Wir sind in den Sechziger Jahren. Der Belgier Guido Van Alphen war mit etwa 200 Mio. Lire in der Tasche (das sind mit heutigem Kurs etwa 100.000 Euro, damals etwa 40.000) von Brüssel über Genua nach Porto Torres auf Sardinien gelangt.
Er war wie angezündet von der Idee des Aga Khan, der gerade im Norden die Costa Smeralda aus dem Boden stampfte. Der vorderasiatische Prinz war Mitte zwanzig, charismatisch und visionär. Van Alphen hatte ein ähnliches Bild von sich selbst: Er war 22 Jahre, stammte aus angesehener Brüsseler Familie, war reich und geschäftstüchtig.
Vor dem Boom: ein von Menschen unbewohnter Landstrich
Aus wirtschaftlicher Sicht war es absolut nicht verkehrt, sich als „second mover“ an die Fersen des Prinzen zu heften und – weit ab von dessen Wirkungsgebiet – nach einem ähnlich geeigneten Landstrich zu suchen.
Er fuhr zunächst die Westküste ab. Alghero, Bosa, Oristano, die Bergbauregion im Iglesiente, Pula und Chia. Nichts schien ihm geeignet oder günstig genug.
In Cagliari traf er seinen Kontaktmann Pietro Valerio, ein Kontinentalitaliener, der sich in eine Frau aus Villasimius verliebt und sie geheiratet hatte, und nun auf Sardinien lebte und arbeitete. Der lotste ihn Richtung Südosten. Hinter Cagliari baute ein Schweizer bei Torre delle Stelle ein kleines Feriendorf, ein Stück weiter ein Belgier das Grand Hotel Capo Boi. Guido van Alphen merkte: die Zeit drängte.
Also fuhren sie die Küste weiter ab. Die Straße war für den schicken Sportwagen des Belgiers sehr anstrengend zu fahren. Auf einer Schotterstraße erreichten sie Villasimius – vor 50 Jahren ein klitzekleines Dorf, in dem nur die Familien von Fischern und Minenarbeitern wohnten. Dort gab es ein einziges Gasthaus, das “Stella d’Oro”, eine Bar und eine Tankstelle.
Der nächste größere Ort Muravera, war noch schwerer zugänglich. Die Küste unbewohnt, wild, ohne hinführende Straßen, geschweige denn Infrastruktur. Guido und Pietro schafften es in ihrem Wagen bis Castiadas. Kurz hinter einem Abzweig Richtung Meer konnten sie nicht mehr weiterfahren. Zu schlecht waren die Wege. Sie gingen zu Fuß weiter und erklommen den Monte Turnu (übrigens ein erloschener Vulkan).
Und sahen ihr „Eldorado“: eine kilometerweite, einsame Bucht. Weißer Sand. Türkisfarbenes Wasser. Die heutige Costa Rei.
Weit und einsam. So muss es mal gewesen sein.
Die beiden jungen Männer, die oben auf dem Berg standen, erkannten sofort den Wert der Küste.
Pietro kannte die beiden Familien aus Villagrande Strisaili, die das Land am Meer für die Transumanza nutzten, den winterlichen Gang ihrer Schafherden aus den kühlen Berg- in die milderen Küstenregionen. Es brauchte nicht viel Überredungskunst, sie zum Verkauf zu bewegen. 200 Lire pro Quadratmeter sicherten ihre Existenz und die ihrer Familien mit etwas Glück bis ans Lebensende. Sie konnten anderes Land kaufen, ausreichend für ihre Zwecke. Ein lukrativeres Geschäft war es für die andere Seite: Van Alphen investierte 160 Millionen Lire und bekam einen Küstenabschnitt in bester Lage, das er in Belgien weiter verkaufen konnte. Pietro kassierte eine stolze Summe Provision und wurde Teilhaber.
Das Projekt war leicht anders gelagert als an der Costa Smeralda. Während Prinz Aga Khan wollte den Superreichen und bekannten Persönlichkeiten einen Rückzugsort bieten, und diesen so unauffällig wie möglich belassen. Er setzte auf Integration im Einklang mit Sardinien und der Natur und sorgte für entsprechend strenge Bauvorschriften.
Die Costa Rei war ein wirtschaftliches Produkt. Van Alphen wollte günstig kaufen, Infrastruktur schaffen, viele Leute anziehen, und mit größtmöglichem Gewinn wieder verkaufen. Er baute ein Hotel und ein Dorf aus einzeln stehenden Villen und sorgte mit Geld und Kontakten für eine Gesetzesänderung. Allerdings nicht um die Region zu schützen, sondern um die bürokratischen Umstände für belgische Käufer zu vereinfachen.
