Ich habe Glück. Heute sind mit mir gleich zwei Familien in der Nekropole Anghelu Ruju bei Alghero. Archäologische Stätten setzen ja naturgemäß etwas Staub an und viele erschließen sich dem Sardinien-Neuling nur mit einiger Mühe. Aber Kinder haben die Gabe, auch einer ihnen völlig unbekannten, 6.000 Jahre alten Ansammlung von knapp vierzig Höhlen im Kalkstein Leben einzuhauchen.
Während ich also noch umständlich versuche, aus dem Infozettel, den man mir in die Hand gedrückt hat, die relevanten Informationen zu extrahieren, entspinnen sich zehn Meter weiter die ersten Geschichten: „Das ist das Versteck der Yiga-Banditen! Die haben den Donnerhelm geklaut, wir müssen kämpfen!“
Zelda meets Anghelu Ruju. Wie lustig ist das! Computerspiele sind also halb so wild, wenn die Kids von heute nicht nur vor der Konsole hocken, sondern auch draußen Spaß haben und schaffen, die Fantasy-Welt in einen Bezug zur Realität zu setzen. Ich beneide sie ein bisschen, denn sie haben auch den Vorteil, relativ klein zu sein und besser in die Höhlen kriechen zu können, als Erwachsene.
Und ich weiß jetzt, was ich Leuten antworte, die fragen: „Was kann man auf Sardinien mit Kindern machen?“ Nämlich: „Besucht die archäologischen Stätten! Klettert in und auf Nuraghen, trefft die Giganten von Mont’e Prama, erkundet die Domus de Janas!“
Sardinien hat so viele spannende Orte, und sie sind anders als alles, was man je in der Schule gelernt hat. Da haben Mutter und Vater Mühe, ihren Kindern alles zu erklären Und im Gegenteil! Hier läuft es eher anders herum: Die Kids zeigen ihren Eltern, wie man die Welt auch sehen kann. Tatsächlich langweilen Kinder sich nicht so sehr wie mancher Erwachsener.
Sardinien ist sozusagen eine echte Fantasy-Insel!
Auf meinem Zettel steht nur die faktische Geschichte. Aber ich bin ja auch keine zwölf mehr, und mich interessiert auch das:
„Eine der wichtigsten Stätten Sardiniens … 1903 zufällig entdeckt … genutzt von verschiedenen Kulturen zwischen 4.200 und 1.800 vor unserer Zeit … hauptsächlich als Grabstätte / Nekropole … Reste von Skeletten, Waffen und Opfergefäßen und -gaben wurden gefunden … heiliger Ort … weibliche Figuren wurden gefunden … Zeichen des Stiers an verschiedenen Wänden eingraviert … gehört zu den größten Domus de Janas / Feenhäusern der Insel …“
Domus de Janas übersetzt man wörtlich mit „Haus der Feen“, wobei „Fee“ verschiedene Bedeutungen hat: in Legenden und Erzählungen Sardiniens meint es in der Regel eine sphärische Gestalt, die nah bei den Menschen lebt, sie beschützt, aber manchmal auch eigensinnig und fies sein kann. Hier, in der Nekropole hat es die Bedeutung von „Seele“. Es kommt immer auf den Zusammenhang an. Im Falle von Anghelu Ruju ist die Lage ziemlich eindeutig: In den Feenhäuser von Anghelu Ruju hausen die Seelen der Verstorbenen.
Oder etwas einfacher ausgedrückt: Anghelu Ruju ist ein großer Friedhof. „Feenhäuser“ klingt natürlich deutlich schöner und beflügelt die Fantasie. Schon ein bisschen schräg, dass man hier in Gräber klettert. Keine Ahnung, was die Seelen davon halten, oder ob die wegen der Touristen schon längst ausgezogen sind. Aber die Kinder finden das ziemlich cool.
Und auch ich fühle mich ein bisschen in meine Kindheit zurückversetzt. Höhlen übten schon immer eine große Faszination auf mich aus. Sah ich eine, musste ich hinein gehen. Gab es keine, hab ich mir eine gebaut: im Kinderzimmer aus Möbeln und Wolldecken, draußen aus Ästen und Holzbrettern.
Das hat sich bis heute gehalten: Ich habe mega Spaß daran, in die staubigen und mit Spinnweben behangenen Höhlen von Anghelu Ruju zu klettern und finde ziemlich toll, dass man das auch darf. Und irgendwie ist auch lustig, sich das Ganze wirklich als Fantasy-Welt vorzustellen. Ich bin lang nicht so gut darin wie die Kids, aber ein bisschen nährt auch das, was ich auf dem Infozettel gelesen habe, meine Fantasie.
