Sardinien. Eine Insel mit über 1.800 km Küste und Buchten, die man kaum alle in einem Leben besuchen kann. Bilder von türkisfarbenem Wasser und der Sonne über dem Meer.
Urlaub, Glück, Sommer, Strand, Party. So kennt der Tourist Sardinien. So wird das Bild immer wieder und immer gern gezeichnet. Und es stimmt auch – aber nur zu einem Teil.
Blicke ins tiefe Innere der Insel (hier buchstäblich, an der Quelle Su Gologone bei Oliena)
All diejenigen, die hier leben, die hier ihre Familie haben, die das ganze Jahr und das ganze Leben hier sind, die ihren Alltag hier verbringen, lieben ihre Insel über alles.
Aber sie kennen auch das genaue Gegenteil des obigen Bildes: Eine Insel mit mehr Land als Meer, herb, rauh, schroff, stürmisch. Verwegen, verwittert, verfallen. Karg, steinig, einsam.
Und in ihrem Inneren so weit weg vom Meer, dass man an so manchem Ort glauben mag, es gebe gar keins.
Baia Sardinia im stürmischen Herbst
Ganz ähnlich sind denn auch ihre Bewohner, die Sarden. Stolz. Stark. Eigenwillig. Kantig. Ehrlich. Bodenständig. Melancholisch. Ruhig. Naturverbunden. In sich gekehrt. In einigen Orten aber auch skeptisch, zurückhaltend, oder gar griesgrämig.
Die Sarden (wenn man sie denn überhaupt so verallgemeinern und zusammenfassen kann) sind ein Inselvolk – und doch wieder keines.
Kaum einer, der nicht dort wohnt, geht im Winter ans Meer. Ja oft verlassen selbst die aus den Küstenorten nicht einmal ihre Häuser, wenn sie nicht müssen. Da trifft man immer wieder dieselben Gesichter auf den Straßen und in den Bars. In letzteren verbringen manche mehr Zeit, als vielleicht gut tut. Ein Spaziergang am Meer wäre vielleicht die bessere Alternative.
Nur im Sommer schnappen sich die Sarden manchmal die ganze Familie und den halben Hausstand und fahren an den Strand. So richtig oft kommt das allerdings nicht vor.
Der „Bilderbuch-Sarde“ ist ja aber sowieso für viele der in Einsamkeit lebende Schäfer.
Merkwürdig wird’s dann, wenn die Inselgäste hoffen, ihm in San Teodoro oder Porto Cervo über den Weg zu laufen und so à la Disneyland ein wenig Originalität zu erhaschen …
Am besten noch hat ebendieser Schäfer mit seiner Herde die traditionelle Wanderung aus den Bergen in die fruchtbaren Ebenen hinter sich gebracht und schaut nun sehnsüchtig-verträumt von einem Hügel auf das Meer. Dann ist für viele die stereotype Welt wieder in Ordnung.
Doch wer hat heute noch eine Schafherde? Und wer von diesen wenigen hat sie nicht eingezäunt, sondern zieht damit heute noch in Richtung Meer?
Wie viel Insel ist Sardinien eigentlich – unabhängig von der Tatsache, dass Wasser drum herum ist? Wenn wir das Wort „Insel“ als „isoliert“ oder „eigen“ verstehen, dann doch sehr viel.
Schafe auf der Straße: Das ist Sardinien. Aber nicht in Porto Cervo.
Der „typische Inselbewohner“ jedenfalls hat viele neue Gesichter bekommen und ist weniger vom Meer als von der Vergangenheit geprägt (die wiederum mit dem Dasein als abgelegene Insel zu tun hat).
Die vielen Sarden, die in der anhaltenden Wirtschaftskrise die Insel verlassen, um auf dem Kontinent zu studieren oder Arbeit zu finden, oder diejenigen bleiben, um ihr Glück zu versuchen, und scheitern – die Insel ist leider auch voll (oder eben nicht mehr so voll) von Menschen, die wenig Glückseliges, Freudiges oder Traumhaftes zu berichten haben.