Der Familienehre wegen wollte man sich architektonisch differenzieren. Der Vater, ein angesehener Architekt, half mit Plänen und bei der Bauausführung. Mit Geld und Kontakten entstand ein Marketing- und Vertriebskonzept vom Feinsten, das Vorhaben konnte gar nicht scheitern. Das mit der architektonischen Besonderheit vergaß man relativ bald. Bereits die ersten Nachahmer, die Land erwarben, bauten eher talentfrei und so wie es ihnen gefiel. Bausünden bleiben bis heute nicht aus.
Eine der wenigen schöneren Siedlungen
So wurde auf Sardinien erneut aus einem unbesiedelten Landstrich ein Urlaubsort für Außenstehende.
Erfolgsgeschichten sind auf der Insel einigermaßen selten. Es gibt wenig Gründe, eine lukrative Idee bei sich bietender Gelegenheit nicht umzusetzen.
Für Sardinien ist der Tourismus ist ein Mittel zum Zweck, und soll heilen, wo andere Maßnahmen versagen. Die Frage, inwieweit der Tourismus der Insel genützt hat, ist ein ziemlich scharfes zweischneidiges Schwert.
Die beiden Hirtenfamilien, die durch die Costa Rei etwas reicher wurden, freuten sich. Vielleicht ist aber das Geld auch schon lang weg, und die Enkel arbeitslos. Wer weiß das schon.
Ob die Costa Rei die sardische Kultur und einen respektvollen Umgang mit den Einheimischen und ihrer Heimat fördert, sei mal mit einem großen Fragezeichen dahingestellt. Ihr Sinn und Zweck ist konzeptgemäß ein anderer: Van Alphen und nahezu alle ihm nachfolgenden Investoren sind Geschäftsleute. Da klingeln Eurozeichen in den Augen. Das, was sich im Rücken des Eldorado befand, all das, was er auf der Suche nach Land gesehen hatte, interessierte ihn herzlich wenig. Ob er Sardinien liebte? Schwer zu sagen.
Die Gewinner waren und sind in diesem Fall in erster Linie Ausländer. Wie viele sardische Familien führen hier einen Betrieb oder vermieten Wohnungen? Es gibt sie, aber es sind nicht viele. Und warum sie trotzdem im Hinterland wohnen, wissen sie sehr genau.
Blick über die Bucht – von Sant’Elmo zum Capo Ferrato
Auch richtig: Ein paar Saisonjobs hat’s gebracht, gut für diejenigen, die einen erhaschen konnten. Aber diese für drei, vier Monate im Jahr ganz ok bezahlten Jobs spülen nicht einfach zusätzlich Kohle in die Tasche. Wenn im Oktober alle wieder weg sind, füttert der nicht durch die übrigen acht Monate Nicht-Saison. Da braucht es andere Jobs, und die sind rar auf der Insel.
Der starke Fokus auf dem Tourismus – und das ist nicht nur ein Problem der Costa Rei – zerfasert das Berufs- und Privatleben vor allem vieler junger Sarden.
Insgesamt bleibt das komisch.
Trotzdem geraten sich in einschlägigen Sardinienforen Leute in die Wolle darüber, ob die Costa Rei nun der schönste Flecken Sardiniens sei oder nicht. Spielen Strandquartett mit Anpatzen.
Die einen wissen aus fünfunddrölfzig Jahren Reisen nach Sardinien am besten was man davon zu halten hat: am allerschönsten, einzigartig, traumhaft, was anderes kommt nicht in die Urlaubstüte! So ein Türkis gäbe es nirgendwo anders und es ist der beste auf ganz Sardinien, basta. Da sind Fußballfans moderater.
Die anderen (unter anderem das Schaf selbst) haben ausführlich gehegte und gepflegte Vorurteile: zu touristisch, zu künstlich. Viel sardischer als dass man auf Sardinien ist, ist es an der Costa Rei bei aller guten Wolle nicht. Das Schaf – wenn es denn mitspielte – würde die kleinen Buchten im Golfo di Orosei, den langen natürlichen Strand bei Berchida, die Dünen von Piscinas, das Kleinod Is Arutas oder die felsumschlossenen türkisglänzenden Buchten auf der Insel San Pietro in den Ring werfen.
Was so polarisiert, birgt ja manchmal eine Überraschung.
Gehen wir das Ganze also sachlich an, fahren hin und geben dem Stück Sardinien im Südosten eine Chance.
Costa Rei in der Nachsaison, menschenleer
Da das schwarze Schaf in diesem Fall zu den Vorurteilsbehafteten gehört, will es möglichst wertfrei, bzw. wohlwollig darauf blicken.