Auf geht’s, erstes Level!
Drei wichtige Symbole begegnen mir: die Mutter Erde, der Stier und die Himmelssphäre. Der Kult der prä-nuraghischen Menschen war eine einfache Religion, im Rhytmus und Spiegel der Natur. Ganz nah an den natürlichen Realitäten: Das, was jeder Mensch kannte und einordnen konnte, diente als Gottheit (z. B. auch das Wasser, siehe hier unseren Artikel zu Romanzesu) und wurde verehrt.
Der Mensch lebte und starb auch in Harmonie mit der Natur. Alles war verbunden. So auch irdische Welt mit der neuen Dimension, der Unendlichkeit im Jenseits.
Am wichtigsten – oder sagen wir, dem Menschen am nächsten – war die große Mutter Erde / Madre Terra. Der Körper des geliebten Menschen wurde zu ihr zurückgebracht, in ihr Inneres gelegt und sie würde ihn behalten und gut versorgen.
Der Stier, als Symbol von Stärke, Potenz und Fruchtbarkeit, ist ein heiliges Tier, das ebenfalls gottgleich verehrt wurde. Eines der Gräber erinnert selbst an einen Stierkopf, was aber auch Zufall sein kann.
Aber die in die Grabwände eingravierten Stierköpfe und -symbole sind als religiöse Symbole für den Stier-Gott / Dio Toro gemeint. Er dient dem Schutz des Verstorbenen. Solche Gravuren findest du zum Beispiel im Grab / Tomba XXVIII in der Vorkammer und an den Seiten der Tür der Hauptzelle sind zwei doppelhörnige Stier-Protome mit einem rechteckigen Kopf zu sehen.
In einigen Fällen muss man schon sehr genau hinschauen und gutes Licht haben, um etwas zu erkennen. Denn der Zahn der Zeit nagt auch an diesen Monumenten und dass man wirklich jedes Grab betreten kann, ist vielleicht auch nicht so gut. Andererseits hält das Ganze ja schon 6.000 Jahre. Trotzdem, Vorsicht schadet bei aller Fantasie und Bewegungsfreiheit wohl nicht.
Gravuren in konzentrischen Kreisen verbindet die beiden dominierenden Gottheiten zu einem stärkeren „Taurus-Mutter-Erde-Götter-Paar“. Leuchtet der Himmel in einem intensiven Blau (das soll auch eine symbolische Farbe für den Übergang in ein neues Leben sein), ist die Einheit der Symbole perfekt.
Hey, ich merke förmlich, wie mein Ausdauer-Licht stärker wird, und ich neue Kraft für neue Abenteuer in Fantasy-Sardinien bekomme! Nächstes Level: Alle Gräber erkunden und noch mehr rituelle Gegenstände finden!
Einige der Gräber sind klein und eng, andere schon ziemlich verfallen. Da gibt es nicht viel zu sehen. Man kann aber prima an eine Wand gelehnt etwas relaxen und die Sonne genießen, wenn zum Beispiel eines der größeren Gräber noch von anderen Besuchern „besetzt“ ist.
Die meisten Leute hechten nach den ersten Gräbern relativ schnell durch den Rest der Anlage, weil sie entweder nicht wissen oder erkennen, was da vor ihnen ist (einige sind wirklich nur ein kleines Loch im Boden, da muss man schon den Schneid haben, hinein zu kriechen), oder sie nach den ersten Gräbern die Lust verlieren.
Natürlich gibt es in den Gräbern nicht mehr so rasend viel zu sehen und irgendwann sieht eine Höhle aus wie die andere. Wer sich hier langweilt oder so gar keinen Sinn für Archäologie hat, für den ist Anghelu Ruju womöglich zu groß (kleiner und übersichtlicher wäre z. B. Puttu Codinu in Richtung Villanova Monteleone, zudem pittoresk an einem See in schöner Landschaft gelegen).
Folgt man in Anghelu Ruju dem vorgegebenen Pfad, sind die spannenden Gräber etwas in der Mitte und am Schluss. Da ich schonmal da war und schon eine grobe Ahnung hatte, habe ich die Stätte heute gegen den Uhrzeigersinn und im Zickzack erkundet. Ein bisschen schwarzschafig muss auch bei einer Top-Sehenswürdigkeit sein: runter vom Touripfad, gegen den Strom 😉
Einige der Gräber sind ziemlich groß. Sie haben spezielle Formen und manche eine Art Korridor oder Vorraum, in denen vermutlich die Bestattungszeremonien abgehalten wurden.
