„Am 14. Oktober ist die transumanza in Arzana! Kommst du?“ Keine Frage: Eine Herde Schafe auf der Transhumanz, dem traditionellen Weidewechsel zwischen Berg und Niederung begleiten – das wollte ich schon immer mal erleben!

Als Live-Stream habe ich die Transhumanz schonmal kommentiert, zu Covid-Zeiten. Aber virtuelles Zugucken und Kommentieren zählt natürlich nicht als echtes Erlebnis. So wie ein Fußball-Kommentator ja auch nicht auf dem Platz steht.

Mit echten Schafen auf den eigenen Hufen im Schafstempo durch die schöne Landschaft der Ogliastra laufen? Das ist genau meine Kragenweite und natürlich sage ich zu!

Mitte Oktober, Termin wird fest und mit Priorität „wichtig“ in den Kalender eingetragen.

Mir gefällt die Vorstellung, einem Haufen Schafe hinterherzulaufen

Mein Freund hingegen dehnt eines der wenigen deutschen Worte, die er kennt: „Neeeeiiiiinnnnn.“

Er habe keine Lust, Schaf-Är….. hinterherzulaufen. Und dann so früh aufstehen, am Wochenende? Nochmal: Neeeeiiiiinnnn.

Aber ich will das! Und darum liegt er noch gemütlich im Bett, während bei mir ein paar Wochen später, am Morgen des Weidewechsels, in meinem B&B in Arzana schon um halb sechs der Wecker klingelt.

Früh aufstehen ist auch nicht meins. Aber nützt ja nix. Die Schafe warten nicht.

Katzenwäsche, ab in die Trekkingklamotte, Kaffee, los. In einer Stunde treffen wir uns am Fuß des Gennargentu-Gebirges.

Eigentlich bin ich auf Sardinien nicht mehr überpünktlich, weil in 90 Prozent der Fälle eine angegebene Uhrzeit nur ein Richtwert ist und es eh erst eine Stunde später losgeht. Was ich mittlerweile sehr sympathisch finde. Wichtig ist nicht Pünktlichkeit, sondern dass alle da sind. Das ist etwas sozialer, realitätsnäher – und macht alles ein bisschen entspannter.

Aber bei Schäfern weiß man nie. Die sind oft erstaunlich präzise in ihren Abläufen.

Auch Schafe werden unruhig, wenn sie zum Beispiel nicht zur gewohnten Zeit gemolken werden. Gleichzeitig haben die Tiere einen Hang zur Unberechenbarkeit. Wer weiß das alles schon so genau?

So oder so: Ich will früh da sein, um die Stimmung einzufangen und langsam in den Tag hineinzumäandern. Der Sonnenaufgang ist jedenfalls schonmal fein für den Anfang.

Frühmorgens, noch halb schlafend einmal falsch abgebogen, werde ich mit diesem tollen Sonnenaufgang mit Blick auf das Meer und den Nachbarort Ilbono belohnt.

Weidewechsel im Gennargentu: vom kargen Berg in die grünen Niederungen

Die Transhumanz (von lat. trans / auf die andere Seite und humus / Erde) auf Sardinien hat eine sehr, sehr lange Tradition. Ging man früher 50, 60, 80 Kilometer und mehr mit den Tieren, um sie umzuweiden, werden solche Distanzen heute vielfach mit dem LkW zurückgelegt. Durchaus zum Tierwohl, bedenkt man den heutigen Verkehr. Und zu langes Laufen auf Asphalt ist für die Hufe auch nicht so toll.

Die Transhumanz des Hirten mit seinen Tieren zu Fuß ist in Europa nur noch in wenigen Regionen Italiens, des Mittelmeerraums und der Alpen lebendig – und sogar Weltkulturerbe der Unesco.

Mehr über den traditionellen Weidewechsel auf Sardinien, und was das mit Brot und Tenorgesängen zu tun hat, liest du in diesem Artikel: Auf den Spuren der Transhumanz

Die traditionelle Form des Weidewechsels lebt auch auf Sardinien nur noch in wenigen Familien – wie in der von Vincenzo Loi aus Arzana (mehr zu seiner Azienda Sa Ferrela, weiter unten). Und die heutige, „urlaubertaugliche“ Variante der Transhumanz ist etwa acht Kilometer lang. Ihr könnt das natürlich auch einfach als entspanntes Trekking, ohne Schafe, gehen – hier der Streckenverlauf auf wikiloc.

Also … Ich wär‘ dann soweit …

Ausgangspunkt: Stazione di Arzana

Die Bar hat auch in der Nebensaison ziemlich zuverlässig geöffnet. Da die Barista und ihr Freund den Laden allein schmeißen, ist Montags Ruhetag. Und wenn sie was anderes vorhaben, auch einfach mal zu.

