Ein Sonntag im besten Wortsinn lockt das schwarze Schaf zu den tollen Murales von Orgosolo – und zum hiesigen Herbstfest der Reihe »Autunno in Barbagia«.

Das wiederum will sich – obwohl es Mitte Oktober ist – gar nicht wie eines anfühlen, so warm ist es.

Orgosolo: traumhafter Herbsttag

Orgosolo: traumhafter Herbsttag

Und weil das so ist, stehen bereits um 10 Uhr morgens die Autos und Busse am Ortseingang Schlange. Die meisten wollen ebenfalls die berühmten Murales sehen, dazu gut essen und trinken. Die Hauptadern des Ortes platzen fast, so viele wollen hin.

Aber im Stau keine Spur von Aggression, denn die Orgolesi machen es den Ankommenden leicht: eine Truppe Männer mit Flaschen und kleinen Bechern in der Hand geht von Auto zu Auto und reicht Wein an die Insassen.

Einer von ihnen gibt einem Paar auf den Vordersitzen je einen Becher und reicht dann einen halb gefüllten an den zehnjährigen Sohn auf der Rückbank. Alle lachen und der Tag ist jetzt schon perfekt.

Wie jetzt, Alkohol an Minderjährige?! Jap. Heute ist Sonntag, heute sind wir in Orgosolo. Na klar darf man das!

Und, viel wichtiger: Alles ist friedlich und fröhlich.

Die Kunst beginnt schon außerhalb des Dorfes

Die Murales von Orgosolo beginnen schon außerhalb des Dorfes, als Steinkunst / »Pedrales«

Und das – Spoileralarm – ist auch, was das schwarze Schaf spätestens heute über Orgosolo lernt: Supernette, friedliebende Menschen. Gestern wie heute. Gastfreundlich und zuvorkommend.

Ja, sie haben eine andere Vorstellung von gewissen Dingen als landläufig üblich. Aber dazu kommt das Schaf vielleicht später noch.

Erstmal wirft es sich ins Getümmel.

Und weil sich in der Hauptstraße alle auf die Füße treten, biegt es nach kurzer Zeit ab in die Nebenstraßen und kleinen Gässchen.

Hier ist es hübsch ruhig und so langsam heißt es: ankommen.

Die ersten Murales sind übrigens bereits außerhalb des Ortes an der Straße zu bestaunen, das »pedrales«, ein bemalter Stein etwa einen Kilometer mit dem typisch orgolesischen Gesicht ist nur eines davon.

Murales von Orgosolo – nicht einfach bloß Kunst

Die wenigen Ausländer, die da sind, stecken die Murales aber tatsächlich als eine Art Kunstgalerie gut weg. Das ist vermutlich auch richtig so.

Murales von Orgosolo: ausdrucksstark und reich an Botschaften

Murales von Orgosolo: ausdrucksstark und reich an Botschaften

Liegt nämlich daran, dass sich Touristen und Reisende in Orgosolo überwiegend optisch orientieren und beeindrucken lassen müssen.

Wir gehen wie durch ein Museum, verstehen vielleicht etwa die Hälfte dessen, was wir sehen und es spricht uns an oder eben nicht.

» Hier gelangst du übrigens zu unserer schwarzschafigen Galerie der Murales von Orgosolo. Schöner und echter ist das natürlich selbst live und in Farbe erlebt vor Ort.

Viele Motive findet auch das schwarze Schaf einfach nur schön. Andere sprechen es sofort an, wieder andere sagen ihm wenig. Dann gefallen ihm Details, und von einigen ist es schwer beeindruckt.

Das ist StreetArt vom Feinsten, aber man weiß irgendwie: Das ist noch viel määähr als Kunst.

Oft können wir »Fremdlinge« aber unbeeindruckt weiter gehen, weil uns der Hintergrund fehlt.

Respektiere die Natur - ob das alle da unten machen?

Respektiere die Natur – ob das alle da unten machen?

Wir sind froh, wenn wir Dinge erspähen, die wir irgendwie einordnen können.

Ganz einfach ist der Klassiker: das Bild von Sardinien, auf dem »Tu sei qui« (Du bist hier) und »Orgosolo« steht. Und dass man, wenn man Sardinien liebt, die Schönheit der Natur respektieren soll. Na gerne doch, bitteschön.

Da stellen wir uns hin, machen ein Selfie und sind ziemlich happy.

Beklemmender wird es beim Anblick der beiden Türme des World Trade Center, in das gerade das todbringende Flugzeug geflogen ist. Wir erinnern uns unweigerlich daran, wo wir an diesem unglücklichen Tag der neueren Geschichte waren.

Na klar schlucken wir kurz, machen ein Foto und der Hauch von Ahnung, dass das alles hier unter Umständen mehr als Wandgemälde sind, wird zur Gewissheit.

Im Optimalfall nehmen wir uns vor, nochmal in Ruhe herzukommen, etwas Italienisch zu lernen und/oder uns das erklären zu lassen.

