Am Santuario di San Costantino in Sedilo findet jährlich am 6. und 7. Juli das traditionelle und spektakuläre Reiterfest S′Ardia statt, das gleichzeitig auch eine religiöse Bedeutung hat. In lokalem Sprachgebrauch Santu Antinu genannt und am Hang oberhalb des Lago Omodeo gelegen, ist hier ein über Sardiniens Grenzen hinaus bekannter Wallfahrtsort – und anlässlich der Ardia normalerweise rappelvoll mit Menschen. Und natürlich mit Pferden.
Normalerweise. Denn auch im anno domini 2021 / anno covidi 2 wird wieder kein Pferd zu sehen sein. Ein Virus und seine Varianten hinterlassen auch hier ihre Spuren, in Sachen traditioneller Feste ist leider noch nichts „normal“ auf Sardinien. Inselweit ist man damit beschäftigt, das „neue Normal“ für 2022 zu antizipieren. Nicht wissend, was tatsächlich kommt.
Aber die Pferde kommen wieder – keine Sorge! Aber weil nicht in diesem Jahr, so doch mindestens mal in diesem Artikel, in dem das schwarze Schaf zurück auf vergangene Feste schaut.
Und aus lauter Neugier sogar nach Santu Antine fährt, um zu erleben, wie es ist, wenn keiner da ist und die Pferde nur durch die Fantasie galoppieren 🙂
S’Ardia ist eigentlich ein tief religiöses Fest, das geht in den üblicherweise hier herumtollenden Menschenmassen fast unter. In der Wahrnehmung von Reisenden gegenüber einem spektakulären und wilden Reiterfest sind Heilige und Messen natürlich etwas weniger spannend und vergnüglich. Doch verweilen wir kurz bei der Historie, um das zu verstehen.
S’Ardia ist ein Pferderennen zu Ehren von San Costantino. Das ist eigentlich der römische Imperator Konstantin I. oder Konstantin der Große – als Heiliger wird er in der Orthodoxen Kirche und auf Sardinien verehrt. Auch auf dem Italienischen Festland gibt es einige ihm geweihte religiöse Stätten.
Das Pferderennen wiederum erinnert an einen Sieg in der Schlacht von Ponte Milvius (eine Tiberbrücke bei Rom) im Jahr 312, als ihm in der Nacht zuvor im Traum Jesus erschienen war und ihm sagte, sein Kreuz würde ihn schützen und ihm zum Sieg verhelfen. Bevor Konstantin also in die Schlacht zog, hielt er ein Kreuz in die Höhe und rief das, was der Gottessohn ihm gesagt hatte: „In hoc signo vinces!“ / „In diesem Zeichen wirst du siegen!“.
So geschah es, und Konstantin erhob das Christentum zur Staatsreligion des römischen Reiches.
Nun ist das alles so lang her und hat mit Sardinien heute und dem, was ich so unter „sardisch“ auch verstehe – nämlich dass die Insel nur zufällig / politisch an Italien und Rom hängt und sich Unabhängigkeit zumindest wünscht – eigentlich wenig zu tun. Zumal hier in der Inselmitte, der eingeschworensten Sarden.
Warum und wieso man das Fest feiert, kann so ganz genau dann auch keiner, den das pecora nera vor ein paar Jahren direkt vor Ort fragte, erklären. Als hätten sie sich nie selbst die Frage gestellt. Aber na klar wissen sie es: Sie feiern es, weil die meisten Sarden Katholiken sind – und damit ihre Religion eben dem Kaiser Konstantin zu verdanken haben. In 2021 wird darum immerhin der wichtige Kern, die heiligen Messen, gefeiert. Für die Gläubigen sicher ganz schön, sich mal in aller Ruhe dem eigentlichen Sinn widmen zu können.
Aber natürlich fehlt etwas. Denn die Ardia gefällt den Leuten vor allem, weil die Sarden ein Reitervolk sind.
Das Wort „ardia“ leitet sich übrigens von sardischen bàrdia (ital. guardia) ab, das „Wache“ oder auch „Wachplatz“ bedeutet. Des Fest stammt aus dem späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert. Bei einer Exkursion erzählte mir ein Einwohner aus Sedilo, dass das Fest zunächst ein steter Streitpunkt zwischen den Dörfern Scano Montiferro und Sedilo war, die es abwechselnd in ihren Dörfern austrugen. Seit 1806 findet es ausschließlich in Sedilo statt und nur Einwohner dieses Dorfes dürfen mit ihrem Pferd teilnehmen.