Die Stazione di Arzana am Fuß des Gennargentu ist wirklich eine ganz feine Kulisse für diesen Anlass.

Die Herde selbst grast frei noch ein bisschen weiter höher. Vincenzo ist noch viel früher morgens aufgestanden, hat sie schon eingesammelt und bereits vier Kilometer näher an uns herangebracht.

Die Stazione di Arzana ist eine alte, hübsche Bahnstation mitten im Wald, genauer: am Parco Carmine (in dessen Schatten man auch wunderbar im Sommer picknicken kann und einige Wanderpfade starten hier).

In Sachen Zugverkehr zwar derzeit verwaist, ist hier immer noch eine aktive Bar – viele Hirten, Forstmitarbeiter und Einwohner aus Arzana, Villagrande und Lanusei machen hier morgens halt. Und viele Urlauber, eben für Escursionisti, Wanderer und Aktivurlauber sowie Motorrad- und Autofahrer auf der Durchreise.

Wir stehen nach einem schnellen caffè bei dem alten Bahnhaus am unbeschrankten Übergang. Eine zwar nicht heimische, aber sehr hübsche Platane lässt schon ihr Herbstlaub fallen … die Sonne scheint … der Himmel ist blau.

Ein wirklich wunderbarer Oktobertag!

Der Herbst hält Einzug am Gennargentu

An der Bahnstation in Arzana trudeln langsam aber sicher noch viele andere „Mitläufer“ ein.

Mitläufer …. ich muss daran denken und schade finden, dass das alles mittlerweile so eine negative Konnotation in der Gesellschaft hat. Mitlaufen mit anderen, Schafe, gar Schlafschafe, Herde …

Das war Jahrhunderte, ach was, Jahrtausende lang, nichts Schlimmes. Schafsein sowieso nicht.

Hach, es fängt schon wieder an zu philosophieren, das schwarze Wolltier. Das kann ja heiter werden.

Vorbereitung auf die Wanderung und den Weidewechsel

Vincenzo fährt mit seinem Pick-up gefühlte zehnmal zwischen dem Treffpunkt und der Weide seiner Schafe hin und her.

Der Grund ist einfach und sagen wir wie es ist: Eigentlich stören wir Touristen. Ist ja so.

Der Schäfer muss an viel mehr Dinge denken, wenn er nicht nur eine Herde Schafe zu führen hat, sondern auch noch eine Herde Menschen aller Alter- und Bewegungsklassen. Speziell, wenn diese auch noch heil und gesund unten zum gemeinsamen pranzo / Mittagessen erwartet werden.

Denn Schafe – das bestätigen mir heute mehrere, die ich frage – orientieren sich an ihrem Hirten und dem Hund. Heute auch noch an drei anderen Hirten, die sie kennen, und die Vincenzo helfen, alle sicher und entspannt nach unten zu bringen.

Der Rest (wir) ist ihnen ausnahmslos suspekt.

Die vertraute Zia kann im Blickfeld der Schafe stehen bleiben. Ich fremdes Schwarzschaf verstecke mich ein paar Meter weiter hinten an der Seite.

Schafe haben eine sehr tief verankerte Skepsis gegenüber allem, was sich in Augenhöhe bewegt. Könnte ja ein Fressfeind sein. Hinter Büschen, Bäumen und Ruinen, können sich eine Menge Säbelzahntiger verstecken!

Also erklärt man uns, dass wir bitte Abstand halten sollen.

Den Fluchtinstinkt der Tiere zu verstehen, ist relativ einfach: Schafe haben die Augen eher seitlich, so ist ihnen ein sehr weites Blickfeld gegeben, mit dem sie die Wölfe, Tiger und andere Tiere in der Nahrungskette über ihnen entdecken können.

Sehen sie einen Feind, ist ihre einzige Chance die Herde. Und deren Chance ist: Laufen!

Stehen wir dann den Schafen im Weg, kehren sie sofort um und suchen einen anderen Fluchtweg / via di fuga.

Auch, wenn sie sich irgendwo nicht sicher fühlen. Sind wir zu dicht hinter ihnen, fühlen sie sich eingeengt und bedroht. Und wenn eines eine Idee hat, wo der Ausweg sein könnte, geben alle Gas – und das relativ kopflos.

Zehn Meter. Dieci metri. Das sei der Mindestabstand.

Ansonsten sei da bei Frau Schaf nichts zu machen (ja, es sind bis auf eine Ausnahme und zwei Ziegen alles Schafdamen, die da in der Herde sind). Und es wäre ziemlich blöd, wenn eine von ihnen den Rappel bekommt und einfach mit der gesamten Herde ins Nachbardorf nach Villagrande läuft.