Denn die vielen picassoesken Motive von Frauen und Männern, sind ausdrucksstark und gesellschaftlich-politisch motiviert, das erfasst der Mensch nicht im Durchrauschen.

Ein Gemälde, das leider kaum alle Deutschen erklären können.

Ein Gemälde, das leider kaum alle Deutschen erklären können.

Schwierig und schon mit der eigenen Geschichte überfordert sind tatsächlich viele Deutsche bei dem Bild, das eine Büste von Helmut Schmidt zeigt, die quasi auf dem Abbild von Ulrike Meinhof zu stehen scheint.

Daneben ein Zitat von Bertolt Brecht aus »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«, das vermutlich nur ein Bruchteil der deutschen Bevölkerung kennt, gelesen, geschweige denn, verstanden und mit den Ereignissen des Deutschen Herbstes in Verbindung gebracht hat.

Ein fetter Seitenhieb auf den eigenen Intellekt. Das schwarze Schaf gibt zu, selbst an einer massiven Wissenslücke angekommen zu sein.

Wenn irgendjemand jetzt fragen würde … es fiele ihm ziemlich schwer, das klug zu erklären. Es nimmt sich vor, die Lücke beizeiten zu schließen. Ist ja kein unwichtiger Teil der eigenen Historie.

Nun besteht das Gros der Besucher in Orgosolo aber aus Sarden, was das Fest insgesamt sehr angenehm macht. Und die haben noch viel mehr mit den Murales zu tun.

Ein Statement für Sardinien, Italien und die Welt

Und wieviele sind eigentlich nur wegen des (zugegeben sehr guten) porceddu nach Orgosolo gekommen?

Und wieviele sind eigentlich nur wegen des (zugegeben sehr guten) porcetto nach Orgosolo gekommen?

Der Sarde im Allgemeinen aber und der Kontinental-Italiener im Besonderen, ist mit den Murales von Orgosolo überfordert.

Er versteht naturgemäß die Sprache und damit fast alles.

Er muss zwangsläufig mehr denken als wir und wird vom Feiern durchaus veritabel abgelenkt. Obwohl das porcetto Richtung Mittagszeit schon ziemlich unverschämt durch die Straßen duftet …

Übrigens ist das klassische Murales eher textlastig, wichtiger als das Motiv ist die geschriebene Botschaft.

Viele der Murales wurden jüngst restauriert und sind wieder gut erkennbar (hier ein Beitrag in italienischer Sprache – Quelle: La Nuova Sardegna), und zwar von ihrem »Animator« und Wegbereiter Francesco Del Casino.

Er lebte lange Zeit in Orgosolo und hat ab 1975 diese Kunstform im Dorf und auf Sardinien maßgeblich geprägt.

Sein jüngstes Werk ist zur Erinnerung an Pinuccio Sciola aus San Sperate mit seiner Idee eines Kunstdorfes, den dortigen Murales und seinem Garten der klingenden Steine.

Wenn die Sarden ...

Wenn die Sarden …

Doch ziemlich schnell wird klar: Die Murales sind, wie seit dem Beginn ihres Entstehens 1969, politische und gesellschaftliche Anklagen und Forderungen.

»Ma è troppo!« ruft eine Frau (wie sich nach etwas Gelausche herausstellt, aus Florenz) etwas hilflos ihrem familären Gefolge zu.

Oha, die gute Dame macht wirklich den Eindruck als hätte sie in ihrem Leben eher über Pastarezepte nachgedacht. Vermutlich hat sie noch nie soviel reflektieren müssen wie hier. Kann natürlich ganz anders sein – leider wirkt sie wie eine typische, satte Mamma.

Nun steht sie ausgerechnet vor einem Murales, das die Unterdrückung der Sarden durch die Italiener thematisiert.

... mit den Italienern klarkommen sollen ...

… mit den Italienern klarkommen sollen …

Oha. Das hatte sie so vermutlich noch nicht betrachtet. Sie läuft irritiert hin und her, als verstünde sie nicht, wisse es aber im Inneren doch ganz genau und wolle deshalb bitte gern schnell wieder weg.

Auch das allererste Murales, thematisierte das gespannte Verhältnis zwischen dem italienischen Staat und der Bevölkerung, auch und zuvorderst der Sarden.

Es wurde 1969 von einer Gruppe Mailänder Anarchisten namens Dioniso geschaffen (warum eigentlich ausgerechnet in Orgosolo?) und ist im Laufe der Zeit leider vollständig verwittert und verschwand. Immerhin wurde es vor kurzem neu nachgemalt.

Dass das viele Italiener irritiert, liegt in der Natur der Sache.

Doch auch viele Sarden werden hier inspiriert. Über alles, aber auch wirklich alles noch einmal nachzudenken. Vom eigenen Dasein bis zu den großen Problemen Europas und der Welt wird in den rund 200 Murales quasi jede große und kleine Sache thematisiert.

Von der Schafschur bis zum Kapitalismus. Jap, ein weites Feld.

