Viele Leser und Sardinien-Urlauber kennen den sardischen Ausspruch und seine Übersetzung: Chi venit da ‚e su mare furat / Wer über das Meer kommt, stiehlt.
Damit wollen wir heute mal aufräumen, und vielleicht sogar ein bisschen versöhnen.
Zunächst könnte sich der geneigte Tourist, der mit der Fähre – also über das Meer – ankommt, doch glatt ein bisschen angegriffen fühlen. Leise nähern sich die Stimmen, die sagen, man sei doch durchaus mit redlichen Absichten hier. Und überhaupt, man bringe der Insel ja was – das Urlaubsbudget ließe man ja da … Geld ist nicht alles, das wirst du auf Sardinien bald merken. Die Einwohner ticken hier – zum Glück – ein bisschen anders.
Und ebenfalls zum Glück ist auch der Spruch oben sehr alt. Er hat seine historische Berechtigung (weil tatsächlich viele Besatzer per Schiff ankamen), ist heute aber kein Grund zur Aufregung: Wir Nicht-Sarden nehmen tausend Eindrücke und Erlebnisse mit aufs Festland – und die sind allesamt »unstehlbar«.
Und die Sarden? Ihnen wird nachgesagt, sie hätten ihre Probleme mit dem Meer. Auch das will sich uns beim genauen Hinsehen nicht bestätigen.
Sicher, da sagt ein sardischer Freund I monti ti fanno dimenticare il mare / Die Berge lassen Dich das Meer vergessen. Und er hat in gewisser Weise recht. Da gibt es wirklich Orte, die so unsagbar schön sind, dass es auch uns immer wieder dorthin zieht.
Aber dann sind da die Momente im Supramonte, in denen man über eine Kuppe wandert und in einem Winkel aus ewigem Gestein das Meer sichtbar wird. Da muss selbst der Bergmensch zugeben, dass der Anblick des weiten Wassers einfach nur wunderschön ist.
Denn, seien wir ehrlich: Ohne das Meer rund um die Berge, gäbe es Sardinien nicht. Sardinien ist eine Insel. Sich auf die Hinterbeine stellen bringt da überhaupt nichts.
Und gäbe es nicht diese zerklüftete Küstenlinie, hätten es die vielen Feinde noch sehr viel leichter gehabt. Die Einigelung der Sarden in ihren Bergen wäre früher oder später vermutlich untergraben worden.
Sardinien wäre vielleicht eben keine Festung eines stolzen Volkes mit seinem immensen Schatz aus Traditionen und Natur und seiner über Jahrtausende bewahrten Kultur.
Eine Insel zu sein – und das Meer definiert das nun einmal – hat also Vorteile, wenn es darum geht, die Identität zu bewahren und sich abzugrenzen. Im Grunde kann das jeder zugeben.
Doch: »I Sardi siamo noi / Wir sind die Sarden«, sagen die aus dem Inselinneren. Das ist Stolz, das ist die Liebe zum eigenen Dorf und zum heimatlichen Territorium. Das ist ihnen wichtig, das muss gesagt werden.
Denjenigen, die am Meer leben, und hier aufgewachsen sind, fällt dazu nur ein: »Anche noi siamo Sardi / Auch wir sind Sarden«. So gehört von einer Sardin aus Arzachena, deren Familie seit Ewigkeiten auf der Insel wohnt. Sie geht mit ihrer Familie ans Meer und die Kinder spielen am Strand, sie liebt den Blick von den galluresischen Hügeln hinüber nach Korsika, über die Meerenge Bocche di Bonifacio. Ihre Großeltern waren schon an der Costa Smeralda, lang bevor der Aga Khan sie zu einem riesigen VIP-Bereich umbaute.
Oder da ist der alte Fischer aus Torregrande. Ein Sarde, der sein Leben keinen Berg gesehen hat. Das Meer war sein Begleiter. Bis vor einem Jahr fuhr er noch hinaus mit seinem kleinen Boot. Heute, nicht mehr ganz so fit, sitzt er trotzdem jeden Tag am Golfo di Oristano und guckt einfach nur.
Sie alle sind Sarden, und sagen das eher mit einem müden Schulterzucken.
Leben und leben lassen ist ihr Motto. Gut so.
Die Inselgäste verstehen eine solche Diskussion nur selten. Ihnen ist schon längst klar, dass das Meer eine gute Sache ist. Wer Sardinien im heißen Sommer besucht, freut sich so richtig über die Abkühlung im nassen Element und hat gar keine Vorstellung, wie es ohne gehen soll. (Geht aber.)
Denn wo soll man denn sonst Beachpartys feiern oder mit einer Flasche Wein in die untergehende Sonne gucken? In Stein spiegelt sich der Feuerball nunmal leider nicht.
Kleine Anmerkung vom schwarzen Schaf: Im Supramonte, wenn die Bergketten in weiche rosarote Farbtöne getaucht werden, sind die Sonnenauf- und untergänge mindestens genauso schön.
