„Habt Ihr denn schon Nuraghen gesehen?“ – „Ja, sicher…“ – „Welche denn?“ – „Wir waren in Barumini…“ – „Ja aber das ist ja so ein ganz großer Komplex. Unserer ist ja ein einzelner und viiiiieeeel schöner! Ihr müsst den sehen! Der ist der älteste (wahlweise: jüngste / größte / schönste / am besten erhaltene / höchste / … ) der gesamten Insel (wahlweise: Gegend / Provinz / Region)! Ehrlich!“ – „Aber… die sehen doch alle gleich aus…“ -„…“

Nuraghe Oes di Giave

In diesem Moment, wenn es um ihre nationalen Denkmäler geht, kennen die Sarden keine Gnade. Der nächstgelegene Nuraghe hat garantiert irgendeinen Superlativ aufzuweisen und es wäre absolut undenkbar, nicht seine Schönheit besteinen, äh, -staunen zu wollen. Selbst bei rund 7.000 dieser frühzeitlichen Bauten auf der ganzen Insel kommt niemand in Erfindungsnot zu erklären, warum ausgerechnet dieser eine besucht werden soll.

Demgegenüber steht der Tourist, der bei sich denkt „Steinhaufen ist ja doch irgendwie Steinhaufen…“ und windet sich in Ausflüchten, nicht schon wieder irgendwo herumklettern und die sardische Kultur bewundern zu müssen. Am Ende auch noch gegen Bezahlung. Nix da!

Zugegeben gehört schon viel dazu, den Besuch der Nuraghen zur Philosophie zu erheben (Stichwort: Nuraghenhugging, dazu unten mehr). Doch gibt es viel mehr rund um diese, na, nennen wir sie ruhig mal Steinhaufen, als auf den ersten Blick erkennbar ist.

Zunächst eine wichtige Frage klären: Der oder die Nuraghe? Der. Italienisch „il nuraghe“, ergo ist er auch im Deutschen männlich.

Dann ein bisschen Geschichte: Die Nuraghen stammen aus einer hoch zivilisierten und relativ jungen Zeit der Inselgeschichte.

Nuraghe Focaia, Medio-Campidano

Die ersten von ihnen sind bronzezeitlich, aus der Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus; grob lassen sie sich kategorisieren als „antico“ (1500 – 500 v. Chr.), weitere Bauten als „medio“ (900 – 500 v. Chr.) und „recente“ (500 – 200 v. Chr.). Die größten mit mehreren Türmen entstanden gegen Ende der Bronzezeit, etwa 1200 v. Chr. und dienten sowohl als Festung als auch als Wohntürme für den Häuptling („capo dei tribù“).

Ihr Zweck? Unterschiedlich. Von einzelnem Wehrturm über Schutzhütten und Wohnungen bis zu Bastionen und ganzen nuraghischen Dörfern ist alles dabei.

Und das soll eigentlich erstmal reichen.

Nähern wir uns den Nuraghen lieber von ein paar anderen Seiten:

1. Versteckte Schönheit

Staubspinnennetz
Flechtenmuster

Bevor wir irgendwann den schönsten Nuraghen der Insel krönen und es uns ad hoc mit allen anderen nuraghenbeheimatenden Orten der Insel verscherzen, treten die Nuraghen in ganz neuen Disziplinen gegeneinander an. Zum Beispiel „schönstes Staubspinnennetz“ – „interessantestes Flechtenmuster“ – „Beliebtheit bei Eidechsen“ – „Bekletterbarkeit“ – „verwendetes Baumaterial“ – „merkwürdigstes Steinfenster“ …

2. Findbarkeit

Hinter Stachelhecken
Touristenabschreckung?

Nuraghen sind generell extrem gut darin, sich zu verstecken. In Wäldern, hinter Büschen oder Hecken. Viele Nuraghen „leben“ auch heute noch unterirdisch und biedern sich dem Reisenden überhaupt nicht an (was sie dem Skeptiker wieder sympathisch machen dürfte). Wer das Glück hat, einem Nuraghen ganz allein zu begegnen, könnte bei schönem Wetter ein Schläfchen an seinen Wänden machen und ein paar tausend Jahre Weltbewegung ganz in Ruhe in sich aufnehmen.