Capo Ferrato
Der Berg markiert den Beginn der Costa Rei im Norden. Ein leichter, aber fast vierstündiger Trek, lädt ein, ihn zu entdecken. Er führt hinüber zu zwei kleinen, kaum frequentierten Buchten: Portu S’ilixi und Cala Figu, letztere auch Baia delle Anfore genannt, da hier ein römisches mit Amphoren beladenes Schiff, auf Grund ging. Davon ist natürlich nichts mehr zu sehen, aber der Weg durch die naturbelassene Landschaft und die Felsen ist wirklich klasse. Wer mal raus aus dem Touri-Wahn will, ist hier gut aufgehoben. Auch ein Tipp für Früh- oder Spätsportler, eine wenig frequentierte Teerstraße führt über das Kap.
Spiaggia Portu Pirastru
Südlich vom Kap, und am nördlichen Ende der langen Costa Rei gelegen. Bezaubert mit flachem Türkiswasser, eingefasst von roten Felsen. Gefällt uns echt gut. Da Capo Ferrato fast ausschließlich privat bewohnt ist, könnte das im Sommer ein Tipp für einigermaßen Ruhe sein (ohne Gewähr). In der Nebensaison – super. Bei den im Herbst vorherrschenden westlichen Winden liegt die Bucht schön geschützt.
Sa Iba de Ziu Franciscu
Den „Strand von Onkel Franz“, wie er salopp übersetzt heißt, erreichen wir über eine Schotterstraße zwischen Marina Beach Resort und dem Eos Village (beide ausgestorben im Winter, eingezäunt im Sommer). Ein weiter Strandabschnitt, in dem sich die Menschen gut verteilen. Heute sehen wir niemanden, nur die weit auseinander liegenden Spuren großer, offensichtlich laufender und spielender Hunde – im November ist es hier absolut einsam. Ganzjährig ein guter Platz zum Sonnenauf- und untergang: Selbst wenn die auf der anderen Inselseite untergeht, zaubert das hier ein tolles Licht auf das weite Meer. Abends und in der Nebensaison der Hit.
Nur die Spuren glücklicher Hunde
Piscina Rei
Gerade wollten wir es hier schön finden, da sagt uns das große Schild „Località turistica“ wieder deutlich, wo wir eigentlich sind. Da ändern auch die flachen Dünen und der hübsche kleine See nichts, der dem Strand nachgelagert ist. Irritierend: Die einzige kulturhistorische Stätte der Küste ist genau hier, ein Stück weit dem Meer abgewandt befindet sich der „complesso megalitico“, oder auch die „Menhir di Nuraghe Scalas e Cuile Piras“. Die Ansammlung von etwa 25 großen Felsen („menhir“ ist bretonischen Ursprungs und bedeutet „langer Stein“, kennt man von Obelix), war nach aktuellen Forschungen eine Art Kalender und Indikator für den Wechsel der Jahreszeiten. Wir meinen: Bisschen Kultur schadet nicht. Muss man gesehen haben, wenn man zwei Wochen hier rumbräunte – die sind in Laufentfernung vom Strand … Ach so, der kleine See Piscina Rei, der Königssee, ist der Namensgeber der gesamten Küste.
Costa Rei
Der Hauptort ist kein gewachsenes Dorf oder gar Stadt im klassischen Sinn, sondern eben ein künstlich geschaffener Ort. Das sieht man an allen Ecken und Enden, und den Eindruck wird man auch einen ganzen Urlaub lang nicht los. Die Via Ichnusa (der Name ist zu schön für den Touri-Highway) ist beiderseits gesäumt von Ferienhäusern und Touristeneinrichtungen. Wenn überall Highlife ist und man zwei Wochen am zugegeben wunderschönen, feinsandigen Strand liegen und allerlei Programm rundherum gut findet – dann ist das prima hier. In der Hauptsaison ist es ist es schier zu voll und zu laut. Ein bisschen wie Cluburlaub. Du musst hier nicht weg, und selbst wer im Ferienhaus sitzt, ist eingebettet in diese dominanten acht Kilometer Strand, die fast nichts anderes zulassen, als sich da hinzulegen. Sicher vom Massentourismus à la Ballermann ist auch das hier noch deutlich entfernt. Wer die äußeren Strände nutzt, wird mit etwas Glück seine Ruhe finden. Werden wir also wieder fair. In der Saison bleiben an Aktivprogramm wenig Wünsche offen: Strand-Animation, Schwimmen, Schnorcheln, Windsurfen, SUP, Segeln, Tennis, Reiten, Wandern. Das Wasser ist toll türkis und funkelt. Alles ist ideal für die Kinder und Familien, alles ist in greifbarer Nähe, jeder hat was zum Spielen. Und im Winter? Schön einsam. Eine fantastische Weite am Horizont.