Besonders gut erkennbar ist das am Grab / Tomba C. Der „ingresso a pozzetto“, in etwa: „Eingang mit Grube“ oder „abgesenkter Eingang“. Einst war eine Decke darüber, die aber eingestürzt ist. So wie das Grab heute ist, sehe ich die Form eines Schädels. Als ich nochmal hingucke, eher einen Affen. In jedem Fall ein Gesicht.
Aber das ist schlicht eine Frage des Blickwinkels und der Auswuchs meiner etwas armseligen Erwachsenen-Fantasie. Die Kids von vorhin sind auch da und deuten die Eidechse, die auf den Steinen herumflitzt, zum Beispiel als Tempelwächter. Die Höhle wurde mit ner Bombe aufgesprengt. Na logo … Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin …
Das Grab „Tomba XX Bis“ ist ebenfalls ziemlich groß, und hierin wurden gleich vier weibliche Figuren aus weißem Kalkstein (ähnlich wie Marmor) gefunden. Sie weisen auf den im Mittelmeerraum und auf Sardinien verbreiteten Kult einer Muttergöttin / Dea Madre hin. Ihre Funktion war, die Seele der Toten zu beschützen und mit allem zu nähren, was sie nach dem Tod brauchten.
In einem anderen Grab fand man eine Kette aus Knochenstücken, Muscheln, Zähnen von Füchsen und Wildschweinen … weiß der Geier, wozu man die braucht, aber die Kids sind zu weit weg, um mir das genau zu erklären. Viele Fundstücke sind übrigens im Archälogischen Museum / Museo Archeologico in Cagliari und einige im Museo archeologico di Alghero ausgestellt.
Die prähistorischen Sarden hielten die Erinnerung an geliebte, aber in dieser Welt verloren gegangene Menschen lebendig, indem sie regelmäßig Rituale durchführten. Archäologen fanden Spuren von Opfern an den Eingängen einiger Domus, vor allem Muscheln, Tierknochen und Kohle, was durchaus echte Reste von Bestattungsmahlzeiten gewesen sein können (man weiß, das solche auch vor den Gigantengräbern abgehalten wurden).
Und den ganzen Rest überlasse ich jetzt mal deiner Fantasie. Meine ist jedenfalls ziemlich beflügelt. Ein Riesendank darum auch unbekannterweise an die Kids, die mit mir da waren 🙂
Ich habe in Anghelu Ruju glatte zwei Stunden verbracht. Der „normale“ Rundgang geht natürlich schneller. Aber warum einfach nur durchlaufen? Es gibt auch eine nette Relax-Area unter schattigen Bäumen. Denn die Stätte ist in flachem Gelände, Schatten findest du nur in den Gräbern, und nicht in alle kann man weit hinein – man ist also relativ viel der Sonne ausgesetzt, was im Sommer durchaus anstrengend werden kann.
Das war bei meinem Besuch kein Problem. Es war zwar warm, aber der Himmel war teils bewölkt und die Stätte war daher zwar gut besucht (als Alternative zum Strandprogramm), aber entspannt.
Anghelu Ruju ist ganzjährig geöffnet (mit Ausnahme an den Weihnachtsfeiertagen), im Sommer durchgehend bis abends und im Winter vormittags.
Führungen gibt es nach Anmeldung. Aber die Stätte kann gut im Alleingang erkundet werden: besagter Infozettel und ein mehrsprachiger Audioguide sind verfügbar. Und es gibt ein Kombiticket für den Nuraghen Palmavera, der ebenfalls sehenswert ist. Und wer noch nicht genug von Nekropolen: Manchmal öffnet man auch die sehr sehenswerten und sehr hübsch in einen Hügel gegrabenen Feenhäuser von Santu Pedru, an der Landstraße Richtung Ittiri gelegen. Und der kleine Shop ist gut sortiert, für alle, die sich über die Region oder archälogische Themen vertiefen wollen, plus ein bisschen Merchandising für die Kleinen.
Die aktuellen Öffnungszeiten und Preise entnehmt der offiziellen Webseite: https://necropoliangheluruju.com/orari-e-prezzi/
Über Events informiert die facebook-Seite zu Anghelu Ruju.
Und noch ein Tipp: Anghelu Ruju liegt quasi in direkter Nachbarschaft des sehenswerten, klassischen Weingutes Sella e Mosca, das nicht nur guten Wein, sondern auch einen Likör mit dem Namen Anghelu Ruju produziert. Der Gang in die Enoteca rundet den Ausflug quasi ab … 😉
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