Teti kennt nicht mal jeder Sarde. Als ich einer Freundin, die aus Arzachena stammt, erzähle, wo ich an diesem Wochenende hinfahre, guckt sie mich groß an. Nie gehört, sagt sie. Ernsthaft jetzt?!
Komisch eigentlich, denn hier liegt vermutlich die Wiege des sardischen Volkes. Warum, dazu gleich määähr. Denn erstmal muss ich da ankommen. Zwei Stunden ab Olbia klingen einfach. Doch zumindest die letzten 30 Kilometer nach der Abfahrt bei Ottana von der Schnellstraße SS 131 haben es in sich: endlose Land- und Provinzstraßen mit engen Kurven, nicht in allerbestem Zustand. Vorsicht wegen freilaufender Tiere. Langsam fahren. Laaaaaaaaaaaangsaaaaaaam.
Das 700-Seelen-Dorf Teti liegt zugegeben sehr weit in der Inselmitte, in der Barbagia, hinter dem Lago di Cucchinadorza. Der wiederum eine kleine Perle ist, die ein Staudamm in das Tal zauberte. Heute hängt er ein bisschen unter Wolken, aber schön ist der trotzdem, wie die Hänge und das Wasser ab und an von der Sonne angestrahlt werden. Das obige Handy-Foto ist zu dunkel und untertreibt maßlos! Über die Energieanlage der Enel kann man gut hinwegsehen, bzw. daran vorbeiwandern.
Für Teti selbst sind die drei »sch« der Inseldörfer eine gute Beschreibung: schmucklos, schlicht und trotzdem schön.
Ich bin hier zum »Autunno in Barbagia«, zum Herbstfest in der Barbagia, und bin gespannt, was mich unter dem Motto »Sos Iscusorzos« erwartet.
Hier sind wir so weit im Zentrum der Insel, dass es wie eine andere Welt wirkt. Auf den ersten Blick erkennen wir nichts, aber auch gar nichts, was an das moderne Leben erinnert. Es dauert sogar ein ganzes Weilchen bis uns der erste Teenie mit Smartphone begegnet. Sollte hier die Welt noch in Ordnung sein?!
So gesehen frage ich mich, was ich hier suche – und finden könnte. Ich will wissen, was das Leben hier lebenswert macht, wie man Feste feiert und was für ein Schlag Mensch hier wohnt.
Ich bin plötzlich wieder die Marketing- und Werbe-Mieze, die ich mal war und die schon an einigen Orten dieser Welt gearbeitet hat. Ich frage mich: Wie geht das, wenn man nur mit sich selbst beschäftigt ist? Wenn man keine Karrieremöglichkeiten hat? Wenn man seit Jahrhunderten nur sich selbst und die immer gleichen Familien, die immer gleichen Optionen,die immer gleichen Berufe hatte? Wenn man auch heute noch den immer gleichen Alltag hat und täglich die gleichen Leute sieht. Wenn das nächste Dorf zehn Kilometer und zwei Täler weit entfernt ist? Und dazu auch noch das Handynetz mehr weg als da ist: Wie zum Henker geht das? Was machen die Leute hier???
Das ist natürlich eine ziemlich überhebliche Sicht auf die Welt. So als wäre Hamburg oder Berlin automatisch besser, lebenswerter und glückverheißender.
Natürlich ist man in Teti darauf angewiesen, dass das, was man hier findet, ausreicht für das Glück und das Leben.
Das vorausgedacht, ist Teti eine positive Überraschung: überhaupt nicht zurückgeblieben oder gar weltfremd.
„Sos Iscusorzos“ bedeutet die Schatzsuche. Und die beginnt direkt am Ortseingang, wo das schwarze Schaf vom Bild der Shardana begrüßt wird.
Der kulturelle Schatz dieses kleinen Dorfes ist enorm: Teti ist einer der wenigen Orte auf der Insel, an denen unschätzbar wertvolle Bronzefiguren gefunden wurden (ausgestellt im Archäologischen Museum in Cagliari).
Diese Bronzen (alle etwas 10-15 cm groß und mit einer Sicherheit für religiöse Kulte verwendet, mehr dazu in diesem Artikel) sind Darstellungen des Volkes der die Shardana, deren Krieger auf Sardinien fast als göttlich verehrt wurden.
Genannt werden sie auch „das Volk des Meeres“ – was hier, mitten in den sardischen Bergen mehr als merkwürdig scheint. Doch neben den Figuren wurden tatsächlich auch halbmondförmige Schiffe aus Bronze gefunden.
So ganz einig ist man sich übrigens in der geschichtswissenschaftlichen Welt nicht, dass die Shardana tatsächlich Sarden waren. Das wird wohl noch ein wenig dauern, bis sich diese Theorie durchgesetzt hat. Naturgemäß hält man in Teti daran trotzdem fest. Soll erst mal einer kommen und das Gegenteil beweisen.