Scoglio di Peppino
Monte Nai
Der Geselle hat sich ganz schön gut abgeschottet. Hat einfach eine Tourisiedlung an seine dem Meer zugewandte Seite gebastelt. Das macht ihn nicht besonders schön, aber das will er auch nicht sein. Wer sich zwischen den Ferienhäusern auskennt oder ganz viel Geduld hat, findet den Weg auf seinen Gipfel. Zum Glück gibt’s Smartphones mit Karten. Von oben: ein toller Weitblick. Der reicht aber auch einmal. Na gut, zweimal. Ja, richtig, so ein Haus am Hang mit Blick auf die weite Bucht mit allem Pipapo wäre schon fein für einen Sommerurlaub. Wohl dem, der nicht unten im Touridorf, sondern oben privat wohnt.
Santa Giusta
Der Scoglio di Peppino ist wirklich hübsch, von oben betrachtet hat er die Form einer Meeresschildkröte. Er teilt die weite Bucht Richtung Süden, und ist bei Anglern und Tauchern beliebt – auch seinen Namen hat er von einem Fischer. Auch heute stehen wieder Angler oben drauf und warten, dass etwas anbeißt.
Sant’Elmo
Der Blick von Sant’Elmo
Am südlichen Ende der Costa Rei kommt das Schaf richtig ins Wackeln. Vollbremsung vor dem Hotel Villa del Re – jaja, auch geschlossen, aber: Der Blick durch den Zaun lässt nur einen Schluss zu. Sehr cool. Sehr schick. Anders als die anderen Kinder. Die fünf Sterne meinen sie natürlich ernst. Bring nicht nur ein paar Euro mehr mit: Für die rund 300 qm (! – und da sind Bad und Balkon nicht drin!) großen Zimmer zahlst Du … Moment … der um 60% reduzierte Preis bei 6 Wochen Vorausbuchung liegt bei 557 Euro pro Nase und Nacht. Not refundable, natürlich. Herrlich! Ein Stück weiter: Das Villaggio Sant’Elmo. Architektonisch sicher das wertvollste an dieser Küste. Klasse in die Landschaft eingefügt, auf einer Anhöhe gelegen – der Architekt Vittorio Sonzogni aus Bergamo hat nicht umsonst eine Auszeichnung dafür bekommen. Zeitlose Häuser, einheitlich erbaut aus Granitsteinen, in kantigen Formen, und mit Anlehnungen an traditionelle Bauweisen – die Dächer sind mit den klassischen sardischen Terracotta-Ziegeln gedeckt, und er setzte ausschließlich Baumaterial aus der Region ein. Kleiner Golfplatz (braucht das Schaf auch nicht, aber hat’s), und trotzdem ist das Wohnen hier (außerhalb Juli/August) tatsächlich erschwinglich. An den Wegen finden sich hier und da Mühlsteine, alte Weinpressen, ein Pflug. Offene Gärten, bewachsen von Bougainville und mit einem fantastischen Blick über die Bucht bis zum Capo Ferrato. Insgesamt ein gelungenes Crossover. Als läge ein ganz zarter Harfenklang in der Luft. Im Sommer sehr privat. Und im Winter? So schön, aber niemand da! Schon verrückt. Wir können unbehelligt durch die Gated Community stapfen und in Gärten und Häuser sehen. Und was sollen wir sagen? Leider geil. Wer Architektur, Großzügigkeit und schöne Dinge mag (und die mag das Schaf, auch wenn es in seinem Schafstall sehr glücklich ist), ist hier wirklich im Garten Eden.
Cala Sinzias
Der Geheimtipp unter den Buchten der Costa Rei. Sie ist weniger touristisch und ein kleines Schmuckstück. Außer im August, da ist sie voll, voll, voll, von Italienern. Die feiern am Strand – und im Beach Club, Is Fradis, der regelmäßig DJs der Insel beherbergt. Der ist geöffnet von Mai bis September und wir empfehlen unbedingt die Randmonate. Eine entspannte Lounge mit wertigen, weißen Holzmöbeln. Ein Abendessen im Restaurant direkt am Strand – da kann man wenig verkehrt machen. Die Weinkarte ist sehr gut, das Essen ok. Aber Blick und Ort entschädigen für alles.
Einsame Zeichen sardischer Kultur
That’s it. Schön. Wirklich. Und?
Das Dumme für alle schwarzen Schafe unter den Reisenden: Die Costa Rei ist eine touristische Siedlung – und man findet das gut so.