Ein paar Bambini und ihre Eltern scheinen die Erklärung nicht verstanden zu haben und stellen sich trotzdem direkt auf den nur wenige Meter breiten Weg. Es sei so frisch und da wäre Sonne. Seufz.

Manchmal ist einfach auch gut, ein bisschen Schaf zu sein und zu tun, was gerade angesagt ist. Wenn sich die Herde dann sicherer fühlt und vor allem tatsächlich los läuft – und eben nicht fünfzig Menschen und hundertfünfzig Schafe noch eine weitere Stunde blockiert – dann wäre das doch für alle gut.

Mensch von heute braucht aber bitte eine Extraeinladung und stellt sich nur missmutig zurück in den Schatten.

Und so zieht sich, bis Schafe, Schäfer und vor allem Gäste endlich so weit sind. Soviel zum frühen Aufstehen. Erst, als unsere menschliche Horde halbwegs unter Kontrolle ist, holt Vincenzo die Schafe.

Aber dann, endlich, höre ich Schafglocken in der Ferne!

Der Weidewechsel / transumanza in Arzana beginnt!

Los geht’s – den Schafen hinterher! Transhumanz / Weidewechsel in Arzana, 2023

Wir beginnen unseren Trek auf einer Höhe von 845 Metern über dem Meer. Gleich hinter dem Bahnübergang biegen wir auf einen staubigen Weg ein. Es hat hier ewig nicht geregnet.

Die Schafe legen ein ganz schönes Tempo vor. Und ja, man merkt schon, dass die, die ganz hinten sind, ordentlich schieben, weil wir nachkommen. Der Fluchtinstinkt.

Wir haben trotzdem Mühe, mitzukommen. Aber nach und nach spielt sich das Ganze ein.

Außer, dass natürlich immer wieder ein paar bambini in ihrer Begeisterung ganz nah an die Schafe heran gehen und ihnen auch mal auf den Hintern klopfen oder mit dem Stock schwingen …

Pfffft! Was erlauben! Finger weg! Ich meine, das Schaf deutlich zu hören, wie es sich beschwert …

„Matteo! Vieni qui! Matteo!“ Matteo hört heute den ganzen Tag nicht auf die schrille Stimme seiner Mutter. Warum bin ausgerechnet ich immer in der Nähe?

Junge nimmt am Weidewechsel in Arzana 2023 teil
Es geht auch darum, die neue Generation mit den alten Traditionen, wie zum Beispiel dem Weidewechsel, zu verbinden. Da ist definitiv Geduld gefragt.

Eigentlich wäre es ganz einfach. Man nehme ein Seil und zwei Kinder. Jedes fasst ein Ende des Seils an und man lasse sie hinter dem letzten Hirten und der Herde an je einer Straßenseite herlaufen – in ebenjenen zehn Metern Abstand. Alle anderen bleiben hinter dem Seil.

Hihihi, mein eingebauter Optimier- und Organisier-Wahn kommt schon wieder durch … vermutlich mein deutsches Berufserbe, das sich einfach nicht eliminieren lässt. Aber es wäre für alle – nicht nur für die Schafe, sondern auch für die Hirten, die Mütter und meine Ohren – entspannter.

Natürlich geht es auch anders, nämlich so, wie sie es hier machen.

Ist ja nicht so, als wären wir am Ende nicht auch angekommen. Und alle Schafe haben’s überlebt.

Im Schafstempo durch den Wald

Wir halten direkt auf ein Waldstück zu. Der Hirte wartet hier kurz auf uns.

Auf staubigen, trockenen Wegen folgen die Schafe ihrem Hirten vertrauensvoll zum Wald.

Das Problem des modernen Menschen: Wir sind vergleichsweise langsam, denken nicht an die Herde und machen, was wir wollen. Im richtigen Leben mag das manchmal okay sein. Hier halten wir den Betrieb auf und sind zu egoistisch.

So dauert es einen Moment, bis wir alle aufgeschlossen haben. Und sind dann wieder zu nah an den Tieren. Zehn Meter! Jaaaaa …

Hier am Waldrand halten einige aus dem Dorf ein paar Tiere wie Hühner und Pferde oder haben einen kleinen Gemüsegarten.

Besseres Klima hier oben, sagt ein Herr, der neben mir läuft. Auch wenn es in diesem Jahr sehr, sehr trocken sei. Aber zum Glück gäbe es überall im Gennargentu Quellen und Frischwasser. Zwar auch ein paar weniger und spärlicher als sonst, aber immer noch da.

