Das Gänsespiel, auf Italienisch „gioco dell’oca“, ist eines der ältesten und einfachsten Brettspiele der Welt. Ein „Spiel des Lebens“, die Spieler (Gänse) erleben ein Auf und Ab, ein Vor und Zurück. Es passt zu Sardinien, wo sich viel um das Schicksal und das Unvermeidbare dreht.

Il Volo del gioco dell'oca, 2004 Maria Lai, Osini

Il volo del gioco dell’oca, 2004 Maria Lai, Osini (zum Vergrößern anklicken)

Maria Lai, eine der bedeutendsten sardischen Künstlerinnen, brachte dem Spiel das Fliegen bei: Ihr Kunstwerk „Il volo del gioco dell’oca“ – „Der Flug des Gänsespiels“ – befindet sich passenderweise unter freiem Himmel.

2003 entstand eines auf weißem Grund in ihrem Heimatdorf Ulassai, und 2004 ein schwarzes im benachbarten Osini. Das pecora nera hat sich an letzteres mal gans, äh, ganz, nah ran gestellt.

Das Gänsespiel lernt fliegen

Das Spiel im Kunstwerk von Maria Lai hat nur 42 statt üblicherweise 63 Felder. So als ob es gilt, von vornherein Ballast abzuwerfen und sich das Leben nicht unnötig schwer zu machen.

Maria Lai verstand das Leben als Kunst schaffenden Raum. Und so dreht sich auch in diesem Spiel alles um das Leben und das künstlerische Wirken, das Schaffen von Neuem. Maria Lai wollte inspirieren, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, und spielerisch einen Weg zu finden, selbst kreativ zu werden. Es gibt sogar ein Schulbuch, das im Kunstunterricht einiger sardischer Schulen Verwendung findet.

Als sie den „Flug des Gänsespiels“ schuf, war Maria Lai bereits 84 Jahre alt, und es scheint, als wolle sie den nächsten Generationen einladen, ihr zu folgen.

So geht das Gänsespiel

Zunächst braucht man andere Gänse, Mitspieler. Halt, nein, das ist nicht wahr. Jedes Schaf kann sich auch allein zur Gans machen. Interessant, was das Spiel dabei mit einem macht. Denn behält der Betrachter im Sinn, dass es sich um einen Schaffensprozess handelt, so ist man dabei oft allein.

Mit mehreren hat man natürlicherweise ein anderes Erlebnis. Die Spieler würfeln reihum, setzen ihre Spielfigur, eine Gans, um die gewürfelte Zahl. Sofern es auf dem Feld eine Aufgabe gibt, wird diese ausgeführt. Gewonnen hat, wer das letzte Feld exakt erreicht. Fehlen also noch 5 Felder, muss bis zum letzten Feld eine 5 gewürfelt werden. Würfelt der Spieler etwas anderes muss er zum Anfang zurück – und das Spiel neu beginnen.

Ganz früher malte man das Spiel in den Sand und trug so Fehden aus. In der Nebensaison lässt es sich in den sardischen Strandsand malen – aufwändig, ja, aber ein großartiger Zeitvertreib. Da gehen einige gute und kreative Stunden ins Land.

Wir spielen das Gänsespiel

(Anm. der Redaktion: Die nachstehende Übersetzung ist ein wenig hemdsärmelig und so, wie wir das Spiel verstanden haben. Wenn Ihr schönere Alternativen habt, dann gern unten ins Kommentarfeld, wir freuen uns.)