Zwischen Ostern und Oktober gibt es alles, was das Urlauberherz begehrt. Wer hier urlaubt, will das alles so. Alles ist küstennah, alles ist in Laufentfernung, alles ist in schöne, leicht konsumierbare Häppchen geschnitten. Das türkisfarbene Meer ist klasse, nur ist nahezu jeder Quadratmeter davor bebaut, so mancher davon nicht mal richtig hübsch. Wir sehen für unseren Geschmack zu viele hohe Zäune. Aber vielen reicht ja, wenn sie den kürzesten Weg vom Ferienhaus zum Strand und wieder zurück finden – mit Umweg über den Supermarkt, in dem es alles gibt. Ne Strandpromenade wär schick, aber das ist vermutlich zu urban.
Du hast also alles. Du musst nur aufpassen, dass Du in Deinem Urlaubspaket nicht eingeschnürt wirst und bleibst.
Entdeckungslustige Leute haben wir hier kaum getroffen. 90% sehen auch in ihrem Sommer-Jahresurlaub nicht besonders glücklich aus – allen voran junge Pärchen und italienische Rentner. Das kann, muss aber nicht unbedingt der Wahl des Urlaubsortes geschuldet sein.
In den Randmonaten musst Du Dir echt Mühe geben, das grunddeutsche Rauschen zu überhören. Natürlich sind nicht nur Deutsche da, sondern auch Osteuropäer, Franzosen, Briten, Russen … nicht zu vergessen die Belgier. Die haben das hier schließlich erfunden. Im August ist auch die Costa Rei fest in der Hand der Festland-italienischen Hausbesitzer. Richtig angenehm sind die auch nicht, aber man hört wenigstens die Landessprache, was ja auch zum Urlaub gehört. Dann wird hier allerdings jedes noch so halbgare Apartment für richtig viel Geld vermietet. Die deutschen Sparfüchse nehmen da lieber die Randmonate. Würden wir ehrlich gesagt, auch tun.
Sarden? Außerhalb der Augustferien, wenn wirklich alle an die Strände dackeln? Wir wetten: Null. Maximal zehn. Ach komm, lass es zwanzig sein! Das Ruder reißen die auch nicht rum. Permanente, registrierte Einwohner hat die Costa Rei lt. Statistikamt 141. Falls ihr im Sommer da seid, versucht mal, die rauszufischen. Und in der Nachsaison verstecken die sich echt gut.
Trostloser Anblick nach der Saison
Was ist von November bis März? Nun … „eingeschränkt“ beschreibt es nicht ausreichend. Wir trafen so gut wie keinen Menschen – das war selbst dem soziophoben Schaf zu wenig. Die Zahl geöffneter Restaurants und Anbieter tendiert gen Null.
Jetzt mal ehrlich, Costa Rei, wenn Du denn so wundervoll bist: Warum kommt denn niemand auch im Herbst oder im Winter zu Dir? Warum ist der Redaktions-Panda in Deinen „villaggi turistici“ fast das einzige Auto das herumfährt? Warum hast Du alles verrammelt? Warum gibt’s nicht wenigstens ein Hotel, eine Pizzeria, ein Supermarkt, eine Bar? Bist Du so allein?
Oh, Entschuldigung, der 24h-Self-Service-Automaten-Kiosk ist geöffnet. Hammer. Dann lass uns wenigstens zusammen eine rauchen. Ach, Du bist selber gar nicht da … schade.
Eine eher unsardische Atmosphäre, sowohl in der Haupt-, als auch in der Nachsaison. Apropos …
Die Ruhe der Nebensaison, das gelobte „Belniente“, das schöne Nichts. Wir haben es gesucht, ist echt wahr. Und gefunden: Zwei (!) Leute, die alles richtig machten. Sie haben ihre Liegen an den menschenleeren Strand gestellt und nutzen den unverhofft warmen Sonnentag. Die malen plötzlich ein ganz anderes Bild der Costa Rei.
Ende November: Die beiden machen es richtig!
Wir fragen uns einfach, warum das nicht viel mehr Leute so machen, vor allem die mit Ferienhaus. Es ist super hier, wenn man sich selbst versorgen kann. Das Hinterland ist fantastisch (siehe weiter unten) für Aktivurlauber.
Warum vermieten nicht tausend Leute ihr Haus mit Blick, warum mieten es nicht tausend Leute mehr? Wo sind die alle? Sitzen lieber im verregneten Brüssel oder a…kalten Hannover und lamentieren über den Büro- oder Vorweihnachtsstress? Kann nicht sein, oder?
Bis nicht mehr Leute antizyklisch reisen, gilt für die Costa Rei zwischen Oktober und März: Infrastruktur ade.
Strukturen sind ja keine schlechte Erfindung, auch nicht fürs herbstliche, vorweihnachtliche oder post-silvestrige Seelenheil. Wenn Du sie brauchst, gibt es auf Sardinien hundert bessere Orte, auch mit Strand. Wir schleichen im Winter lieber den Poetto in Cagliari entlang und nutzen abends das Stadtleben, gucken in Porto Pollo Winter-Kitern zu, oder finden hinter Alghero direkt am Meer eine Bar, aus der man im Sturm auf die Küste gucken kann.