Tipp: Die Bronzefiguren wurden im heute leider verfallenen Nuraghen-Heiligtum / santuario nuragico Abini, einige Kilometer außerhalb, ausgegraben. Wenn du hier bist, solltest du einen lokalen Guide suchen, der dir die Siedlung erklären kann. Allein ist man vor dem leider nicht gut gepflegten Komplex etwas hilflos.
Die berühmteste Bronzefigur – oft sieht man sie in Reiseführern – soll eine Darstellung des Kriegergottes Sardan, oder Sardus sein.
„Un figlio di Eracle / Ein Sohn des Herakles“, höre ich es neben mir. Der alte Grieche hatte bekanntlich viele Kinder, aber ich war erstaunt, dass er mit Sardinien zu tun haben soll. Als in der (zugegeben etwas alkoholangereicherten) Diskussion mitten auf dem Dorfplatz auch die Namen Dionysos und Vishnu fielen, steige ich aus – das ist nicht des Schafes Fachgebiet. Wobei es weiß, dass auch die antiken Riten des sardischen Karnevals ihre Ursprünge in Kulten um Dionisio haben sollen.
Eigentlich super interessant. Und hier der erste Antwort auf die Frage, womit sich die Leute hier beschäftigen: Diskussionen über Archäologie und Geschichte kann man also nicht nur in Berlin, sondern auch in Teti führen.
Das Gesicht der immens vergrößerten Statue vor dem örtlichen Pro Loco zeigt vier Augen; der Krieger trägt Schild und Schwert, hat vier Arme und einen Helm mit zwei Hörnern. Kein Wunder, dass im fröhlichen weltweiten Web dazu behauptet wird, das seien Antennen, und die Körpermerkmale wiesen darauf hin, dass es Außerirdische seien.
Aliens in Teti. Puh. Sonst noch ne bekloppte Idee?! Haben sie vielleicht Atlantis gesucht? Das soll ja auch Sardinien sein. Für heute ist mir das alles etwas zu weit hergeholt. Aber durchaus kurzweilig, dem zu lauschen.
Die Erklärung auf dem Schild am Ortseingang beschreibt viel bodenständiger drei wesentliche Elemente: das Schwert, eine tierähnliche Gestalt und einen Krieger.
Das Schwert sei heilig und ragt aus einem Schild, das dem aufsteigenden Mond gleicht; die Extremitäten gleichen dem Geweih von Hirschen und daraus erwachse eine „göttliche Persönlichkeit“.
Das Besondere der Shardana: In der sardischen Geschichte sind sie die einzigen, die nicht als Eroberer gelten, sondern als solche, die hier ihre Heimat fanden. Sie waren Vorfahren der Sarden, die in der Nuraghenzeit hier ihre Spuren hinterließen. Nicht dass sie deswegen als besonders friedliebend gelten: von Sardinien aus starteten sie Eroberungszüge, berühmt sind ihre kriegerischen Absichten gegenüber Ägypten.
Aber wie fand ein „Meeresvolk“ den Weg so weit in die Inselmitte?
Ich schwarzes Schaf ahne, dass wir hier an der Oberfläche einer irren Geschichte kratzen.
(Update 2019) – Einige Jahre später erfahre ich in der Ausstellung »Nuragica« in Nuoro mehr über die Geschichte der ersten Sarden. Hier mein Artikel über die nuraghische Kultur, die gut 7.000 Jahre alt ist »
Jetzt aber zu den heutigen Schätzen!
Die sardischen Schätze dieses Herbstfestes sind gar nicht so wenige, man präsentiert ein sehr buntes Bild. In Teti zeigt man sich vermutlich wegen der Historie auf jeden Fall sehr welt-, oder vielmehr inseloffen.
Da sind traditionelle Gruppen des Karnevals und sardische Tanzgruppen, die an einem Feuer auf der Piazza vor der Kirche den Ballo Sardo und andere sardischen Tänze zeigen. Sehr traditionell und folkloristisch, aber das macht alles nur heimeliger.
In den Häusern werden Honig, Pasta, Liköre, Masken, Schmuck, Holz- und Korbarbeiten angeboten. Einzig die Räume, in denen man einkehren und sich wärmen und stärken kann, sind rar gesät.
Da müssen ein Panino und danach ein Mirto in der örtlichen Su Zilleri / Bar reichen.
Man versteht dabei gleichzeitig, wie stark das Leben zwischen den Bergen die Menschen hier geprägt hat. Ihnen ist statt der bunten, weiten Welt der Stolz auf das Selbst der Insel geschenkt.
Interessanterweise ist ein guter Teil derer, die hier etwas darbieten, schätzungsweise um die 20, 25 Jahre alt. Da sieht man einen Teenie in Folklore-Outfit, mit Handy am Ohr. An alte Traditionen anzuknüpfen heißt also nicht, alt und weltfremd zu sein.