Zwei Ziegen und ein paar schwarze Schafe sind auch da …

Er erzählt mir noch, dass er jahrelang in der Nähe von Stuttgart gearbeitet habe, und spricht Deutsch mit mir. Mein Akzent im Italienischen ist immer noch unverkennbar. Ich nehme mir vor, daran zu arbeiten. Gleichzeitig muss auch er auf Biagio, den kleinen Sohn von Vincenzo aufpassen. Der geht öfter mal in Richtung Schaf stiften.

Wir laufen und reden weiter und so nach ein, zwei Kilometern hat sich das Ganze eingegrooved. Es ist ein schönes, vorwärtsgerichtetes Trekking-Tempo auf klaren Wegen.

Die Sonne scheint durch die Wipfel der hohen Bäume. Ich erlebe für mich schon zu Beginn der langen Wanderung einen der schönsten und ruhigsten Momente des Tages.

Ein herrliches Idyll …

Wenn Leute mir sagen, dass es ein Traum sein muss, auf Sardinien zu leben, haben die meisten ein ganz anderes Bild vor Augen als ich. Bei mir ist es aktuell genau dieses mit den Schafen im Wald.

So sieht mein Sardinien-Traum, oder vielmehr: die Realität, aus.

Der Weidewechsel als kulturelles Trekking

Sardinien ist für mich all das, was nicht in den landläufigen Reiseführern steht (in meinem eigenen übrigens schon 😉 aber das nur am Rande). Das, was nicht türkisblau und rosarot ist. Sondern beige, grün, braun und ein bisschen azurblau. Natur eben.

Das Meer, ja, das ist leicht zu lieben. Ich bin ja selbst Seglerin und zwischen den Meeren in Schleswig-Holstein geboren. Also kann ich das gut verstehen. Das Meer war und ist in meinem Leben immer da. Eine Konstante.

Aber Sardinien ist anders und wird eben erst so richtig wahr abseits des Meeres.

Hier und jetzt mitten im Wald, vermisse ich das Wasser nicht (außer das von oben, es hat ewig nicht geregnet – Klimawandel lässt grüßen). Der Staub, den die Schafe aufwirbeln, ist mir dennoch gerade lieb, weil er eine ganz eigene Stimmung zaubert.

Die Insel ist hier höher und tiefer zugleich. Kurios eigentlich: Erst auf einer Insel im Meer habe ich die Berge schätzen gelernt.

Der Weidewechsel als Kulturgut: Heute erlebe ich Sardinien in seiner ganzen Tiefe und Höhe.

Und auch den Wert der überlieferten Traditionen – sowohl meiner zweiten, neuen als auch der ersten, alten Heimat.

Oft muss man ja auch weggehen, um den Geist richtig zu öffnen und mit einem versöhnlichen Blick zurückkehren. Und das, was vielleicht mal zu alltäglich war, erst richtig schätzen zu können.

Nicht, dass es mir bei Traditionen um verkopfte, konservative Wertgefüge ginge, die dazu dienen, sich abzugrenzen. Im Gegenteil.

Mir geht es um eine innere Verbundenheit und darum, andere hereinzulassen und von dem eigenen Schatz zu erzählen. Egal, innerhalb welcher nationaler Grenzen sich der befindet. Und zuzuhören, was die anderen von sich erzählen.

Kultur ist immer ein UND.

Mir persönlich geht es so gesehen um den Pecorino UND um die Pfeffermakrele. Um das stoische Deichschaf (und seinen ebensolchen Einheimischen) UND das flüchtige Bergschaf. Um die Fischerkultur an der Ostsee UND den Weidewechsel im Gennargentu. Um die ländliche Hirtenküche nördlich UND südlich der Alpen.

Wo Gemeinsamkeiten sind, kann man das UND feiern. Wo Differenzen sind, kann man es neugierig erkunden.

In der heutigen Herde sind Schafe UND Ziegen. Warum trennen, was auch zusammen laufen kann?

Jede Kultur hat ihr Warum. Und wenn Menschen, egal woher sie stammen, sich über ihre Kulturen verbinden, ist das eine gute Sache. Heute müssen oder wollen Leute ihre Heimat aufgeben. Und natürlich nehmen sie ihre Kultur mit. So wie ich meine mit nach Sardinien genommen habe, aber auch die, die ich vorgefunden habe, schätzen lernte und mich mit ihr verbinde.

Das ist völlig normal und bestimmt unsere Welt schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte, seit Menschen über die Kontinente wandern.