Und aus irgendeinem Grund ist die Stimmung immer lebendiger, immer intensiver als an diesem künstlich erbauten Ort, an dem nur im Jubelsommer Menschen einfallen. Zum Leben und Lebenlassen braucht’s schlicht und einfach irgendeine Spur von Leben. Und sei es nur von mal da gewesenem, Kultur oder Geschichte.
Zurück zu praktischen Dingen: Ende November spontan ein Hotel finden? Tückisch.
Auf eigene Faust nichts zu sehen. Eins, an dem ein Schild mit „open“ steht, ist sowas von geschlossen. Zwei, die im Internet (Schaf von heute reist ja mit Smartphone) mit „ganzjährig geöffnet“ werben, werden zufällig gerade renoviert und sind nicht buchbar. Wir wetten, das ist jedes Jahr so.
Für ein anderes Hotel, das von Januar bis Dezember geöffnet sein will, wirft sogar booking, die letzte Hoffnung des Reisenden, für alle Daten von November bis Januar aus: „Diese Unterkunft ist auf unserer Seite für Ihre Reisedaten ausverkauft. … Andere Daten, die Ihnen gefallen könnten. 11. Mai. – 17. Mai.„ Was genau sollte mir daran heute gefallen?
Mit etwas Mühe bekommen wir noch ein B&B in Monte Nai angezeigt, das buchbar ist. Nach einem Blick auf die Fotos entscheiden wir uns dagegen. Wir sind wirklich nicht wählerisch, aber wie Weihnachtsschafe ausnehmen lassen wir uns nicht. Und wir sind auch noch nicht verzweifelt genug. Wir werden nicht an der Costa Rei übernachten.
Greifen wir also zu den beiden beliebtesten Schwarzschaf-Tricks:
Offene Einrichtungen oder gar ansprechbare Menschen zu finden, ist eine einzige Herausforderung
Locals wissen immer, wo was ist. Der Trick auf Sardinien in der Nebensaison: Fragen, fragen, fragen.
Zwei Haken hat die Sache: Erstens gibt es hier keine einzige geöffnete Bar (die nächste finden wir schließlich bei Castiadas) und zweitens keine Einheimischen.
Zwei Herren, die wir an der Straße sehen, sind Bauunternehmer vom Festland und wissen auch nichts. Sie fahren heute abend wieder nach Cagliari. Die Arbeiter aus Weiß-der-Geier-wo-jedenfalls-nicht-Sardinien können uns nicht verraten, wo sie abends essen gehen. Selbst auf ein schlichtes „Pizza? Ristorante?“ bekommen wir nur ein Kopfschütteln. Eine ältere Dame grunzt uns auf unsere – auf italienisch gestellte – Frage, ob sie wisse, wo der nächste offene Supermarkt wäre, auf deutsch an: „Hier nicht.“ Oha. Sorry.
Huch, wir haben ja Menschen getroffen! Wie konnte das passieren? Das waren also sechs. Plus die zwei in der Liege, die wir nicht stören wollten. Acht. Drei Angler auf dem Scoglio di Peppino. Elf. Und noch zwei nach Festlanditalienern aussehende Alte, die in dicken Autos an uns vorbeifuhren. Dreizehn.
Ende November kamen wir gerade aus Fonni – und selbst in der verschrammten Dorfbar des als wortkarg bekannten Bergdorfes, echt ab vom Schuss, haben wir mehr gequatscht, und mehr lebenslustigere Leute getroffen als hier.
Futter? Auch nach langer Suche nirgends ein einladendes Licht eines Restaurants. Zeit, den nächsten schwarzschafigen Trick anzuwenden.
Das Hinterland rettet die Costa Rei. Im ganzen Jahr.
Stagno Colostrai und Stagno Feraxi
Im Norden des Capo Ferrato liegt eine wunderbare Seen- und Flusslandschaft, der Stagno Colostrai und der Stagno Feraxi. Entstanden sind die Seen als die beiden Flüsse aufgestaut und umgeleitet wurden. Das zum Glück gar nicht künstlich aussehende System aus sich austauschendem Süß- und Salzwasser sorgt an etwa 6 km Küstenlinie für eine tolle Artenvielfalt, schöne Salinen und ruhige Seenlandschaft. Flamingos nutzen die Seen als Futterstelle, und nur ein Teil der Population ist das ganze Jahr über da. Auf jeden Fall ein Paradies für Vogelbeobachter. Da hat Mensch mal was gut gemacht.