3. Fremde Einflüsse

Nuraghen haben extrem viel erlebt. Drei- bis viertausend Jahre Einfluss von Menschen, Tieren, Klima und fremden Völkern sind in den Steinen gespeichert. Allein die vielen Menschen, die bereits in ihnen gelebt haben, geben Anlass, sich zu überlegen, was sie wohl erlebt haben. Wer ist vor uns diese Stufen des Turms heraufgegangen (vermutlich ein Tourist aus Mailand oder Leinfeld-Echterdingen, aber es schadet nicht, noch diverse Jahrhunderte weiter in der Fantasie zurückzugehen)? Ist diese Nuraghe wirklich komplett alt oder hat man ihr eine falsche Kuppel verpasst, damit sie schöner aussieht? Wieviele Nuraghen kann man in einem einzigen Sommer besuchen? Wer findet alle Nuraghen im „Valle dei Nuraghi“?

4. Nuraghenhugging

Eins mit dem Nuraghen
Hug in der Sonne

Wir sind verrückt danach. Wir würden gern alle sieben- bis achttausend Steinhaufen umarmen. Der bisher längste Nuraghenhug (auf der Schattenseite) dauerte knapp zehn Minuten, bei einem anderen fühlte sich der Hugger wie eine Pizza, die langsam auf einem heißen Stein durchgebacken wird. Auf jeden Fall eines der interessantesten Erlebnisse auf einer Sardinienreise. Wer auch immer einen Nuraghen umarmt hat – möge es uns wissen lassen!

5. Tiefe Fragen an Nuraghen

Allein weil es sich reimt, kann man Nuraghen viele Sachen fragen. Die erste, vielleicht aus Höflichkeit: „Ist erlaubt, einzutreten?“ Die Antwort darauf wird möglicherweise einsilbig ausfallen. Wenn überhaupt. Das schwarze Schaf ist gern bereit, eingesandte Fragen an die nächste besuchte Nuraghe zu stellen und inklusive Antwort hier zu veröffentlichen.

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Weitere Informationen zu Nuraghen: http://de.wikipedia.org/wiki/Nuraghe
Nuraghenkultur erklärt in italienischer Sprache: http://www.sardi.it/sardegna/nurag1.htm

3 Comments

  1. Fede

    3. August 2016 at 09:18

    Wie cool ist das denn geschrieben?!!! Ich bin seit meiner Kindest auf Nuraghen herumgekettert und jetzt tu ich das mit meinen Kindern. Am liebsten habe ich die verwilderten Einsiedler zu deren man sich erst durchkämpfen muß…♡

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  2. Udo aus der Schweiz

    29. Juni 2017 at 16:40

    ganz schöne Geschichte… 🙂 Auch ich geh jedes jahr auf die Suche nach schönen Nuraghen oder deren Resten, gerne die kleinen und Mittelgrossen abseits gelegenen. Dazu hab ich auch alle (fast alle) 7000 „Resten“ auf dem WanderNavi.
    Wenn, ja wenn doch die dummen Zäune und Privatschilder nicht wären 🙁 . Ich bräucht dringend eine EU Sonderbewilligung zum besuch jeder Nuraghe . Abgelegen Pozzo , Tomba Giganti oder Domus de Janas haben auch ihren ganz speziellen Reiz auf mich,,,
    Magisch anziehend 🙂

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  3. Hanna

    7. März 2022 at 10:40

    Auch ich bevorzuge die alten Stätten, ohne Wärter, Führung. Eintrittspreis und lärmende Touris.
    Klappt von Oktober bis April fast immer.
    Manchmal sind die 3 übrig gebliebenen Steine schon sehr enttäuschend, aber manchmal auch grandios – abhängig von der Umgebung.
    Hier an der Ostküste haben wir leider nicht soviel davon.
    Umarmt habe ich noch Keinen. Werde ich mal testen.

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