Murales von Orgosolo: Frieden für Sardinien und die Welt

Ein Schaf auf den Schultern - vertrautes sardisches Motiv

Ein Schaf auf den Schultern – vertrautes sardisches Motiv, von Francesco Del Casino

Die Murales von Orgosolo thematisieren vor allem aber eines: Krieg und Frieden.

Die Kernbotschaft ist: Frieden und Demokratie um jeden Preis. Im Dorf, auf der Insel, im Land, auf dem Kontinent und in der Welt.

Und das ist kein Lila-Latzhosen-Wunsch, sondern war damals in den Siebzigern im kalten Krieg schon ein ziemlich heißes Thema und ist heute aktueller und vielleicht wichtiger denn je.

Das schwarze Schaf liebt Orgosolo allein dafür, diesem Wunsch nach Liebe und Frieden Raum zu geben.

Mit kräftigen Farben, Nachdruck und neuerdings auch Fürsorge. By the way: Orgosolo ist in den letzten Jahren ein richtig hübsches Dorf geworden!

Ein sehr kluges Gemälde für den Frieden fasst die Botschaft Orgosolos für das schwarze Schaf heute ganz gut zusammen.

Je nach Blickwinkel ergibt sich der Schriftzug: »Amo la pace« – »Ich liebe den Frieden« oder »Lottiamo per la pace« – »Wir kämpfen für den Frieden«. Und »kämpfen« hat dabei durchaus die Bedeutung von »um etwas ringen«.

Lottiamo per la pace

Lottiamo per la pace

So gesehen ist Orgosolo der vielleicht friedlichste Ort auf ganz Sardinien.

Auch wenn viele mit ihm etwas ganz anderes verbinden oder das Fremdbild über die Landesgrenzen an einem anderen Thema hängt. Dazu kommt das schwarze Schaf ein anderes Mal.

Oder vielleicht auch nicht.

Denn eigentlich hat Orgosolo es auch mal verdient, einfach ein in Frieden mit sich und seinen Gästen lebendes Dorf zu sein.

So lässt das Schaf sich erstmal treiben, probiert von dem selbstgemachten und weit über Landwein-Niveau angesiedelten Cannonau des netten Herrn, der mit seiner Frau in der Garage lauter prozentträchtiges Zeug offeriert.

Auch seine Weintrauben in Mirto sind der Hit – vor allem mittags um zwölf! Der Preis für die Flasche Wein (drei Euro für den Liter!) ist ein Argument – da schlägt das Wolltier direkt zu.

Mit über offenen Feuer geröstetem »porceddu« in einen Fladen gewickelt (quasi ein aufs Wesentliche reduzierter Döner), trabt es weiter durch den schönen Herbsttag.

Später sitzt es am Rand des traumhaft am Berghang liegenden Ortes und schaut auf den Supramonte.

Alles ist gut. Möge es so bleiben.

Frieden auf Erden, bitte.

Darauf, und auf die Murales von Orgosolo, einen Cannonau!

3 Comments

  1. Ju Le

    4. Juni 2020 at 19:41

    Toller Artikel, wollte schon beim letzten Sardinien-Besuch nach Orgosolo (auch wenn ich den Ortsnamen jahrelang falsch betont habe ) und hoffe, dass wir es spätestens nächstes Jahr schaffen werden! Wie oft bei Murales oder Streetart im Allgemeinen steckt hinter den Bildern an Fassaden oder sonstwo immer noch eine tiefere Botschaft. Seit ein paar Jahren haben wir auch in den Abruzzen ein „Murales-Dorf“ – thematisch geht es da aber n icht um Krieg und Frieden, sondern eher Astronomie. Musste irgendwie trotzdem an dich bzw Orgosolo denken und habe dich bzw diesen Beitrag in dem Artikel verlinkt, weil ich vor ein paar Wochen erst zufällig über diesen Artikel gestolpert bin. Hoffe, das ist ok! Viele liebe Grüße aus Abruzzo – Jule

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  2. marco

    9. Mai 2022 at 12:16

    Orgosolo ist ein großartiger Ort mit einer bewegenden Geschichte. Wir waren so begeistert von den wunderschönen Murales, dass wir hunderte Fotos gemacht haben. Noch heute sprechen wir jedem Sardinien Besucher eine Empfehlung aus. Den der kleine charmante Ort in den Bergen sollte bei keinem Urlaub außen vor bleiben. Noch authentischer kann man Sardinien wohl nicht erleben.

    Danke für diesen tollen Beitrag.

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  3. pecora nera

    11. Mai 2022 at 08:21

    Ja, Orgosolo ist wirklich toll! Ich mach auch immer gefühlt Millionen Fotos! 😉
    Ich würde den Menschen in Orgosolo jetzt noch wünschen, dass die Urlauber auch mal im Ort bleiben, und auch Zeit für die Murales in den Seitenstraßen haben, die Gastfreundschaft erleben, den guten Wein genießen … die Region ist für einen Tagesausflug viel zu reichhaltig 🙂

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