Genau deswegen mag ich übrigens auch das Unesco-Weltkulturerbeprogramm so sehr – und der Weidewechsel im Mittelmeerraum und den Alpen ist ein Teil davon. Schaut gern mal hinein, auf dieser interaktiven Karte findet ihr viele spannende, miteinander verbundene Kulturen und Traditionen. Die Darstellung verzichtet bewusst auf nationale Grenzen.

Ich verbinde mich heute zum wiederholten Mal untrennbar mit Sardinien. Mit dem, das ganz viele Menschen nie kennenlernen. Und es fühlt sich immer noch richtig an.

Wenn es sich nicht lohnt, dafür früh aufzustehen, wofür denn dann?

Wir laufen und laufen …

Sie laufen und laufen und laufen … und wir mit ihnen!

Ich beobachte die wolligen Tierchen und bin sehr dankbar, dass ich hier bin und das erleben darf.

Das Dorf Arzana und der Weidewechsel

Wir erreichen langsam aber sicher das Dorf Arzana. Jetzt wird’s spannend!

Ich schaffe ja kaum mit dem Auto den direkten Weg durch den Ort (wahlweise jedes andere, sardische, wuselige Dorf) zu finden. Wie genau soll das mit Schafen gehen?!

Gerade am Anfang, von oben aus den Bergen kommend, sind die Straßen nicht wirklich eingängig. Aber na klar wissen die hier, wo es lang geht.

Tolle Ausblicke, immer wieder, ab und zu sieht man auch das Meer.

Mitten durchs Dorf!

Aus den Häusern blicken ein paar Leute. Hier ist es aber irgendwie ganz normal, wenn eine Herde Schafe durch den Ort rennt.

Man wundert sich nicht über die läutenden Glocken, die da durchs Dorf schallen.

Schafe im Dorf: Woher wissen sie, wo es lang geht?

Doch hat man das von ganz am Anfang, mit dem Fluchtinstinkt verstanden, ist relativ einfach nachzuvollziehen, wie die Hirten die Herde genau dort entlang losten, wo sie sie hin haben möchten.

Der Vorausgehende ruft sie, und die anderen stellen sich an Kreuzungen in den Weg, so dass die Schafe automatisch den richtigen Abzweig nehmen.

Laufen die Schafe doch mal falsch, reicht, wenn Vincenzo sie laut ruft oder pfeift. Dann wissen sie: Oh, da wohl nicht entlang! und nehmen den anderen, von ihm gezeigten Weg.

Woher sie das wüssten, frage ich ihn später, als es wieder einfach nur auf einer engen Straße geradeaus geht.

Sie wissen das schon seit Generation, das geben die Tiere untereinander weiter. Er hätte es ihnen jedenfalls nicht beigebracht. Außerdem kennen sie den Weg.

Weidewechsel: Die Schafe wissen, wo es lang geht!
Die Schafe scheinen wirklich immer zu wissen, wo es lang geht. Ist ja auch ihr Zuhause.

Das klingt, als müsse er gar nichts machen. Als würde sich die Herde quasi selbst durch den Ort bringen.

Ich wette trotzdem, niemand von uns würde das so hinbekommen, geschweige denn die Schafe an ihren Bestimmungsort weiter unten in der Ebene bringen!

Flashback !

Rückblick Transhumanz und Weidewechsel April 2020

Kleiner Blick zurück in Covid19-Zeiten. Drei Jahre ist das jetzt schon her. In dem Moment sind wir in dieses unvorhergesehene Ereignis hinein gefallen und jeder hat so reagiert, wie es den Umständen entsprechend ging. Der Moment hat jede/n auf die ein oder andere Weise mitgenommen. Hat die Welt verändert. Hat uns verändert. Hat gesellschaftliche Gefüge infrage gestellt.

Ein Ereignis hat trotzdem stattgefunden – aus schlichter Notwendigkeit: der Weidewechsel, transumanza.

Ein Buch ist darüber veröffentlicht worden, mit einer zugleich einfühlsamen und informativen Beschreibung der historischen und agrarwirtschaftlichen Bedeutung sowie der emotionalen Tragweite im Jahr 2020 während des Lockdowns.

Ein wichtiges Zeitdokument, das Buch „Transhumanza“ mit Fotografien von Anna und Fabrizio Piroddi. Das schwarze Schaf konnte vor Ort eines der Exemplare ergattern.
In der Stille der verwaisten Orte …
Schafe und Hirte gehen allein durch das Dorf

Am Gebäude der Comune di Arzana

Zurück ins Heute.

Auch heute rennen die Schafe an der Comune di Arzana vorbei. Der Büüüührgermeister will begrüßt werden!

Dem aufmerksamen Betrachter ist nicht entgangen, dass die Schafe heute in die entgegengesetzte Richtung laufen.