Auch die Vergangenheit ihrer Familien lässt bei vielen Traurigkeit aufkommen. Die Landarbeit im Inselinneren war hart und die Entbehrungen, die ständige Präsenz des Todes von Mensch und Tier haben sich in die Gesichter der Menschen wie eingemeißelt.
Zu der sardischen Geschichte gehören außerdem über die Jahrhunderte der Verlust von Heimat und Identität, die Besatzung und die Fremdbestimmtheit.
Das Inseldasein als strategischer Posten im Mittelmeer hatte über eine sehr sehr lange Zeit hauptsächlich Nachteile.
So verdrängt man das bis zu einem gewissen Grad erfolgreich, versucht das Beste aus dem Leben zu machen und mit dem glücklich zu sein, was man hat.
Das wiederum ist eine der besten und hervorragendsten sardischen Eigenschaften: Zufriedenheit. Das Glück in den kleinen Dingen suchen und finden. Damit zufrieden zu sein, eine halbe Ewigkeit am selben Ort zu leben und zu wirken.
Eine Eigenschaft, die jeder Tourist sofort lernen, mit nach Hause nehmen und dort so lang wie möglich bewahren sollte.
Je jünger, desto eher konzentrieren sich die Bewohner Sardiniens auf das Dasein im Jetzt und Hier.
Und dieses „Hier“ ist eben in den meisten Fällen ein Dorf oder Städtchen im Hinterland. Oder eine Stadt, in der es Arbeit gibt. Sind Freunde und Familie. Werte, die wir längst vergessen haben.
Sarden wohnen gern im Hinterland. Dieser Abend in Seui gibt ihnen recht.
Eher selten wohnen Sarden in einer hübschen Villa mit Meerblick. Das gönnen sich die, die von außerhalb kommen, die hierher auswandern – in das vermeintliche Paradies.
Es sind nur wenige, die ihre neuen Zelte mitten unter „normalen“ Wohnverhältnissen aufschlagen. Wer das tut, oder wer genauer hinsieht, dessen schönes Bild der Alten, die einander auf dem Dorfplatz Geschichten erzählen, bekommt bald einen grauen Anstrich.
Die alten Männer träumen nicht vom Meer, sondern erinnern sich an die ganze Härte des Lebens. Sie sind müde geworden. Was bitte, das Meer? Das gibt es hier nicht. Da war ich vor dreißig Jahren zum letzten Mal. Wenn überhaupt.
Sardiniens Geschichte, bewegt und nicht immer einfach
Viele alte, aber auch junge Menschen auf der Insel tragen eine gewisse Melancholie der verlorenen Träume in sich.
Ein wenig desillusioniert, aber niemals mutlos, versuchen sie, aus dem, was ihnen zur Verfügung steht, das Beste zu machen.
Ok, sie werden dabei nicht selten ausgebremst: Der Alltag, die Bürokratie, die Politik … Da wird von jung bis alt natürlich kräftig lamentiert und polemisiert, was das Zeug hält. Da kann der Sarde den Italiener in sich nicht verbergen.
„Sardinien ist nicht Italien.“ Politisch ja, seelisch nein.
Apropos Italiener: Das Festland hat die Küste und das Meer ja eh in Beschlag genommen.
Da findet die sagenhafte sardische Gastfreundschaft ein jähes Ende, wenn der Betreiber des Hotels ein Kontinental-Italiener oder gar ein Ausländer ist, und seine Türen von Oktober bis Ostern schließt, weil anderswo mehr Geld zu holen ist.
Da sterben im Nordosten ganze Orte aus, und nur vereinzelt trifft man auf Leben.
Für die Nebensaison-Reisenden hilft da nur, dorthin zu fahren, wo Sarden leben und arbeiten – ins Inselinnere. Dort öffnen viele kleine Hotels und Restaurants allein deshalb, weil es die einzige Einkommensquelle für die Eigentümer ist. Die oft mit viel Liebe und Hingabe geführten Hotels zu unterstützen, ist sicher eine gute Tat.