Die Gans würfelt und begibt sich auf den Weg des künstlerischen Schaffens …

  1. Feld mit einer „1„. >> Hier passiert zunächst nichts. Für alle, die aus dem Spiel oder vom einem nicht passenden Wurf am Ende zurück kommen, ist hier ein Neuanfang.
  2. GUSCIO. Protezione e limite di ogni crescita.EIERSCHALE. Schutz und Grenze eines jeden Wachstums. >> Hier setzt die Gans einen Zug aus.
  3. Auf Feld 3 ist ein fallender oder liegender Mensch abgebildet.
  4. Das vierte Feld enthält eine „2„.
  5. BUSSARE. Chiamare ad una porta chiusa.ANKLOPFEN. An einer verschlossenen Tür klopfen. >> Also los, gehen wir zur nächsten Tür und klopfen, und sehen, was passiert! Spielt noch jemand mit?
  6. Auf Feld 6 sehen wir eine Gans, die sich umblickt. Auf „Gänsefeldern“ darf der Spieler die gewürfelte Augenzahl erneut weiterziehen und führt dort ggf. das nächste Ereignis aus.
  7. Feld 7 ist die „3„.
  8. SOLE. Luce e calore di ogni nascita.SONNE. Licht und Wärme für jede Geburt. >> Die Gans rückt auf das Feld mit der „7“ vor (Feld 20).
  9. Hier ist ein Mensch abgebildet, er scheint vorwärts zu schleichen.
  10. Auf Feld 10 steht die „4„.
  11. BECCARE. Esigenza del continuo diventare.NEHMEN. Bedürfnis, sich seiner selbst bewusst zu werden. >> Der Spieler, der auf dieses Feld kommt, setzt zwei Züge aus.
  12. Auf Feld 12 ist etwas, das aussieht wie der Umriss eines Vogels am Himmel. Oder seht Ihr etwas anderes?
  13. Feld 13 zeigt eine Gans.
  14. Feld 14 ist die „5„.
  15. PIOGGIA. Rende vitale la terra.REGEN. Macht das Land fruchtbar. >> Der Spieler zieht vor auf die „6“ (Feld 17).
  16. Auf Feld 16 ist erneut ein strauchelnder Mensch abgebildet.
  17. Feld 17 zeigt die „6„.
  18. PANTANO. Materia creativa di terra e cielo.MORAST. Kreative Materie in Erde und Himmel. >> Der Spieler muss zurück zur „2“.
  19. Feld 19 zeigt wieder eine Gans, sie scheint etwas fetter geworden …
  20. Feld 20 ist die „7„.
  21. ARCOBALENO. Estasi e quiete dello sguardo in salita.REGENBOGEN. Ekstase und Ruhe im aufwärts gerichteten Blick. >> Hier setzt der Spieler einen Zug aus.
  22. Feld 22, erneut sieht man den Vogel am Himmel.
  23. Feld 23 zeigt die „8„.
  24. VOLGERSI. Cercare altre direzione.ABBIEGEN. Andere Richtungen suchen. >> Zurück zum Feld mit der „7“.
  25. Feld 25 zeigt eine laufende Frau.
  26. Dieses Feld ist die „9„.
  27. OCA. Prigionera della natura (sogna di volare).GANS. Gefangene der Natur (träumt vom Fliegen). >> Der Spieler, der auf diesem Feld landet, muss ganz zurück an den Anfang, auf die „1“.
  28. Feld 28 zeigt eine laufende Gans.
  29. Feld 29 ist die „10„.
  30. BURATTINO. Prigionero di un’artificio (sogna di essere un bravo bambino).MARIONETTE. Gefangener einer Kunstform (träumt davon, ein mutiges Kind zu sein). >> Der Spieler rückt vor auf die „11“ (Feld 33).
  31. Feld 31 zeigt einen Menschen, der läuft und hinzufallen scheint.
  32. Auf dem Feld 32 sehen wir wieder den fliegenden Vogel.
  33. Feld 33 ist die „11„.
  34. LA FATA. L’invisible che opera miracoli. FEE. Das Unsichtbare, das Wunder vollbringt. >> Die Gans rückt vor auf die „12“ (Feld 36).
  35. Das Feld zeigt einen Menschen, der den Halt verliert.
  36. Feld 36 ist die „12„.
  37. VOLO. Conquista di una vastita.FLUG. Eroberung der Weite. >> Die Gans fliegt zurück zur „9“.
  38. GIOCO. Avventura tra rigore e fantasia.SPIEL. Abenteuer zwischen Strenge und Fantasie. >> Die Gans muss zurück zur „10“.
  39. Feld 39 ist wieder ein Gänsefeld.
  40. SILLABARIO. Contenitori dei simboli del comunicare.SILBENSCHRIFT. Symbole für die Kommunikation. >> Die Gans setzt einen Zug aus.
  41. MISTERO. Il vuoto buio dell’universo e dell’inquietudine.GEHEIMNIS. Die dunkle Leere des Universums und der Unruhe. >> Die Aufgabe auf diesem Feld lautet: „recita ciò che ricordi della filastrocca e avanti su 13“ – Die Gans muss einen Kinderreim aufsagen, an den sie sich erinnert, und geht dann vor auf die 13.
  42. 13 – VINCI! – Wer mit der direkten Würfelzahl auf diesem Feld landet gewinnt das Spiel.

In der Mitte ist eine Gans in einem Ei abgebildet, die den Hals reckt – das Ziel ist im traditionellen Spiel ein Symbol für das Paradies – hier wird es als die Geburt etwas Neuen verstanden. Die spiralförmige Anordnung ist ein allgemeines Symbol für Unendlichkeit und Unsterblichkeit.

Uns fällt auf, dass im Vergleich zum traditionellen Gänsespiel in dieser künstlerischen Variante die „Todesfelder“ fehlen. Somit hat die Künstlerin das Thema Unsterblichkeit einfach konsequent zuende gedacht.

Kunst stirbt nicht, sie lebt ewig.

Das Kunstwerk auf weißem Grund an einer Hauswand mitten in Ulassai

Das Kunstwerk auf weißem Grund an einer Hauswand mitten in Ulassai

Maria Lai selbst ist am 16. April 2013 weiter geflogen.

Wissenswertes und weitere Informationen:

  • Feld 41 „MISTERO“ erinnert uns an das „Casa dell’Inquietudini“, ein von Maria Lai zum Kunstwerk erhobenes Haus in der Nähe von Ulassai, siehe Artikel auf pecora-nera.
  • Beschreibung des „normalen“ Gänsespiels auf Wikipedia
  • Maria Lai in der italienischen Wikipedia
  • Kunstmuseum mit den Werken von Maria Lai in der Stazione dell’arte in Ulassai
  • Wer mehr über Maria Lai lesen und sich ihrer Kunst nähern will, wird auf liberiasarda.it fündig (alle Bücher und Hefte in italienischer Sprache).
  • Durch Ulassai führt ein „percorso d’arte“, die Gemeinde versteht sich als ein Museum unter freiem Himmel. Überall gibt es etwas zu entdecken – und das inmitten der wunderbaren Natur der Ogliastra und hinter dem Ort aufragenden Felswänden.
  • Dazu noch ein Ausflugsziel für Osini (das Dorf steht ja ein wenig im Schatten von Ulassai): Die Scala di San Giorgio di Osini ist eine  Natursehenswürdigkeit auf 900 Metern über dem Meer. Es ist eine Art langgezogener Pass an den Felsformationen „Tacchi di Osini“, der zwei Täler miteinander verbindet. Der Weg ist von ausgesprochener Schönheit und bietet einen atemberaubendem Blick auf eine einzigartige Landschaft. Hier eine Beschreibung auf sardegnaforeste.it (in italienischer Sprache). Und eine Luftaufnahme davon gibt’s auf Pinterest.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert