Der internationale Fachterminus ist „Abseiling„, was irgendwie lächerlich klingt, aber wahnsinnigen Spaß macht. In Italienisch: „discesa a corda“ oder „discesa in corda doppia“ (Abseilen mit doppeltem Seil). Zum guten und sportlichen Beginn des neuen Jahres suchte sich das schwarze Schaf eine unerwartet schöne Klettermöglichkeit auf Sardinien aus: das Capo Figari bei Golfo Aranci.

Wobei, Klettern ist zuviel gesagt, zumindest heute. Es geht an dieser Seite nur abwärts. Zum Glück lassen Michele und Francesco, unsere Guides, uns weitgehend im Dunkeln über das, was uns erwartet. So ist der „Wow-Effekt“ noch größer.

Doch rund um den Spaß hat das Capo Figari seine Landschaft gelegt. Es geht vom Parkplatz erst einmal nur bergauf. Keine Pause. Es ist Januar – und unsere Exkursion beginnt darum bereits um 8 Uhr, damit wir genügend Tageslicht haben, um die ganze Tour zu schaffen.

Es ist ziemlich früh am Tag … der Sonnenaufgang über Capo Figari und Tavolara versöhnt mich mit dem brüsken Start …

Nein. Beschreiben wir die Situation mal genauer: Es ist Sonntag. Sonntag! Der Tag, an dem man eigentlich ausschlafen und die Füße hochlegen möchte. Ich bin aus irgendeinem Grund seit 4 Uhr wach, der Wecker war für 5 Uhr gestellt, ausgiebiges Frühstück mit Kaffee, Kiwi, Quinoa, Yoghurt, Nüssen und einem frisch gepressten Orangensaft um 6 Uhr, Treffpunkt an der Bar in Olbia um 7 Uhr, ausgerüstet auf dem Trek um 8 Uhr.

Ich bin hundemüde. Der Tag beginnt so ganz anders als ich es gewohnt bin (ein Becher Kaffee und eine halbe Stunde Angry Birds zum Wachwerden).

Das macht mein irritierter Körper mir nach den ersten hundert Höhenmetern ziemlich deutlich. Ich keuche wie eine alte Frau mit Asthma. Schuld daran vielleicht auch eine gerade erst überstandene Erkältung. Oder der Whisky gestern abend nach der Pizza … Aber nein, ich sehe es ein: Ich bin kein Leistungssportschaf. Und auch keine Bergziege.

Kurz horche ich in mich und lasse den Rest der Gruppe vorbeiziehen. Nur Müdigkeit? Vielmehr ist es der innere Schweinehund, der da gerade megamäßig jault, dass alle es hören können. Das ganze letzte Jahr war sportlich gesehen ein Elend! Brachland! Und jetzt das?!? Klar, dass der nicht will!

Aber ich weiß, dass jedes Mal, wenn ich mich irgendwie durchgerungen habe und den Weg gegangen bin (welchen auch immer), es jede Anstrengung wert war.

Nützt nix. Zurück ist doof. Weiter. Aufwärts!

Jede Anstrengung wert: Der Blick vom Capo Figari

Capo Figari, du alter Freund

Ich war schon mehrmals zum Trekking auf dem Kap, war sogar schon in der Nähe der Wand, an der wir uns heute vergnügen. Immer wieder ist das Capo Figari für eine Überraschung gut. Wie zuletzt, als ein paar Mufflons meinen Weg kreuzten (auf der gegenüberliegenden Isola Figarolo lebt noch eine weitere Kolonie).

Aber nie hätte ich gedacht, dass sich hier ein so genialer Kletterort befindet.

Das Capo Figari ist am höchsten Punkt 344 Meter hoch. Von quasi Null bei Golfo Aranci. Und es geht wirklich einfach nur bergauf. Direkt über dem Meer hat es steil abfallende Wände. Der Klettertraum schlechthin.

Tolle Kristalle am Wegesrand
Tolle Kristalle am Wegesrand

Das Kap kann alles. Die einfachen, touristischen Wanderungen starten bei der Cala Moresca: eine zur Cala Greca mit dem englischen Seefahrer-Friedhof, eine andere zur anstrengenden Wanderung hinauf zur verlassenen Funkstation, immer auf evidenten Pfaden.

Die „echten“ Treks starten an einem Parkplatz hinter dem Sportplatz an der Ortsumgehung. Von dort führen mehrere Pfade hinauf bis zu einem kleinen Sattel, mit maximal 50 Meter ebener Erde. Aber, es lohnt ein bisschen nach links und rechts zu gucken. Denn die schönen Dinge sind ja oft die kleinen, an denen man tendenziell vorbei hechtet …

Unser Pfad hat nicht umsonst Schwierigkeitsgrad EEA = Escursionisti Esperti con Attrezzatura: Ein Pfad querfeldein, mit unsicherem Untergrund, der später eben auch atrezzatura / Ausrüstung verlangt: Seile, Klettergurt, Abseilachter, Karabiner.

Man braucht einiges an Zeug, um hier herunter zu kommen.

Wir gehen mitten durch die Pampa und tatsächlich immer nur: aufwärts, aufwärts, aufwärts. Und passieren den Punkt, bei dem ich das letzte Mal pausiert habe und dann umgekehrt bin. Schade eigentlich, von dort sieht man wunderbar über die gesamte Costa Smeralda. Wir, zielstrebig, gehen weiter durchs Dickicht. Wer hier ein Schild oder einen geputzten Pfad erwartet, wird mega enttäuscht. Nein und dreimal nein.

Irgendwer murmelt „Percorso alternativo / alternativer Pfad“, und ob den Wildschweine oder Menschen ausgetreten haben, ist unklar. Tatsächlich folgt man hier manchmal den Tierpfaden, da sie hier wohnen und täglich unterwegs sind, wir allerdings nur ein paar Mal im Jahr.

Es gilt Felsen und Baumstämme zu überwinden (in einem Jahr gab es hier ein großes Feuer und einige Bäume auf dem Pfad sind von Blitzen getroffen und ausgebrannt). Ich jammere, dass ich doch ein Schaf bin und keine Ziege. Interessiert keinen.

Abseiling am Capo Figari, die erste

Vorbereitung auf den Abstieg

Als es wirklich nicht mehr bergauf geht, stehen wir irgendwann tatsächlich am ersten Punkt, um uns abzuseilen.

Ab jetzt gibt es kein Zurück. Nur noch vorwärts. Wer zurück will, geht zurück. Denn die Wände funktionieren nur in eine Richtung: runter. Wir bleiben alle motiviert und beisammen.

Ganz schön windig hier oben. Obwohl es ein sonniger Januartag ist, sind wir auf der Schattenseite und es weht ein Nordostwind (Grecale) direkt auf das Kap. Es ist wirklich kalt. Einige wechseln ihre durchgeschwitzte Klamotte, und die Idee ist gar nicht so doof.

Einer nach dem anderen kommt runter …

Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht wirklich an die erste Wand. Nur, dass sie gut zugänglich war, es nur einen kurzen Moment ohne Halt gab, und wir eine/-r nach der/dem anderen gut befestigt hinunter kamen. Etwa 40 Meter, sagte man uns. Gesagt, getan. Ich weiß es echt nicht mehr.

Wir wühlen uns ein bisschen durch die Landschaft und kommen am nächsten Punkt an, von dem man gar nichts durchblicken kann. Keine Ahnung, was uns bevor steht.

No idea, was uns bevor steht …

Das, was jetzt kommt, ist allerdings der Hit.

Zweite und dritte Wand: ab durch die Mitte!

Die zweite Strecke abwärts ist einfach nur genial. Man sagte einem Teilnehmer, der ein bisschen Angst schob, sie sei ganz kurz. War sie auch. Aber nur deswegen, weil die Wand nach etwa 7 Metern nach einer Öffnung im Fels überhängend wird und etwa 30 Meter in einer Art halboffenen Grotte frei hängend überwunden werden.

Einfach genial! Ich suchte mit den Füßen nach Halt und freute mich dann wie verrückt, als ich frei in der Luft hing!

Nicht nur der Überraschungseffekt, auch das Panorama, das sich mir bot waren genial: die gesamte Costa Smeralda breitete sich vor mir aus, in einem schönen Azurblau. Ich bremste ab und gönnte mir ein paar Sekunden still hängend mitten in der Wand.