Ein tief verankertes Fest, das seit weit über 200 Jahren ausgetragen wird.
Und heute nicht.
Aber ich habe meine Ardia schon längst erlebt. Zweimal „in echt“.
Und nun einmal im Kopf, nur mit mit selbst. In der obligatorischen Sommerhitze dieses merkwürdigen Jahres, wenige Tage bevor das Fest eigentlich stattfinden hätte sollen.
Alles ist meiner Vorstellungskraft überlassen. Ich erlebe eine Ardia ohne Ardia – aber in all ihrer Pracht.
Der Austragungsort, das Santuario di Santu Antinu, ist traumhaft gelegen: außerhalb des Dorfes Sedilo, inmitten fruchtbarer Felder (im Juli, dem traditionellen Erntemonat herrlich goldgelb und häufig abgemäht) und oberhalb eines der wichtigsten Stauseen der Insel, den Lago Omodeo.
Ich nutze die Zeit und die Leere für einen gemütlichen Spaziergang durch die Gegend (es gäbe auch Trekkingpfade, aber es ist tagsüber schlicht zu heiß).
Schließlich gehe ich hinauf zum frisch renovierten Gotteshaus. Hinter dieser gibt es ein paar Gebäude und Sitzplätze unter Pinien – und einen genialen Ausblick über eben jenen See.
Heute, so ganz ohne Menschen, liegt eine friedliche Atmosphäre über dem Gelände.
Ich schließe die Augen.
Höre Hufgetrappel.
Die Prozession startet in Sedilo, mit einer Messe. Bis zu 100 Reiter, angeführt vom ersten Reiter mit der Fahne / Sa Prima Pandela, gefolgt von zwei weiteren Reitern, Sa Segunda Pandela und Sa Terza Pandela, und begleitet von der Dorfgemeinschaft gehen im Schritttempo bis zur Straße, die zum Kloster Santu Antinu hinunterführt.
Bei Su Fronte Mannu / die große Front werden Reiter und Pferde vom Dorfpfarrer gesegnet, Schutz für Mensch und Tier wird erbeten. Dann geht es weiter zu Su Frontigheddu / die kleine Front.
Dort angekommen, liegt eine enorme Spannung in der Luft. Die Kirche oben auf dem Hügel ist in Sicht.
Der erste Reiter, Sa Prima Pandela entscheidet, wann es losgeht. Nicht zu früh, nicht zu spät … sondern ………….
Im emotionalsten Augenblick rasen sie los!
Hufe donnern! Staub wirbelt!
Die Spannung entlädt sich in waghalsigem Galopp den Abhang hinunter!
Gewehrsalven!
Glockenläuten!
Jubel!
Das innere Gefasstsein der sardischen Pferde wird ganz schön auf die Probe gestellt, aber dafür sind sie ja bekannt: Der Anglo arabo sardo gilt als eine der nervenstärksten Pferderassen überhaupt.
Spannend ist der Augenblick kurz nach dem Start, wenn die Pferde zu Su Portale, dem Bogen des Konstantin / Arco di Costantino einbiegen und der Weg sich stark verengt – das Tempo aber rigoros beibehalten und von einigen noch verschärft wird.
Es ist auch der gefährlichste Augenblick, denn die Ardia beruht auf dem Prinzip, sich nicht zurück zu halten, die Beine am Pferd zu lassen und ungebremst durch das Tor zu reiten. Das fällt den ersten dreien noch relativ leicht – bei hundert Reitern aber kann es auch mal eng werden.
Hinauf geht es zur Kirche / Sa Cresia!
Dort parieren die Reiter ihre Pferde das erste Mal durch und umrunden das Gotteshaus ganz langsam, zwischen drei und sieben Mal – sa prima pandela entscheidet.
In der nächsten „wilden Phase“ geht es wieder rasend schnell, wieder knallen Gewehrsalven. Die ersten drei Reiter galoppieren von der Kirche hinunter auf den großen Platz im Inneren des Santuario. Die anderen folgen nach und nach.
Bei Sa Muredda – das ist ein eingefasster Bereich mit einer weißen, kreisrunden Mauer – sammeln sie sich und Sa Prima Pandela und Segundu und Terzu umrunden langsam diese Mauer, die Gläubigen und Pilgern vorbehalten ist. Auch einige ältere Damen aus Sedilo stehen dort, um den Segen durch Berühren der Pandela zu erhalten. Heute stehe dort nur ich.
