Laute Rufe tönen über die Wiese und stören die Ruhe des mittäglichen Grasfressens. Wir wollen ausruhen. Und was machen die Schäfer? Sie spielen laut „Sa Murra“.
Ach, eigentlich ist „stören“ gar nicht richtig. Wir hören die lauten Rufe ganz gern.
Sie sind so stark und doch so vertraut, so weich. Sie hallen über das ganze Feld … Da weiß man als Schaf, dass die Welt in Ordnung und alles sicher ist.
Vor allem in den Bergen der Barbagia und des Supramonte gehört „Sa Murra“ zur liebsten Freizeitbeschäftigung der Männer.
Und man muss zugeben, obwohl es auch in vielen anderen Mittelmeerländern gespielt wird und gar nicht original sardisch ist, steht es den Sarden wirklich sehr gut.
Es passt irgendwie hierher.
Bei „Sa Murra“ stehen sich zwei Männer (heutzutage auch Frauen, aber immer noch selten) gegenüber und rufen sich laut eine Zahl zwischen zwei und zehn zu – und zeigen gleichzeitig mit ihrer Hand eine Zahl von eins bis fünf.
Die Anzahl der gezeigten Finger wird zusammengezählt. Zeigt der eine drei Finger, der andere zwei, ergibt das „fünf“. Wer zuvor „fünf“ gerufen hat, bekommt also einen Punkt. Haben beide daneben gelegen, und zum Beispiel „vier“ oder „sieben“ gerufen, gibt es keinen Punkt.
Die Zehn ist die „Murra“ – daher der Name des Spiels.
Meistens wird „Sa Murra“ im Doppel gespielt – hat man einen Punkt gemacht, tritt man gegen den anderen Mitspieler des gegnerischen Teams an. Macht man wieder einen Punkt, dann wieder gegen den ersten. Macht der einen Punkt, wendet der sich an den anderen Mitspieler gegenüber.
Schäfer spielen Sa Murra (Foto: Sara Muggittu)
Oft stehen weitere Männer daneben und zählen, die „Contatores“. Dafür könnte man ja auch mal ein Schaf einspannen – aber uns fragt natürlich wieder keiner …
Aber: Zählen ist deutlich schwieriger als spielen. Du musst wahnsinnig aufmerksam sein.
Und Schiedsrichter zwischen zwei oder mehr Murra-Spielern zu sein ist auch gar nicht so einfach.
Also sind es auch gestandene Kerle, die das machen. Die keine Widerrede dulden und aushalten, wenn ein Spieler meint, es wäre falsch gezählt. Im Zweifel entscheidet der Contatore und rückt die Herren zurecht.
Du merkst schon – vor allem musst du eines können: Sardisch zählen. Jedes sardische Kind kann das – und Schafe natürlich auch! Ist erstmal nicht so irre schwer.
Die sardische Sprache im „richtigen Leben“ zu hören macht zudem auch noch Spaß. Also, los geht’s, alle mal ausprobieren!
Ein kleiner Hinweis zur Aussprache: Im Sardischen wiederholt man den letzten Vokal, wenn das Wort auf einen Konsonanten endet – das ist der sogenannte Nachschlagsvokal, der die Sprache unglaublich weich klingen lässt. Wir haben den hier in Klammern für die Aussprache dazu gesetzt.
Muster: Ziffer – sardisch (Aussprache) – deutsch – italienisch
1 – unu – eins – uno
2 – duos (duoso) – zwei – due
3 – tres (trese) – drei – tre
4 – battòr (battoro) – vier – quattro
5 – chimbe (kimbe) – fünf – cinque
6 – ses (sese) – sechs – sei
7 – sette – sieben – sette
8 – otto – acht – otto
9 – noe – neun – nove
Die Zahl 10 – „murra“ – heißt auf Sardisch eigentlich deghe (dege) – zehn – dieci, das findet in diesem Spiel aber keine Anwendung.
Das ist – wie immer auf Sardinien – nur eine Näherung, die Zahlen und Aussprache unterscheiden sich je nach Sprachvariante, und darüber hinaus von Dorf zu Dorf nach lokal gefärbtem Dialekt. Viele Einzelspieler spielen zudem auch in italienischer Sprache.
Und einmal im Jahr treffen sich die Murra-Spieler aus vielen Mittelmeerländern zu einer Art Meisterschaft – in Urzulei! Da wird’s sprachlich noch komplexer.
Das schwarze Schaf hat lang lang gebraucht, um sich in die Tiefe der sardischen Kultur zu bewegen.
Denn das hieß: tief in den Supramonte, hinab nach Urzulei zu fahren. Doch doch, es war schonmal da, ist aber eigentlich nur durchgefahren. Heute wird das anders. Heute gibt es eine volle Dosis Sardinien.
Das ist durchaus eine andere Welt. Das beruht auf Gegenseitigkeit: Der landläufige Reisende oder gar Tourist ist in Urzulei quasi nicht vorhanden. Der wiederum hat keine Ahnung, dass es Urzulei überhaupt gibt.
Fremdkörper trifft es ganz gut.
Und so wird das durchs Dorf streifende schwarze Schaf von allen, aber auch wirklich allen, beäugt.
Und während die ersten auf der Piazza sich schon für Sa Murra warmspielen, spielt das Schaf „Aushalten“.
Trick 17, wenn irgendwas komisch ist: Benehme dich so selbstverständlich wie möglich.