Sie zeigen einfach, wie das Leben damals hier oben war. Um nicht zu vergessen. Um die alten Werte zu schätzen.
Die Figuren tragen die Kleidung eines Landwirts und Hirten, und darüber Röcke oder ein schwarzes Tuch („su vreseddu“), wie es damals die Frauen trugen. Das ist ein Zeichen dafür, dass immer auch die sardischen Frauen ihren Anteil am harten Landleben hatten.
Sos maimones tragen keine Holzmasken, wie anderenorts, aber sie schwärzen ihr Gesicht mit der Kohle von Steineichen.
Die Aufführung auf den Straßen Tetis folgt dem uralten Muster des harten Landlebens: Auf einem Esel sitzt eine gehörnte Figur, deren Gesicht aus den „Ohren“ des Feigenkaktus gebaut und mit einem schwarzen Umhang bekleidet ist. Um ihn herum weitere, schwarz gekleidete und an Gesicht und Händen schwarz bemalte Figuren.
Eine Korbflasche, gefüllt mit Wein, wird an die Umstehenden ausgeschenkt. Um sich das zu verdienen, muss man an allerlei Scherzen teilnehmen – der einfachste ist, sich die schwarzen Hände im Gesicht gefallen zu lassen.
Die Gruppe geht durch das Dorf von Tür zu Tür und am Ende des Weges wird der Tod eines „Maimone“ beklagt – der aber nach langem Klagen mit „unu cicchette de vinu“, einem Tropfen Wein, wiederbelebt wird – ein Geschenk der Götter Bacchus und Dionisios und Ausdruck sogar des christlichen Glaubens, dass nach dem Tod die Auferstehung folgt.
„Sos Thurpos“ sind typische Masken aus einem Dorf, das von Teti nur 43 Kilometer aber damit locker eine Stunde Fahrtzeit entfernt ist.
Auch ihre Gesichter sind schwarz gefärbt, sie tragen einen schwarzen Umhang mit Kapuze, genannt „su gabbanu”. Die „thurpos“ erklären das ländliche Leben.
Zwei sind Ochsen, die mit einem Seil zusammengebunden sind und Glocken tragen, deren Geschell alles Böse von ihnen fernhalten sollen – denn die Tiere waren wertvoll für die Menschen in den ländlichen Gegenden, ihnen durfte nichts passieren.
Sie laufen im Galopp zusammen und werden von ihrem Hirten mit einem langen Stab im Zaum gehalten – mal sehr ruppig, mal wird der Stock benutzt, mal treten die Tiere nach hinten aus und zurück.
Andere Figuren tragen einen Holzkasten oder die „Tiere“ ziehen einen Holzpflug hinter sich her. Sie alle symbolisieren das Landleben im Inneren Sardiniens.
Fröhlich geht es auf jedem Fest in der Barbagia zu. Da wird gesungen, gelacht und – getanzt. Immer beginnt es mit dem „Ballu tundu“ – einen Rundtanz, bei dem alle mitmachen und der ein kleines bisschen an den irischen Riverdance erinnert, nur nicht so schnell und in einem anderen Takt.
Sobald die ersten Klänge auf der Piazza ertönen, fängt irgendjemand an, sich einzuhaken und dann geht es los. Das schwarze Schaf sucht dann immer das Weite – es hat bis heute nicht gelernt wie die korrekte Schrittfolge geht. Es ist wohl einfach taktlos … 😉
Der nächste, den ich beobachte wird von fünf Paaren gezeigt. Sie stehen nebeneinander in einer Reihe, nacheinander tanzt jedes Paar voraus, macht ein paar Drehungen und stellt sich in der Reihe wieder hinten an.
Sind alle durch, tanzt man nach vorn, zur Seite, um dann wieder in einer Reihe zu enden. Immer nach den kleinen polyphonen Klängen des Akkordeons, das die sardische Musik so prägt und weithin erkennbar macht.
Eine Gruppe zeigt die „Höchstschwierigkeit“ – Tanz und Gesang gleichzeitig. Die Herren singen die Melodie und einen sardischen Text, und tanzen mit den Damen in einem kleinen Kreis.
Zu guter Letzt gibt es den “Ballu a Ifferrere” – ein traditioneller Tanz aus Teti mit Gesang vor dem Feuer. Erstaunlich – fast nur die Jungen tanzen mit und lassen uns wieder wissen, dass die alten Traditionen auch ein geschätzter Teil des Heute sind.
So beendet Teti sein Herbstfest mit Tanz und Gesang, feiert seine Schätze bis weit nach Mitternacht und sieht dabei auch ohne Karriereleiter sehr glücklich und zufrieden aus …
Ich bin Nicole und mein alter Ego ist ein schwarzes Schaf (ital.: pecora nera). Wir bloggen und blöken aus Sardinien im ganzen Jahr über alles, was uns gefällt und bewegt :)
Das schwarze Schaf hat übrigens noch ein Buch geschrieben, über seine „alte“ Heimat:
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