Der erste Reiter umrundet auch Sa Muredda dreimal und entscheidet, wann das Feld wieder hinauf zur Kirche galoppiert. Jetzt wird die Galoppade langsam ruhiger, es geht aber immer noch schnell.
Zuschauer fangen an, über die Galoppstrecke zu dackeln – super gefährlich, wenn hundert Pferde, jedes mit rund 500 Kilo und Vollgas immer noch unterwegs sind. Sie werden von den Sicherheitskräften zurückbeordert. Die haben alle Hände voll zu tun – es gibt auch tatsächlich Leute, die da diskutieren … Überlegt euch auch, ob ihr mit Kindern und Hunden zu dem Fest geht. Allein die dauernden Gewehrsalven sind nichts für zarte Gemüter.
Die Ardia ist definitiv kein Ponyreiten. Sie ist nicht mal ein Pferderennen, sondern hier wird die Schlacht eines römischen Herrschers, der seinen Feind angreift, dargestellt.
Es reicht nicht, einfach nur gut reiten zu können. Es geht um Mut, oder vielmehr: Furchtlosigkeit. Um mit Vollgas und ohne Angst den Abhang hinab und auf den Torbogen zu zu rasen, braucht es „sangue freddo“. Das mag für ein kirchliches Fest merkwürdig anmuten, ist aber eben der Geschichte geschuldet.
Auch reiten deshalb keine Frauen mit, denn den meisten – durchaus talentierten und stolzen sardischen Amazonen – fehlt diese Kaltblütigkeit, mit der Männer seit Jahrtausenden in Schlachten ziehen und Frauen eben nicht (oder deutlich seltener). Das ist weniger eine Frage der Rollenverteilung, sondern der inneren Haltung.
Doch selbst, wenn eine Frau diese Eigenschaft hat – bis zur S’Ardia ist es ein Werdegang, der schon im Kindesalter in Sedilo beginnt. Ein Mädchen, das sich über die Jahre emotionslos einen Platz in einer traditionellen Männergemeinschaft erstreitet und zudem noch wie eine Besessene reiten kann – das ist selbst 1.800 Jahre nach der Schlacht am Tiber in einer halbwegs emanzipierten Welt schwierig zu finden.
Hinter der Kirche sammeln sich während und nach dem Fest die Reiter – insofern auch ein guter Platz, wenn man nah an die Menschen und Tiere will und ein bisschen abseits des Trubels bleiben möchte. Und hier lassen sie ihre Pferde nach den rasanten Galoppaden verschwitzt im Schatten stehen.
Auch ich finde heute Schatten und Erholung unter den Pinien, in denen heute das Geräusch der balzenden Zikaden überpräsent ist.
Nun gehen die Reiter in die Kirche für eine kurze Messe – die Pferde bleiben aus Platzgründen draußen 😉 – und treten dann mit dem Priester wieder heraus.
Zum Fest gehört nämlich noch die anschließende Messe im Freien. Auch der Priester besteigt ein Pferd, und wird begleitet von zwei berittenen Carabiniere (ich glaube, das war nach der Messe, bin aber nicht mehr sicher).
Das begleitende Fest verschwimmt in meiner Fantasie. Statt dessen sehe ich viel weiter in noch ältere Zeiten. Denn in der Ringmauer, die das Santuario umgibt, sind die „cumbessias“, oder auch „muristenes“ – die Unterkünfte für die Pilger.
Sie kamen aus ganz Sardinien und auch über das Meer, um sich einmal im Jahr an ihre Wurzeln zu erinnern und in diesen Tagen gemeinsam zu feiern. Ich sehe sie in den schattigen Veranden sitzen, Brot und Wein zu sich nehmend, betend und singend, in fröhlicher Gemeinschaft.
Heute beherbergen die ersten cumbessias den Sitz der Vereinigung Santu Antinu, die das Fest organisiert, eine Fotowand mit schönen Bildern als Erinnerung an die Mitte des letzten Jahrhunderts.
Auch ein Infopoint mit Lageplan und die Erste Hilfe sind hier untergebracht. Der Rest ist zu Verkaufsständen für Händler umfunktioniert. Du bekommst traditionelle Spezialitäten und handgefertigte Sachen, wie Kunsthandwerk und sardisches Sattelzeug. Falls du deinem Pony zu Hause etwas schenken oder beim Reiten künftig sardische Gamaschen tragen möchtest, ist das hier eine gute Adresse. Ich erstehe zwei Schafglocken. Abends wird im Dorf Sedilo auf einem kleinen Jahrmarkt noch ziemlich »weltlich« weitergefeiert.