Allerdings ist der Strandabschnitt nicht ganz einfach zu erreichen – überall ist Wasser im Weg. Wir verfahren uns in einem Gewirr aus Schotterstraßen, entdecken dabei Orangenhaine und leuchtend grüne Wiesen, auf denen Schafe oder Kühe weiden.
Fischzucht am Stagno Feraxi
Am Feraxi empfehlen wir einen Besuch im Ristorante „Ittiturismo“, wo man frischen Fisch aus dem See bekommt. Damit könnt ihr wirklich was für die lokale Wirtschaft tun: Der Betrieb wird von der sardischen Familie Coccu geführt. Man züchtet Muscheln (Vongole, Cozze) sowie Süß- und Salzwasserfische. Wer sich einmal gesunde Aquakulturen anschauen möchte bekommt hier einen guten Einblick.
Das Restaurant ist überwiegend Saisonbetrieb, aber für größere Gruppen und Gesellschaften öffnet man auf Anfrage und bei ausreichender Vorausplanung. Mittags lohnt es sich, vorbei zu gucken, manchmal ist es für die Arbeiter zum „pranzo“ offen, denn die geht natürlich das ganze Jahr über weiter. Den Fisch verkaufen sie hier, alternativ ganzjährig in der Pescheria in San Vito. Auch in Olia Speciosa und San Priamo kommen sie auf den Ladentresen, haltet nach den kleinen Läden Ausschau.
Castiadas
Der Ort versöhnt uns sofort. Bzw. die Orte. Castiadas ist eine Streu-Gemeinde, bestehend aus siebzehn kleinen Siedlungen. Es soll Leute geben, die Castiadas wegen seiner „Zerstreuung“ gar nicht bemerken und durchfahren. Uns völlig unverständlich.
Eine der Siedlungen ist das hübsche Olia Speciosa. Hier wohnt die Fischerfamilie vom Stagno Feraxi und es gibt eine ganz tolle Pasticceria (traumhaft gutes Gebäck und Süßzeug – kauft bitte nicht das aus dem Supermarkt). Wer wirklich typisch sardisch in ordentlicher Qualität einkaufen will, sollte mindestens bis in diesen Ort fahren. Im Sommer auch kein Geheimtipp, aber das macht ja nix.
Wir fahren durch Oliven-, Orangen- oder Zitronenhaine, Obstanbau und treffen Leute, die sie bewirtschaften. Weiter in Richtung Berg sind Schaf- und Ziegenherden – Castiadas ist berühmt für seinen guten Ziegenkäse.
Je weiter wir uns in den Berg hinein und vom Meer weg wagen, desto freundlicher wird die Stimmung, es ist wie verhext. Hinter Castiadas beginnt ein Pfad hinein in die Monte dei Sette Fratelli, Vermutlich steckt das alles nur in unseren Köpfen.
Die Berge des Sarrabus sind weit und wild. Monte di Sette Fratelli, Monte Genis, Montarbu, das Serpeddi-Massiv. Gipfel mit rund 800 Metern, die Falesia di Tonneri gar auf 1.000 Meter. Wasserfälle wie die Cascata Moriaqu, alte Minen und Spuren von Bergbau, wilde Hirsche und Mufflons, tiefe Felsschluchten, weite Wälder – alles viel spannender als die acht Kilometer Küste.
Zitrusfrüchte wachsen von Muravera bis Castiadas
San Vito
Rund 3000 Einwohner hat das Dorf und war schon im Mittelalter besiedelt. Fünf Kirchen wollen bewundert werden.
Die Einwohner sprechen hier einen sehr hübschen Dialekt – eine kuriose Version des Campidanese, der ein rt zu einem tt werden lässt, wie morti > motti. Das geht ja noch, aber aus einem „l“ und einem „n“ wird ein „h“ (soli > sohi, pani > pahi, cani > cahi). Wundert Euch also nicht, wenn man bei Eurem Reiseführer-Italienisch mit den Schultern zuckt, oder ihr Antworten nicht versteht. Hände und Füße sind vermutlich zielführender.
Muravera und Villaputzu
Muravera ist ein toller und gewachsener Ort mit Leben und Leuten rund ums Jahr. Von der südlichen Costa Rei fahren wir fast 30 Kilometer – und uns zieht dann nichts mehr zurück, denn wir sind in schwarzschafigem Wohlfühlgebiet.
In dem kleinen Städtchen begegnen uns Autos, Lichter, Menschen. Alles ist da. Sogar einen Rasenmäher könnten wir jetzt kaufen. Wir brauchen keinen, aber finden das als absolute Bereicherung!
