vorratslager, Sitzungsräume, Schutzräume, …
Vielleicht auch für religiöse Zwecke: Ein Brunnen in der Mitte des Innenhofes stellte grundsätzlich die Wasserversorgung sicher, war wichtig für das Überleben der Stammesgemeinschaft – aber Wasser war den antiken Sarden auch heilig, und es ist anzunehmen, dass das ein oder andere Ritual auch hier begangen wurde.
In direkter Umgebung des Nuraghenkomplexes befindet sich aber auch ein weiteres wichtiges Zentrum der nuraghischen Kultur: das Nuraghenheiligtum Santa Vittoria bei Serri, wo komplexere religiöse Handlungen vorgenommen wurde. Auch lebten im Medio Campidano vergleichsweise viele Menschen: Bei Villanovaforru gibt es einen weiteren großen Nuraghenkomplex, Genna Maria.
Alles deutet darauf hin, dass im Süden Sardiniens ein gesellschaftlich, wirtschaftlich und religiös wichtiges Zentrum der sardischen Hochkultur war.
Den riesigen Nuraghen Su Nuraxi aber hätte es fast gar nicht gegeben … das erzählt uns der Guide hier aber nicht, sondern erst der im Casa Zapata in Barumini. Dazu gleich mehr.
Erstmal war die Entdeckung von Su Nuraxi auch mehr oder weniger zufällig. Seine Existenz erahnte einer der berühmtesten Archäologen der Insel, Giovanni Lilliu (1914–2012), der in Barumini geboren wurde. Schon als kleiner Junge, dessen Weg ihn oft durch die Hügel führte, war er sich sicher: Unter dieser merkwürdigen Erhebung in der Ebene, bei der er oft spielte, und an dem die Hirten ihre Schafe weiden ließen, musste irgendwas versteckt sein!
Aus Neugier und Vorahnung wurden Beruf und Berufung: Lilliu studierte Archäologie und klassische Literatur. Mit 35 Jahren kehrte er in sein Heimatdorf zurück und begann mit den ersten Untersuchungen. Große Gesteinsbrocken und erste Keramikfunde ließen den Schluss zu, dass sich Ausgrabungen an „seinem“ Hügel lohnen würden.
Gesagt, getan – zwischen 1951 und 1956 kam der heute sichtbare Komplex zum Vorschein. Und seit 1997 ist Su Nuraxi sogar Welterbe der UNESCO.
„Von herausragendem, universellen Wert“ sei der Nuraghenkomplex in Barumini, so die Experten der Unesco, und erklären das anhand von drei Kriterien:
Heute ist Su Nuraxi eine der Haupt-Attraktionen der Insel, steht in jedem Reiseführer (zu Recht) und ist schon fast das Symbol Sardiniens und ist auf jeden Fall einen Besuch wert.
Aber wie gesagt: Es hätte es ihn fast gar nicht gegeben. Das erfahre ich von meinem Guide im verschwisterten Museum Casa Zapata. Wir nutzen den schönen Tag und wandern den knappen Kilometer ins Dorf Barumini.
Zunächst sieht das Casa Zapata gar nicht so aus, als hätte es irgendwas mit Nuraghen zu tun (außer dass es das Museum eben einige Fundstücke von Su Nuraxi beherbergt): Es ist das noble Anwesen der spanischen Adelsfamilie Zapata aus dem 16. Jahrhundert, mit feinen architektonischen Details, einem schönen Garten, Stallungen und Nebengebäuden, die heute vom Museum genutzt werden.
Doch der wahre Schatz des Casa Zapata kam erst in der neueren Zeit zum Vorschein: Die Gemeinde Barumini hatte das Haus gekauft, um ein Kultur- und Gemeindezentrum darin zu errichten. Bei Renovierungsarbeiten entdeckte man dann eine kleine Sensation:
Casa Zapata war direkt über einem beeindruckenden, komplexen Nuraghen gebaut!
Bei den weiteren Bauarbeiten ging man wunderbar vorsichtig mit dieser einzigartigen Entdeckung um. Man schützte sowohl die Struktur der spanischen Villa, als auch die des Nuraghen. Wenn wir heute in das Casa Zapata eintreten, bewegen wir uns auf hängenden Gehwegen und transparenten Böden, um die Pracht beider Gebäude gleichzeitig genießen zu können. Innenarchitektonisch echt gut gemacht, treffen sich hier Bronzezeit, frühe Neuzeit und Moderne.
Wir befinden uns bei unserer Besichtigung immer über dem Nuraghen, von dem im Haus der zentrale und ein Teil des östlichen Turms sichtbar sind, hinein kann man nur sehen, nicht gehen. Die beiden äußeren Türme, eine doppelte Verteidigungsmauer und das umliegende Dorf befinden sich außerhalb des Palastes. Die sind aber nicht zu besichtigen, weil noch Gegenstand von Ausgrabungen – die aber aktuell nicht fortgesetzt werden, weil man erst untersuchen muss, wie man die Statik von Haus und Nuraghen schützt. Und so, wie es ist, ist es ja auch schon gut.
Man nannte den Nuraghen wegen seiner Nähe zur später errichteten Pfarrkirche, die vom Garten des Hauses aus zu sehen ist, Nuraxi ‚e Cresia.
Aus den ersten Untersuchungen weiß man, dass der Nuraghe ebenfalls auf das 14. bis 10. Jahrhundert vor unserer Zeit datiert und dass er ein bisschen kleiner als Su Nuraxi ist, er ganz ähnlich genutzt wurde. Kurz: Eigentlich hätte er der zentrale Nuraghe der Dorfgemeinschaft sein sollen, und damit hätte es eigentlich den anderen Bau gar nicht gebraucht.