Ich beende meine exklusive Ardia und wache wieder auf.
So schön die Stille war – so absurd war sie auch.
Ich kann es kaum erwarten, dass hier wieder Pferde galoppieren!
Wer wissen will, wie das Fest früher gefeiert wurde – und wer und Italienisch versteht, dem kann ich diese zweiteilige Dokumentation aus dem Jahr 1954 empfehlen, frei verfügbar auf Yout:
Auf dem weitläufigen Gelände gibt es einiges zu entdecken, das mit „viel Mensch und Programm“ gar nicht ins Auge sticht. Denn wie so viele Orte auf Sardinien, an denen heute eine Kirche steht, ist auch Santu Antinu ein vermutlich schon in prä-nuraghischer Zeit genutzter Kultplatz.
Bestes Indiz ist ein Kreis von Quadersteinen mit einem Menhir oder Betyl in der Mitte und anderen frühzeitlichen Utensilien. Der Betyl ist nicht irgendeiner, sondern ein sehr seltenes Exemplar, das eine einzelne Brust sowie gleichzeitig männliche Merkmale aufweist. Mann und Frau in einem. Ich erinnere mich an meinen Besuch im Menhir-Museum in Laconi und finde das schon wieder unheimlich spannend!
Wenn ihr also die nächste S’Ardia besucht, dann nehmt euch ein bisschen Zeit und bleibt, bis die meisten schon weg sind und entdeckt diesen wirklich hübschen Wallfahrtsort.
Das ist dann auch entspannter auf dem sicher gut gefüllten Parkplatz, der auf einer Wiese und an den Straßenrändern der engen Straßen organisiert wird 😉
Schwarzschaf-Tipp: Am 7. Juli, gegen 7:30 Uhr morgens, wird der Ritt wiederholt und ist dank der frühen Zeit ein wenig ruhiger und wird überwiegend von Einheimischen besucht.
Ein Tipp für alle, denen in Sedilo zuviel los ist: Ende August wird die Ardia di San Costantino in Pozzomaggiore geritten. Das Fest ist ganz ähnlich, nur etwas kleiner und die Reiter tragen rote Kleidung. » www.sancostantinopozzomaggiore.it
Sedilo ist ein authentischer, gewachsener Ort, in dem du dich auch gut ein paar Tage einnisten kannst (rund um die Ardia natürlich früh anfragen).
Ich empfehle dazu wärmstens das B&B Catedda in Sedilo. Das gehört nämlich zur Mikrobrauerei BIRRIFICIO HORO – die ein ganz großartiges, rein sardisches Craft Beer machen (doch, Sardinien kann sehr viel mehr als Ichnusa) und einen Brewpub mit genial guter Küche haben.
Ideal für Ausflugstouren in der Inselmitte sind auch ein Stück weiter die Orte Abbasanta, Ghilarza und Paulilatino. Ganz wunderbar ist das Eco-B&B BISOS im Zentrum von Paulilatino. Das Haus und die super schönen Zimmer sind alle mit natürlichen Materialen aus Sardinien nachhaltig restrukturiert.
Der Region werde ich demnächst einen Artikel widmen. Ein paar Highlights: Kayakfahren auf dem See Omodeo, in die Bronzezeit abtauchen am Nuraghen Losa, die märchenhaften Domus de Janas – Necropoli di Prunittu bei Sorradile erkunden, oder das Brunnenheiligtum Santa Cristina … und und und …
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sigrid von o-solemio
8. Juli 2021 at 01:51Danke schön für diesen tollen Ausflug. Zusammen mit den schönen Fotos konnte ich fast neben dir gehen bei deinem Weg durch die Zeiten. Und bin sehr neugierig geworden.
Auch nach über 13 Jahren Herumreisen auf der für mich schönsten Insel, gibt es immer noch so viel zu entdecken! Und das wird wohl auch immer so bleiben. Irgendwie schön und sehr beruhigend.
Ich kann mir Zeit nehmen, denn ich kann ohnehin nicht Alles sehen. Tranquillo…. con calma.
Und vielleicht sehen wir uns nächstes Jahr in Sedillo und lauschen gemeinsam den Hufen auf trockenem Grund.
wäre doch was…