Muravera ist – zusammen mit dem Nachbarort Villaputzu und dem Bergort San Vito – berühmt für die Launeddas, das Musikinstrument der Hirten im Süden Sardiniens. In San Vito lohnt ein Besuch in der „Accademia delle Launeddas“ des Künstlers Luigi Lai (vorher anmelden oder auf gut Glück versuchen). Bei unserem morgendlichen Spaziergang bewundern wir in den Gassen des historischen Zentrums die Wandmalereien („Murales“) und die schönen alten Tore, ein Charakteristikum des Ortes.
Außerdem feiert man jährlich etwa im April die farbenfrohe „Sagra degli Agrumi“ – das Fest der Zitrusfrüchte. Wegen der länger werdenden Tage eine Top-Reisezeit: Viele Gastgeber öffnen bereits zu Ostern oder haben spezielle Aktionen. Und es ist bereits warm, der Süden Sardiniens hat auch in der Nebensaison deutlich mehr Sonne als der Norden.
Murales mit Launeddas in Muravera
Im Gasthaus Su Pasiu, geführt von zwei jungen Sarden, finden wir ein Zimmer in einem typischen Haus mit Innenhof in der Altstadt Muraveras. Als wir abends im Su Sirbone essen, sind wir die einzigen Ausländer – und treffen einen Haufen junger Sarden. Hier gibt es traditionelle Küche, aber auch richtig gute Burger. Eine Weinbar hat bis spät in die Nacht geöffnet. Wer war noch die Costa-Wiehießsienoch?
Oft sagt man ja ein wenig gehässig, in sardischen Dörfern sei die Zeit stehen geblieben. In Muravera fängt sie für uns wieder an zu laufen.
Wenn etwas eigentlich hübsch ist – wie Meer und Hinterland der Costa Rei – dann ist irgendwie blöd, wenn sich Vorurteile bestätigen. Wir haben leider schon hundert Orte auf Sardinien gesehen, die uns spontan mehr zusagen. Damit wollen wir niemandem zu nahe treten, der die Costa Rei über alles liebt. Das schwarze Schaf aber hat sich nunmal in den Kaminduft der echten Dörfer, in die wilde Natur, in das echte Leben verliebt.
Wir wagen zu behaupten: Authentizität findet man an der Costa Rei nur im Hinterland.
Da können wir uns natürlich trotz unserer Besuche täuschen. Was wir uns also wünschen, wenn sich jemand hier wirklich auf den Schlips getreten fühlt: Eine Gegendarstellung!
Innenhof des Su Pasiu in Muravera
Nicht nur ein Aufschrei, sondern eine liebevolle Beschreibung, mit richtig guten Adressen für richtig gutes Futter und bei denen man Dinge findet, auf denen nicht nur sardisch drauf steht, sondern die auch authentisch sind. Das alles ganzjährig.
So lang setzen wir unsere Inselreisen fort.
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Fabrizio
29. November 2021 at 14:52So ein Quatsch. Die Costa Rei ist wunderschön und wird hier unbegründet übertrieben schlecht dargestellt. Als würden in anderen Orten die Einheimischen den ganzen Tag am Strand stehen und italienisch schnattern… Kokolores!
pecora nera
29. November 2021 at 15:08Hallo Fabrizio! „Übertrieben schlecht dargestellt“ finde ich es nicht – ich habe mir Mühe gegeben, genau das nicht zu tun und wollte die schönen und schlechten Seiten gleichermaßen beschreiben. Einfach das, was ich gesehen und erlebt habe. Das ist meine persönliche Wahrnehmung – die muss ja nicht deine Meinung widerspiegeln. Wenn du den Ort schön findest – alles prima! Ich habe nach 15 Jahren Reisen durchs echte Sardinien nur wirklich schönere und echtere Orte gesehen. Man muss sie einfach mögen – und das tun ja viele. Was die Strandbesucher betrifft: Wir leben in Olbia (auch keine Schönheit) und treffen tatsächlich Olbiesen am Strand und im ganzen Jahr gibt es hier Leben und ein echtes, gewachsenes Miteinander. Am Poetto treffen wir im ganzen Jahr Leute aus Cagliari. In Porto Botte surfen und kiten sehr viele Einheimische. Ich sage nicht, dass es sie an der Costa Rei gar nicht gibt – allerdings haben sie sich die paar Male, als ich da war extrem gut versteckt … 😉
Ähnliches kann ich zum Beispiel von San Teodoro oder Porto Pollo sagen – da hörte ich im August mehr Deutsch als Italienisch. Ich finde touristische Enklaven einfach „unecht“. Aber womit du recht hast: Die Natur ist wirklich hübsch. Mir gefällt die Costa Rei aber hundertmal besser in der Nebensaison – dann komme ich sehr gerne. Wobei ich dann eher ein Trekking im Sarrabus vorziehe oder hoch in die kleinen Orte fahre. Ich fühle mich da wohler. Ist wohl einfach auch Geschmackssache. Herzliche Grüsse aus Olbia!