Ach, sagen wir es einfach so: Die madre terra / Mutter Erde, reicht nunmal genau bis zum Meer und ist selbst an vielen Stellen mit ihm Freund geworden. Warum also das schönste Blau der Welt zum Feind erklären, wenn man so schön mit ihm leben kann?
Was ist das also, mit den Sarden und ihrem Meer?
Kurioserweise waren ja die Shardana, die für viele als die Begründer der sardischen Kultur gelten, auch ein popolo del mare / Volk des Meeres. Aber auch sie hat es ins Inselinnere gezogen. In Teti (und viel weiter kann man nicht in die Inselmitte vordringen) fand man die meisten Spuren dieser Krieger. Sie haben – im Gegensatz zu anderen – nicht gestohlen, sondern die Insel kulturell bereichert.
Insgesamt ist an dem Spruch heute relativ wenig dran. Geblieben ist wohl, dass es die Sarden aus den Bergen selten hinunter an die Küste zieht. Und wenn doch, kehren sie immer wieder zurück in ihr Heimatdorf.
Und es zieht die wenigsten auf eine Fähre, um auf den Kontinent oder in die weite Welt zu fahren. Und wenn doch – richtig – kehren sie immer wieder zurück. Weil sie sich eben so wohl fühlen auf Sardinien. Alles durchaus verständlich.
Wir treffen einen der wenigen Fischer, die es noch in Cagliari gibt. Er arbeitet im Frühling als Schafscherer – auch schon bezeichnend – und hat nebenher noch einen Job als Mechaniker.
Er und sein Sohn fahren zweimal wöchentlich hinauf aufs Meer. Und dann – eine sensationelle Geschäftsidee, wie er meint – mit dem Fang ins Hinterland, um den Fisch dort zu verkaufen.
Eigentlich echt eine gute Idee sagen wir und sind gleich hell begeistert – denn in Aritzo, Fonni oder Samugheo gibt es natürlich keine Fischhändler und damit auch keinen Fisch (oder nur Forellen aus irgendwelchen Bächen, aber auch die fangen nur wenige).
Er gibt zu, dass der Anfang recht schwer war, weil niemand etwas mit dem Meeresgetier anfangen konnte. Das sei ein Kulturwandel gewesen, den er da geschafft hat. Ganz unbescheiden sagt er das, und wir wissen, dass er recht hat. Der alte Spruch, was der Bauer nicht kennt das isst er nicht, scheint auch hier zu gelten.
Dann aber kam seine Nonna / Großmutter ins Spiel, die eigentlich aus der Barbagia stammte. Sie war irgendwie nach Cagliari verheiratet, manchmal fällt die Liebe halt dummerweise irgendwohin. Wann immer sie aber ihre Familie besuchte, nahm sie Doraden und Thunfisch mit – und kochte sie »barbaricinischer Art«.
Der Enkel – nicht dumm – erinnerte sich daran, wie begeistert alle waren und lieferte fortan zu jedem Fisch ein Rezept der Nonna mitgeliefert hat. Da wurden auch die Menschen aufgeschlossener. Das habe aber solang gedauert, dass sie ihr Geschäft fast aufgegeben hätten …
Cagliari ist nur einer von vielen Orten auf Sardinien, für deren Einwohner es undenkbar ist, ohne das Meer zu leben.
Alghero, Stintino, Carloforte, Calassetta, La Maddalena, Palau, Orosei, Olbia, Pula, Bosa … die Liste geht durchaus noch lang weiter und wenn man ganz ehrlich ist, gehört auch die so untypische, künstliche Costa Smeralda dazu.
Denn überall an der Küste gibt es echte Sarden (mancherorts muss man sie suchen, das ist wahr), und heute ist auch das Sardinien.
Für viele Touristen ist sogar nur das Sardinien. Für viele Einheimische ist nur die Barbagia Sardinien.
Man ahnt: Das ist beides nicht richtig. Beide Extreme stimmen nicht.
Eigentlich macht gerade die gleichzeitige Präsenz von frischem beweglichen Wasser und ewigen hoch aufragenden Felsen die Faszination der Insel aus. Meer und Berg treffen sich auf Sardinien in Perfektion.
Auf jeden Fall hat sich das Meer behauptet. Hat sich seinen Platz erkämpft, hat seine Eigenheiten über Ewigkeiten bewahrt, hat eine stolze Position eingenommen und sich den Gästen, die von weit her kommen, geöffnet, ohne sich anzubiedern. Insofern ist es nichts anderes als ein echter Sarde.
So sehr man wünscht, dass es manche kontinental geprägten und geldschneidenden Einrichtungen nicht gäbe, so viel Leben und Schönheit ist gleichzeitig an der guten alten Küste. Sie zu ignorieren, hieße, nicht die ganze Insel wert zu schätzen.
Und dass das Meer wertvoll ist und sich lohnt, es zu beschützen, steht für uns außer Frage.
Und keine Sorge, wir vergessen nicht die Berge. Sie rufen uns schon …
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