Der Weidewechsel findet in der Ogliastra halbjährlich statt: Im Herbst geht es hinunter, in die Ebene, da es oben in den Bergen schneit und kein Futter für die Tiere zu finden ist. Unten, am Hof von Vincenzo und den küstennahen Ländereien, ist es hingegen immergrün.

Im Frühling geht es dann wieder hinauf in die Berge, da das Klima dort angenehmer ist und die Tiere dort oben auf den freien Weiden laufen.

Ich bin ganz froh, die Herbst-Wanderung mitzumachen. Denn, das was wir jetzt hinter Arzana hinab gehen, muss man im Frühling hinauf. Ächz! Allein die Vorstellung …

Hirten und Schafe unter sich

Einer der Hirten verrät mir einen Trick: Man muss sich einfach denken, es ginge bergab. Dann sei es viel leichter.

Ich werde beim nächsten Trekking in den Bergen ausprobieren, ob sich Geist und Körper tatsächlich beschummeln lassen.

Heute geht es jedenfalls …

Steil bergab: die zweite Hälfte des Weidewechsels

Arzana liegt auf rund 700 Meter über dem Meer. Mit unserer Gruppe haben wir seit dem Start etwa 250 Höhenmeter und gut vier Kilometer hinter uns gelassen. Ist mir gar nicht so wirklich aufgefallen.

Wir verlassen nun das Dorf und müssen nochmal 440 Höhenmeter hinab: Sa Ferrela liegt auf 260 Metern. Seltsamerweise ziehen die sich nicht so unmerklich wie zuvor. Wir bleiben auf einer schmalen Teerstraße und es geht rigoros bergab.

Eine schöne Strecke, links und rechts nur die berühmte Busch-Vegetation, hier und da ein paar Steineichen, eine Reihe Feigenkakteen und anderes, stechende Gestrüpp …

Die kleinen Steinmäuerchen begrenzen uns und die Herde rechts und links, alle laufen entspannt.

Das ist das echte Sardinien.

Sogar die Kinder haben sich gefangen. Zwar immer noch zu begeistert, um richtig Abstand zu halten, sind sie aber nach dem Zwischenstopp im Dorf scheinbar müde geworden und haben sich einigermaßen gefangen.

So langsam fangen sie sogar an, die Herde zu verstehen. An Weggabelungen, Abzweigen zu Grundstücken oder Nuraghen oder am Bahnübergang halten sie sie zusammen. Wenn die Herde irgendwo fressen will, treiben sie sie weiter.

Wir sind am Bahnübergang und kurz vor der Ankunft …

Die Hirten lassen die Zwerge machen. Jetzt kann quasi nichts mehr schiefgehen. Die Schafe wissen schon, dass bis zur Zuhause-Wiese nicht mehr viel fehlt.

Ob tatsächlich irgendwann aus dieser kindlichen Begeisterung auch der Nachwuchs für das Hirtentum erwächst, ist fraglich. Aber immerhin lernen die Kinder hier noch eine natürliche, traditionelle Alternative fürs Leben und Arbeiten kennen. Etwas, das sie Stadtkindern definitiv voraus haben.

Vincenzo wünscht sich, dass seine Kinder auf jeden Fall erstmal etwas lernen, studieren und sich dann entscheiden. Vielleicht studieren sie ja Landwirtschaft, wenn es ihnen Spaß macht.

Aber ich merke, dass er nicht darauf bestehen wird. Er weiß, dass dieses Leben auch kein einfaches ist. Das muss man wollen.

Ob die nächste Generation ihm also nachfolgen wird, so wie er seinem Vater folgte, bleibt abzuwarten.

Jetzt ist der Kleine begeistert. Schauen wir mal, was in zwanzig Jahren ist.

Er sagt das ohne Wehmut. Genau wissend, dass das Leben heute anders ist, als vor 20 Jahren, und in 20 Jahren nochmal anders sein wird.

Der ganz normale Lauf der Dinge. Die Welt verändert sich. Menschen verändern sich.

Und doch verändert sich hier in Arzana, auf Sardinien, gleichzeitig sehr wenig.

Der Vorteil einer Insel mitten im Meer ist ja, die eigene Kultur etwas klarer gegen äußere Einflüsse zu schützen und sich eine gewisse Eigenartigkeit (im positiven Sinn) bewahren zu können.

Wird der traditionelle Weidewechsel auf Sardinien überleben?
Wird der traditionelle Weidewechsel auf Sardinien überleben?

Der Weidewechsel der sardischen Hirten könnte durchaus eines der wenigen Dinge sein, die Dank der Traditionsliebe der Sarden und solcher Programme wie dem des Unesco-Weltkulturerbes erhalten bleiben und den Lauf der Zeiten überstehen.

