Auf dem traditionellen Karnevalsfest „Sa Carrela e‘ Nanti“ in Santu Lussurgiu erleben Reiter und Pferd wahre Adrenalin-Stöße. Ein schwarzes Schaf auf Reisen erzählt.
Gastbeitrag, Text: Illa Knappik, sardinienhorse.de Fotos: Ilja van de Kasteele
Das muss man sich mal vorstellen: eine schmale Straße mitten im Dorf, gerade so breit, dass zwei Autos gerade so eben aneinander vorbeischrabben könnten.
Vor wenigen Tagen wurde die Via Roma für den Verkehr gesperrt, und eine dicke Schicht Geläuf aufgetragen. Die alten Häuser drängen direkt mit ihren Fassaden an den Straßenrand, die Besucher schauen durch die angrenzenden Gassen, die zur Sicherheit abgesperrt sind.
Etwa einen Kilometer lang ist dieses Stück Weg, das relativ steil nach unten führt. „Sa Carrela e‘ Nanti“ bedeutet im Italienischen „strada che si trova davanti“, also die lange Straße voraus.
Jetzt, zum traditionellen Karnevalsfest, das seit gut 500 Jahren so zelebriert wird und jeweils an drei Tagen vom Sonntag bis zum Faschingsdienstag stattfindet, stehen die Menschen dicht bei dicht entlang der Straße, in gespannter Erwartung, was da kommen mag.
Der Lautsprecher kündigt das nächste Pferdepaar an. Und da kommen sie auch schon angestürmt, im wilden Galopp: zwei Reiter, die sich mit ausgestrecktem Arm jeweils an des anderen Schulter packen, die Erde bebt, die Pferde sind so nah trotz der Geschwindigkeit, dass die inneren Steigbügel der beiden gegeneinander klirren.
Es geht ein Wogen durch die Menge, die Menschen stehen mit dem Rücken dicht an die Häuser gepresst, einen Gehsteig gibt es nicht, dann und wann kann man sich rückwärts in einen Hauseingang oder eine Nische drücken. Wenige Sekunden nur, schon sind die geschmückten Pferde vorbeigesaust, so nah, dass ihr Fahrtwind einem ins Gesicht weht.
Die Reiter sind verkleidet in mittelalterlichen Kostümen oder in farbenfroher Faschingstracht, die beherzten muskulösen Männer tragen teilweise Glitzerröcke und Perücken mit langen Locken, den Mund rot geschminkt, oder sie geben sich als Mickeymaus oder Tarzan aus. Sie sitzen selbstbewusst und lässig im Sattel. Sie reiten, seit sie laufen können und kennen keine Angst.
Oben am Start tänzeln die Pferde, bäumen sich auf, treten zurück und springen nach vorne – selbst für die geübten Reiter ist es ein schwieriges Unterfangen, ihre Tiere in die richtige Position zu bringen, so dicht beieinander, so dass sie den Partner im Galopp an den Schultern fassen können. „Carella“, sagen die Lussurgesi dazu.
Die Spannung der Menge springt auf die edlen Tiere über, die Nervosität kommt durch, die Adern treten unter dem verschwitzten Fell hervor, die Mähne ist zu kleinen Zöpfchen geflochten und mit aufwändig gearbeiteten Stoffblüten geschmückt, die sogenannten „rosette“ oder auch „corcarde“, die Augen glänzen, die Nüstern sind geweitet, Schaum tritt aus dem Maul.
Die meisten Tiere sind aus der Rasse Anglo Arabo Sardo. Es ist ein schlankes und wendiges Pferd, feingliedrig und edel – eine Rasse, die aus der Einkreuzung von arabischem Vollblut mit dem sardischen Wildpferd stammt.
In Santu Lussurgiu leben sie mit den Menschen in enger Verbundenheit. Wenn man die Häuser im alten Stadtkern betritt, trifft man immer noch auf eine Pferdebox mit Stroh und Futtertrog, bevor man die steinernen Stufen nach oben in den Wohnbereich nimmt. So, wie andere ihr Auto in die Garage abstellen, erklärt mir ein Einwohner von Santu Lussurgiu, hat man hier seit jeher sein Pferd dicht bei sich im Wohnhaus.