So unbeschreiblich toll …!!!

Durch das Loch im Fels da oben, bin ich herunter gekommen ... genial!
Durch das Loch im Fels da oben, bin ich herunter gekommen … genial!
Nur Fliegen ist schöner!!!
Nur Fliegen ist schöner!!!

Der nächste Step war wirklich kurz, etwa 15, 20 Meter. Eigentlich war es nur ein Zwischenstopp, weil wir sonst ein noch längeres Seil benötigt hätten.

Nicht zu schwer, trotzdem hatte ich anfangs Mühe Halt für die Füße zu finden. Es ist halt alles etwas „grezzo“ am Capo Figari, recht wild und ungeputzt. Aber gerade deswegen extrem schön. Das hier sind keine Kletterrouten, die sie zu hunderten gehen.

Komischerweise ist gerade das Capo Figari, obwohl in der Nähe eines der touristischsten Gebiete der Insel und des Einfallstors Olbia, ein wirklich privater Ort für Abenteuer in der Wand.

Hier war auch der passende Ort für eine kleine Futterpause, das hätte ich fast vergessen. Aber oben fror ich, und hier hatte ich es mir in einem kleinen Felsvorsprung gemütlich gemacht. Bei zehn weiteren Leuten dauert es immer ein bisschen, bis man an der Reihe ist. Die mitgebrachten Panadas waren zwar kalt, aber gut, um die Wartezeit zu überbrücken und ideale Energielieferanten. Nachtisch: zwei Marzipankartoffeln aus dem letzten Care-Paket von Mami. Optimal für den weiteren Verlauf des Tages.

Dann irgendwann waren alle unten, und es ging weiter bergab, wir waren wie gesagt nur an einer Zwischenstation.

Die nächste Wand erreichten wir nach einem weiteren Auf- und Abstieg (ohne ging es heute irgendwie nicht, aufwärts war die Richtung des Tages, trotz Abseilen).

Die letzte Wand: das SEK lässt grüßen

Auch die letzte Wand war nach unten nicht einsehbar, der Start leicht überhängend. Aber unser Guide sagte mir, dass sie sehr eben sei. Ich war Nummer fünf und hatte plötzlich ne Menge Energie.

Kurz vorm Abstieg an der letzten Wand am Capo Figari
Kurz vorm Abstieg an der letzten Wand am Capo Figari

Los geht’s!

Ha, Mr Cruise ist nix dagegen, ich hüpfe die Wand bergab als wär ich ne Ziege und kein Schaf! Nein, ist das spaßig!

Ich freu mich wie Bolle. Ob ich mich beim SEK bewerbe? Neeeee, war echt cool! Eigentlich war die letzte Wand sogar die coolste, weil sie so natürlich zu gehen ist. Wer hier keinen Spaß hat, ist selber schuld.

Sehr spaßig: die letzte Wand am Capo Figari
Sehr spaßig: die letzte Wand am Capo Figari

Tja, und dann, als alle unten sind, kommt das, was kommen muss: der Abstieg.

Aber Pustekuchen! Wie das so ist mit „alternativen Pfaden“, verändern die sich im Laufe der Jahreszeiten. Und die Mufflons und Wildschweine meinten hier und da ist der Pfad aufwärts leichter, gehen wir wieder hoch.

Ich bin saumüde. Als wir irgendwo, als alle nicht mehr weiter mögen, eine Pause und ein Gruppenfoto machen, zittern meine Beine – ein Zeichen von Dehydrierung. Ich trinke, trinke, trinke.

Aber ich erkenne, wo wir sind, und das, was kommt – der Abstieg – ist einfach und mit wenig Aufwand machbar. Die Sonne kommt ums Eck und die paar Kilometer zum Parkplatz gehen wie im Flug.

Was soll ich sagen. So viele Erlebnisse auf Sardinien, und dann eins direkt vor der Haustür, das sich an Emotionen und Schönheit kaum überbieten lässt.

Bei einem gemeinsamen Bier in einer Bar in Golfo Aranci lassen wir den Tag ausklingen. Ich bin froh, meinen Schweinehund überwunden zu haben. Dieses Jahr kann jetzt nur gut werden!

Capo Figari, du bist wirklich wirklich toll 🙂

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