In diesem Fall: Ab in die nächste Bar, ein Bier bestellen (ein Ichnusa für schlanke 1,30 vom Fass, gesegnet sei Urzulei!). Notizbuch rausgeholt, bisschen was reingeschrieben. Am Bier genuckelt. Geguckt. Plötzlich ist das Schaf der Beobachter, nicht mehr die anderen, und sie gucken weg.
Es macht sich sogar echt Notizen, um sich alles zu merken und zuhause ein bisschen nachzulesen. Da sind Mannschaften aus dem Aosta-Tal, aus Katalanien, aus Spanien, aus Venezien und aus irgendeinem französischen Alpenteil: Mourra Das Quatre Cantouns.
Und na klar aus Sardinien.
Da stehen zudem der obligatorische Esel, zwei Torrone-Stände und zwei Bier-Stände. Wenn du Hunger hast, ist die Bar / Pizzeria „Il Gufo“ am Platz deine Anlaufstelle.
Eine halbwegs politische Botschaft gönnt man sich auch: Fate la Murra, non la Guerra – Spielt Murra, nicht Krieg! Einverstanden.
Eine Hightech-Variante des Murraspielers von einem verspielten Technikers aus Cagliari hat es ebenfalls nach Urzulei geschafft und begeistert die Anwesenden: Gavin 1.0.
Das zweite Bier kauft sich das schwarze Schaf an einem der Stände – und steht neben einem Pferd.
Nanu. Das passiert auch dem inselweitgereisten Wolltier nicht so oft …
Die Frauen aus Urzulei scheinen kein Interesse an dem Fest zu haben. Hier sind fast zu 100% Männer anwesend (von ein paar Ausnahmen und einigen Pärchen und dem Mädchen, das das Pferd reitet, mal abgesehen).
Doch die Herren sind allesamt gut erzogen, äußerst zurückhaltend und in ihren knappen, ruppigen Worten durchaus höflich. Sie lassen dich in Ruhe.
Ein Lächeln ist das höchste der Gefühle. Selbst als das Schaf ein paar Dinge zum Spiel fragt, erhält es zwar eine Antwort, aber nicht mehr.
Es ist geneigt, sie die Friesen Sardiniens zu nennen. Bloß kein Wort zuviel.
Zurück zu Sa Murra: Nach einem kleinen Regenschauer und mit zwei Stunden Verspätung sind die Männer aus den unterschiedlichen Ländern auf der Bühne und spielen.
An diesem Septemberwochenende 2016 traten 76 Spieler an zwei Tagen an: „Murradores“ aus Aragona, Katalanien, Contea di Nizza, Slowenien, Valle d’Aosta, Trentino, Friuli Venezia und aus ganz Sardinien.
Die Mischung aus Spanisch-Italienisch-Sardisch funktioniert irgendwie. Man versteht sich und spielt den ganzen Abend lang.
Man ist weitgehend unter sich, die Gäste sind mitgereiste Freunde der anderen Spieler oder Sarden aus anderen Inselteilen. Viele Touristen hat es hier nicht, genau genommen: gar keine. Oder maximal vier, wenn man von den Fotoapparaten in der Hand ausgehen kann.
Dem Schild hinunter nach Urzulei zu folgen, scheint ne Nummer für sich, merkwürdigerweise. Dabei ist das hier ein ganz normales sardisches Dorf (von dem Pferd an der Bar mal abgesehen).
Das schwarze Schaf ist jedenfalls määähr als begeistert! Der Klang der Stimmen, der durch das Dorf hallt, die ruhige Atmosphäre …
Hier kannst du in eine der Begegnungen hineinschauen:
Dabei ist das Spiel eigentlich verboten. Es gilt auch in Italien als Glücksspiel und darf in der Öffentlichkeit eigentlich nicht gespielt werden. Dass es dabei nie um Geld geht, scheint keine Rolle zu spielen.
Aber das Verbot interessiert hier und heute eh keinen, es existiert zumindest heute nur auf dem Papier.
Die Sarden verteidigen ihre Ehre und gewinnen Murramundo, in einem packenden Finish vor den Spaniern und den Katalaniern. Tags zuvor hat ein Doppel aus Esterzili die sardische Meisterschaft für sich entschieden.
Läuft für die Sarden, doch am Ende sind alle ziemlich geschaf(f)t. Die Nacht zerfasert …
Dieses Spiel verlangt äußerste Aufmerksamkeit. Es gilt, das, was der Gegner sagt und tut, vorauszuahnen. Und zwar schnell. Richtig schnell. Das Schaf hätte zugegeben etwas Mühe gehabt, korrekt zu zählen …
Gespannte Aufmerksamkeit, auch bei den Zuschauern (Foto: Sara Muggittu)
Die Konzentration des einen ist voll auf dem anderen Spieler, bzw. seinen Händen.
Denn na klar hat jeder so seinen Trick, um den Sekundenbruchteil später seine mit den Händen gezeigte Zahl zu offenbaren und den Gegner zu irritieren.
Einer verschränkt immer die Arme und schnellt erst im letzten Moment hervor. Ein anderer sagt immer die gleiche Zahl. Wieder ein anderer macht wilde Bewegungen, wie manch Torwart beim Elfmeter.
Die Kontrahenten geben sich sehr selbstbewusst, wenn sie ihrem Gegenüber die Zahlen laut zurufen, oder vielmehr: entgegenschmettern.
Wer „Sa Murra“ spielt, ist kein Weichei. Wer Unsicherheit zeigt, verliert. Hier wird auch nicht diskutiert – die Jury steht um die Gegner und zählt ganz genau mit. Fortgeschrittene spielen das über viele viele Runden.
Die dunklen Stimmen und lauten Rufe in der beginnenden Nacht gehen unter die Wolle …
Beeeh …
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