Und dann die Weinkeller! Fast jeder zweite Einwohner scheint so eine „cantina“ zu haben. Zum frühen Abend wird der selbstgemachte Wein hervorgeholt, in Zwei- oder Fünfliterflaschen, und großzügig an alle verteilt, die gerade vorbeikommen. Jeder bekommt einen kleinen weißen Plastikbecher in die Hand gedrückt, und dann wird eingeschenkt, die Menschen stehen zusammen, jung und alt, alle Generationen sind vertreten, auch Fremde werden herzlich willkommen geheißen.
Am Montag, „Su Lunisi de sa pudda“, bebt erneut die Erde, die Menschen grölen, wenn wieder ein Pferdepaar vorbeigaloppiert, denn es gilt, mit einer langen Stange ein an dem quer über die Straße gespannten Seil hängendes Huhn zu treffen. Keine Sorge, es ist heutzutage aus Leder gefertigt.
Inzwischen bricht die Dunkelheit herein, Pferde und Reiter haben viele Galoppaden bergab genommen, jetzt werden auch die mutigen Reiter feiern, in einer stolzen Parade gehen sie nun langsam im Schritt die Wegstrecke durch die Altstadt bergauf, die Menschen klatschen, die Pferde tänzeln.
Lachend hebt der eine oder andere Reiter seinen Freund oder die Liebste hoch, die setzen sich wie selbstverständlich auf die Pferdekruppe hinten drauf, als hätten sie ihr ganzes Leben nie etwas anderes gemacht. Auch den Reitern und ihren Kompagnons hoch zu Pferd wird jetzt Wein gereicht.
Der Schankkellner in der Cantina um die Ecke ist ein junger Mann, der wahrlich aussieht wie ein Monster, mit seiner aufgeplatzten Nase und seinem dunkelblau angeschwollenen Auge, er schaut so entstellt aus, dass man im ersten Moment richtig erschrecken muss. Er sei zu dicht am Startpunkt dabei gestanden, als eines der Pferde rückwärts in die Menge stieß, erklärt er gutmütig. „Naja, das vergeht wieder“, meint er und schenkt Wein nach.
Längst reichen die kleinen Plastikbecherchen nicht mehr aus, doch das macht nichts. Der, der leer getrunken hat, gibt seinen zurück und dann bekommt ihn der nächste, da gibt es keine Probleme. Immerhin gehören wir alle zusammen an einem solchen besonderen Tag: die wilden Reiter, die tapferen Pferde, die stolzen Einwohner von Santu Lussurgiu und die staunenden Gäste. Und nicht zuletzt die staunenden Schafe.
Ach ja, am Karnevalsdienstag wiederholt sich das Spektakel.
Weitere Informationen (in italienischer Sprache) auf der Seite der Comune Santu Lussurgiu
Für Pferdeliebhaber und Reiturlauber organisiert die Autorin (www.sardinienhorse.de) auf dem Hof Mandra Edera bei Abbasanta tolle Touren.
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Ines Skott
14. August 2022 at 16:24Ich hatte das Glück, die „Sa Carrela e Nanti“ 2006 im Rahmen eines Roadtrips zu erleben und beides war eine einzigartige Erfahrung. Wir kannten Sardinien bis dahin nur im Sommer und die Atmosphäre auf der Insel im Februar ist tatsächlich unbeschreiblich. Die Nacht vor dem Ereignis hatten wir in einem Hotel nahe Santu Lussurgiu verbracht und schliefen dort im Jogginganzug und Winterjacke, weil das Zimmer nicht geheizt wurde.
Die weiteren Übernachtungen verbrachten wir ohne vorherige Buchung spontan in diversen Agriturismo’s in sehr herzlicher und teils familiärer Atmosphäre. Diese Rundreise im Februar ist mir bis heute nachdrücklicher in Erinnerung, als alle Sommerurlaube auf Sardinien zuvor. Ob Giara di Gesturi, die völlig vereisten Masten der Radiostation auf dem Monte Limbara oder die sturmgepeitschte Westküste – nie zuvor habe ich die Insel so intensiv „gespürt“, wie in diesem Februar 2006 – nur allein mit den Elementen.
pecora nera
20. August 2022 at 08:49Ganz herzlichen Dank für deinen Kommentar und dass du deine Erfahrungen mit uns teilst! Der Februar ist wirklich einer der intensivsten Monate auf der Insel – und mit den ganzen Festen für mich einer der schönsten Reisemonate überhaupt, weil man sonst kaum so nah an das wirklich wahre Sardinien kommt. 🙂