Warum aber baute man einen zweiten Komplex in Barumini?
Hatte man sich vertan? Irgendwie schon. Die Antwort gibt das Baumaterial: Su Nuraxi e Cresia ist in weißem Kalkstein erbaut. Wunderschön anzusehen, marmorähnlich und elegant, aber für einen Nuraghen dieser Größe schlicht ungeeignet. Der Stein zu jung, zu weich und nicht beständig genug, um das enorme Gewicht zu tragen sowie Wind und Wetter langfristig stand zu halten.
Also suchte sich die Dorfgemeinschaft geeigneteres Baumaterial in der Nähe und fand dieses auf und südlich der Giara di Gesturi: das Vulkangestein Basalt, dunkelbraun, leicht rötlich und von der Natur für die Ewigkeit gemacht. Vermutlich waren die für den Bau benötigten großen Felsbrocken schon durch Erdrutsche in der Ebene, oder man ließ man vielleicht auch weitere große Felsen herab rollen.
Der Bau des von Su Nuraxi wurde im 14. Jahrhundert vor Christus begonnen, und die bronzezeitlichen Ingenieure lernten aus dem ersten Bau dazu, bauten ihn etwas größer und wehrhafter. Den ersten Nuraghen gab man auf und überließ ihn seinem Schicksal – bis er 1990 wieder entdeckt wurde.
In der archäologischen Abteilung des Museums im Casa Zapata befinden sich in zwei Etagen über dem Nuraghen etwa 180 in Su Nuraxi gefundenen Artefakten, darunter das Modell eines Nuraghen aus Kalkstein, Sa Pintadera (eine Art Stempel für Brot) und viele kleine Wertgegenstände aus Bronze. Auch ein Stück Olivenholz, das in den Nuraghen eingearbeitet war, ist zu sehen: Mit der Radiokarbonmethode ermittelte man das Jahr 1470 vor unserer Zeit, +/- 200 Jahre.
Außerdem gibt es im Casa Zapata eine kleine ethnografische, volkskundliche Abteilung, dann Vitrinen mit Dokumenten aus der Zeit der spanischen Besatzung und Gegenständen der Familie Zapata, und last but not least die kleine Abteilung, die den Launeddas gewidmet ist, dem antiken Musikinstrument der sardischen Hirten.
Su Nuraxi und Casa Zapata sind ganzjährig geöffnet, das Kombiticket berechtigt zum Eintritt in beiden Anlagen – und das solltest du auch unbedingt machen, es lohnt sich wirklich. Plane dazu ein bisschen Zeit ein: eine Stunde dauert die Führung durch Su Nuraxi, auch das Casa Zapata hat so viel zu bieten, so dass du locker ein Stündchen hier verbringen kannst.
Es hetzt auch keiner: Nach den Erklärungen lässt euch der Guide allein (zumindest war das so in der Nebensaison) und man hat immer noch Zeit, sich einzelne Dinge genauer anzusehen. Oder sich einfach in den Garten zu setzen; auf dem Gelände des Casa Zapata ist auch ein nettes, kleines Café.
Mein bester Tipp für einen Besuch: Suche dir eine ruhige Jahreszeit für einen Besuch aus. Also nicht unbedingt in der Hauptsaison, wenn ganze Kreuzfahrtschiff-Ladungen hier heraus geworfen werden. Auch die neuralgischen Festtage sind vielleicht nicht die besten Tage für Barumini.
Im Frühling ist es hier herrlich leer, rund um die Anlage blüht und grünt es, man kann es wunderbar mit einem Ausflug auf die Giara di Gesturì verbinden. Im Winter oder an Regentagen bist du fast immer allein, in ganz ruhiger Stimmung. Und im Nuraghen selbst (und im Casa Zapata) wirst du auch nicht nass.
Im Sommer aber und an Feiertagen hat Su Nuraxi tendenziell viele Besucher – und vermutlich wird die Besichtigung künftig auch eingeschränkt sein und anders organisiert werden (müssen).
Wenn euch zu viel los ist, dann sind das erwähnte Nuraghenheiligtum Santa Vittoria oder der Nuraghenkomplex Genna Maria eine gute Alternative in der näheren Umgebung. Auch die kleine Burg in Sanluri oder der Nuraghe Is Paras bei Isili sind sehenswert.
Und sonst sind auf der Insel rund 7.000 Nuraghen, da wird sich schon ein megalithisch schönes Plätzchen finden 🙂
P.S. – Das schwarze Schaf erlaubt sich hier eine kleine sprachliche Freiheit und sagt DER Nuraghe, wobei im Deutschen DIE Nuraghe lt. Duden korrekt wäre. Allerdings nur, weil sich das im modernen (touristischen) Sprachgebrauch so eingebürgert hat. Mein alter Archäologie-Wanderführer sagt glaub ich auch DER. Aber DIE Nuraghe will mir partout nicht gefallen. Sprach- und kulturhistorisch sind Nuraghen männlich, nützt ja nix. DER Nuraghe kommt von sardisch SU Nuraxi – mit männlichem Artikel, bzw. italienisch IL, auch ein männlicher Artikel. Und weil es ja auch gar kein deutsches Bauwerk ist, wird nämlich andersrum ein Schuh draus: LA Nuraghe wäre definitiv falsch. Insofern: DER Nuraghe, sagt DAS schwarze Schaf 😉
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