Doch vielen Bewohnern der Inseldörfer scheint eine gewisse Skepsis gegenüber allem was fremd ist, angeboren zu sein. Und dazu gehört immer noch der Tourist. Besonders der, der zu den Jahresrandzeiten hier aufschlägt.
Diese angeborene Skepsis aufzulösen, ist sicher Aufgabe des Reisenden. Mit Freundlichkeit, Respekt und Interesse.
Einige Regionen und Orte am Meer und die Küste liegen wie in einem Winterschlaf und sind sich selbst überlassen – und das ist vielleicht auch gut so.
Um das Leben zu finden, wende dich nach innen. Sehe in die Häuser, in die Dörfer, in die Städte, in die Inselmitte.
Kaum lässt man die Küste im Rücken, trifft man schon wenige Kilometer vom nächsten Meerblick entfernt, auf Bauarbeiter, Verkehrspolizisten, Spaziergänger, Mütter mit Kinderwägen, Busse mit Schulkindern, Omas mit Einkaufstüten, Väter, die ihre Sprösslinge zum Sport bringen und dann in den Baumarkt fahren, Leute die in der Postfiliale Schlange stehen oder zum Amt müssen …
Kurz: Man findet das Leben, das mit dem Strandtourismus und der Tatsache, dass Sardinien im Meer liegt, nichts zu tun hat. Und das so oder so ähnlich auch in Mailand oder Kassel oder Bremerhaven stattfindet.
Ganz viele Bilder auf Sardinien haben mit dem türkisen Sonne-Strand-Traum aus den Reiseführern wenig bis gar nichts zu tun.
Wer also das „wirklich wahre und echte und authentische Sardinien“ kennenlernen will, tut gut, sich auch örtlich etwas vom Reiseführer-Bild weg zu bewegen.
Das Hinterland: Voller Überraschungen, wie hier in Masullas
Aber dann, in der nächsten schrummeligen Dorfbar sagen Dir die Leute, was Du über die Insel wissen musst.
Nämlich, dass sie in ihrem Inneren wahnsinnig viele Schätze verbirgt.
Dass sich ganz in der Nähe eine riesige Grotte, legendenumrankte Berge, ein besonders sehenswerter Nuraghe, ein riesiger Stausee und kleine Flüsschen zum Angeln befinden.
Dass im nächsten Ort ein Kunstmuseum ist, und in die andere Richtung ein Wildpark und ein botanischer Garten.
Dass im Nachbardorf eine alte Wassermühle steht, und eine alte Villa aus der Jahrhundertwende. Eine verlassene Mine, ein Wanderpfad, der zu einer alten Burg führt.
Dass am nächsten Samstag im Dorf ein großes Fest gefeiert wird, mit einem traditionellen „pranzo al pastore“, einem Mittagessen der Hirten.
Und dass eine Gruppe junger Escursionisti eine ganz tolle Wanderung in eine riesige Grotte in einen Berg, unternehmen wird, die am Mittag von einem Lichtstrahl erhellt wird.
Doch, Vorsicht: Wenn man ein paar Tage in der Inselmitte verbringt, nimmt Sardinien den Reisenden noch mehr für sich ein. Die Möglichkeiten beginnen, unendlich zu werden. Und man wird immer wieder auf die Insel, die an vielen Orten gar keine zu sein scheint, zurückkehren müssen.
Sardiniens Inneres ist voll von Überraschungen und sehens- und erlebenswerten Kleinigkeiten, die kein Reiseführer kennt und die auch nicht am Strand stehen.
Entdeckt die Insel auch dort, wo sie gar keine ist! Man lernt schnell, dass man das Meer gar nicht unbedingt braucht, um glücklich zu sein.
„Es gibt Plätze in den sardischen Bergen, die lassen Dich vergessen, dass es ein Meer gibt“, sagte ein guter Freund.
Und er hat recht.
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luna sarda
14. Oktober 2016 at 22:32Sehr gute Beschreibung dieser wundervollen Insel – hätte ich nicht besser ausdrücken können. Wir leben seit etwa 10 Jahren im Südosten von Sardinien, kennen die bürokratischen Hürden sehr gut und lieben diese Insel trotzdem über alles.