Doch allein die Möglichkeit, dass der jährliche Weidewechsel auch von der Bildfläche der Welt verschwinden könnte, ist ein Grund, warum man diese landwirtschaftliche Tradition nun auch für uns Reisende zugänglich macht.

Und ein guter Grund sich der Transhumanz in Arzana im nächsten Herbst anzuschließen!

Der Weidewechsel in Arzana
Der Weidewechsel in Arzana

Sa Ferrela: normales Landleben für nachhaltig Reisende

Da allein vom Schäferdasein heute nur schwer ein Auskommen zu erwirtschaften ist, hat Vincenzo sich etwas überlegt und seinen kleinen, landwirtschaftlichen Familienbetrieb in einem Agriturismo didattico verwandelt. Der nette Herr Translate von Google übersetzt das mit „Lehrbauernhof“.

Tatsächlich sind solche Einrichtungen auf Sardinien ganz oft für Kinder und Schulklassen gedacht und sogar Teil des offiziellen Lehrplans, um die lokalen Traditionen an die nächste Generation weiterzugeben. Eine gute Sache, die man sich in deutschen Gefilden durchaus von Sardinien abgucken könnte.

Ich finde sehr sympathisch, dass man zwar Reisende einlädt, aber nicht extra was für uns Touris zurecht klöppelt. Ein bisschen vielleicht: Die Strecke war ja etwas kürzer und wir gehen etwas später los. Aber ansonsten müssen wir mit dem zurecht kommen, was da ist.

Und das ist gut so, denn das Ursprüngliche, die Kultur, das Authentische soll ja bewahrt werden.

Sprich: Das Landleben ist eben robust. Hier und da liegt Schafschiet. Auf der Azienda liegen Utensilien, mit denen gerade etwas gebaut wird, die Toilette ist neben dem Kuhstall.

Wir sind angekommen, in der Azienda Sa Ferrela von Vincenzo und seiner Familie!

Es ist nicht bis auf jedes Gänseblümchen arrangiert, es wird kein roter Teppich ausgerollt und wer mit Stöckelschuhen ankommt, ist selbst schuld.

Aber es ist wunderschön im Schatten unter den hohen Bäumen, aus der Ferne klingen immer noch ein paar Schafglocken … da hinten laufen Gänse, ein Hahn und ein Pony …

Der Tag geht so schön weiter, wie er begonnen hat. Ich bin schon seit über sechs Stunden wach, und es geht mir richtig gut.

Die Familie überschlägt sich außerdem an Gastfreundschaft, um die etwa 60 nach der Wanderung hungrigen Gäste zu bewirten!

Es klingt Musik, der Hauswein / vino della casa wird serviert …

Der gute hausgemachte Wein wird quasi unendlich nachgeschenkt …

Es gibt natürlich Pecorino, Frischkäse, Oliven, geräucherten Schinken, Lardo / Speck, das lokale Brot Pistoccu (das befeuchtet serviert wird, weil es zwar auch trocken, aber deutlich dicker und kräftiger ist als das berühmtere pane carasau)

Geräucherter Schinken auf Pistoccu bagnato

Als ersten Gang gibt es Malloreddus mit einer aromatischen Tomatensauce, als zweiten gegrilltes Schaffleisch.

Es ist das, was die Leute hier selbst gern essen. Wie die Männer da das Fleisch zerteilen, wie sie das schon seit Jahrhunderten machen, ist für Grillfreunde der Himmel auf Erden, mag aber für vegan lebende Menschen (und Möchtegern-Veggies wie mich) mühsam sein.

Ja, Veganer und Vegetarier haben auf Sardinien bei solchen Anlässen ihre Mühe. Ich versteh’s.

Zur Versöhnung sei gesagt, dass das hier in Arzana aufgezogene, über Jahre gehütete und nun gegrillte Schaf vielleicht sogar nachhaltiger ist, als mein Soja-Ersatzprodukt zuhause im Küchenschrank.

Tiere zu essen, gehört im ländlichen Sardinien zur Kultur. Und die löscht man auch nicht mal eben mit der Vegie-Bewegung aus. Auch wenn das aus der aktuellen (!) eigenen Sicht uns aus Tierliebe richtig wäre, ist ein externer Eingriff in fremde Kulturen bislang nie gut ausgegangen (und da dürfen wir uns an die eigene Nase fassen).

Während wir wanderten, grillte das Schaf über der Glut …

Jedenfalls ist es für mich vertretbar, hier zu sein und die lokal gezogenen und geschlachteten Tiere zu essen. Richtig ist, dass ich sie nie selbst schlachten könnte. Aber die Leute hier können es und für die zählt darum auch das Argument nicht.

Für sie ist es okay, wenn sie sich so ernähren, wie sie es seit Jahrhunderten tun. Sie machen sich immerhin nicht der klimaschädlichen Massentierhaltung schuldig. Auch insofern ist für mich hier die Welt in Ordnung.

Vor allem, als mir der Vater von Vincenzo eine Geschichte von seiner Lieblingsziege, Stellina, erzählt. Die war nämlich die Mamma von allen und er setzte sich dafür ein, dass sie nicht geschlachtet wurde. Sie durfte tatsächlich eines natürlichen Todes sterben.

Natürlich haben auch Sarden ein Herz für Tiere. Aber sie denken als Landwirte auch praktisch. Erschließt sich vielleicht nicht jedem Besucher. Für mich passt es hier und heute.

Was sich mir aber gar nicht erschließen will, ist eine frittierte Innerei (genauer: Darmenden) …

Sardische Innereien-Spezialität. Der Cholesterin-Spiegel lässt freundlich grüßen …

Aber bitte, auch die Philosophie, alles von einem Tier zu verwenden, wenn man es denn schon als Nutztier betrachtet und hält, ist im Prinzip natürlich richtiger, als etwas wegzuwerfen.

Ich bevorzuge dennoch die Kartoffeln aus der Glut, den Salat aus dem Garten, den selbstgemachten Ricotta.

Alles hervorragend und aus eigener Produktion.

Kartoffeln direkt aus der Glut. Nur nicht das Verbrannte essen, dann ist alles gut. Und sogar richtig gut!

Die Lebensart ist wirklich sehr nachhaltig, auch, wenn es für unsere perfektionierte Sichtweise nicht sofort verständlich ist.

Aber der Erfolg gibt ihnen schon Recht: Immerhin werden die Leute in dieser Region der Erde hundert Jahre alt und nicht in Wien, Berlin oder Hamburg.

Ich werde mich dem Thema mal in einem anderen Beitrag widmen.

Das ist das Schöne an Sardinien ist und bleibt aber: Die Qualität stimmt, sobald man in kleine, ländliche Strukturen einkehrt, sobald man die echten sardischen Dörfer besucht.

Abseits der Touri-Hotspots kann man wirklich sehr sicher sein, wirklich lokale, hochwertige Lebensmittel zu bekommen.

So geht für mich Nachhaltigkeit beim Reisen. Und auf Sardinien ist hier auch der Unterschied zu suchen. Die touristischen Programme und Strukturen, ob nun im hoch frequentierten Nordosten, an der Costa Rei oder sonstigen Hotspots, sind vielleicht schön für zwei Wochen Strandurlaub. Sie haben aber wirklich wenig mit dem wirklich wahren Sardinien und der Kultur des Landes zu tun.

Wem wichtig ist, sich nicht nur wie ein Brathähnchen an den Strand zu legen, sei eingeladen, auch diese Seite Sardiniens kennenzulernen und Orte wie Arzana, Lanusei, Villagrande und und und … zu besuchen!

Für mich war der ganze Tag ein Beweis dafür, dass nachhaltig Reisen im Einklang mit der Natur, der Landeskultur und den Menschen ganz einfach sein kann.

Für mich ein einzigartiges Erlebnis,

Danke an alle!

Kontakt für nachhaltige Reisen auf Sardinien

Wer Lust hat, die nächste Transhumanz mitzumachen, wende sich einfach an das Team von Sardaigne en Liberté, der ersten Agentur für Ökotourismus in Sardinien (Webseite in deutscher Sprache).

Ich habe im B&B Preda Maore in Arzana gewohnt – bei einer super netten Familie, die auf Wunsch auch ein Home Restaurant anbieten. Kontakt: Sonia – mobil ‭+39 379 1243492‬ … Falls ihr kein Italienisch sprecht, schreibt einfach per whatsapp, dann kann sie eure Anfrage bei Zweifeln übersetzen. Und sagt nen lieben Gruss von mir!

1 Comment

  1. Roberto Brandinu

    28. Oktober 2023 at 20:54

    liebes black sheep, pecora nera… schwarzes schaf
    habe dein neustes „input“ transumanza gelesen und genossen… echt „geil“ – wollte es einfach loswerden.
    ein sarde der sein halbes leben ausserhalb sardinien lebt. aber normalerweise 2-3Xim jahr „zurück“. su sardu non mi-l’appo irmenticatu.
    wünsche mir weiter solche tolle erlebnisse … du sagst es dauernd: sardegna non e solo mare… (il mare e solo un decimo del resto – che e cosi bello -)
    goditi la sardegna come fai tu!!!
    roberto

    Reply

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