Modigliani war dem schwarzen Schaf zugegeben fast ein Unbekannter. Da musste es im Gedächtnis schon ein wenig graben: Ein wichtiger Künstler Italiens. Maler. Bildhauer. Frauenbilder. Akte. Lange Gesichter und Hälse. Paris. Ausschweifendes Künstlerleben. Frauenheld. Bohémien. Jung gestorben.
Aber Sardinien? Nö, da klingelt nichts.
Aber nun begegnet er uns ganz unvermittelt eben auf dieser Insel, genauer in einem der kleinsten Dörfer, das die Insel zu bieten hat: im Borgo Sant’Angelo, an der Landstrasse SS126 zwischen Fluminimaggiore und Iglesias.
Vielmehr ist es ein Wandgemälde, ein Murales, das uns anhalten und grübeln lässt: Ein Frauenportrait im unverkennbaren Modigliani-Stil, mit langem Gesicht und Hals.
Darunter der Hinweis auf das Wohnhaus und die Geschäfte der Familie Modigliani hier in der Region, und es sei „undenkbar, dass der Künstler selbst nicht hier gewesen sei“.
Nun fällt es relativ schwer, einen schillernden, schönen Lebemann in diese zugegeben hübsche, aber doch abgeschiedene und verlassene Gegend zu verfrachten. Wer schonmal hier war, weiss: Fluminimaggiore ist nicht Montmartre. Oder doch?
Nein, der Künstler Amedeo Modigliani (von der Welt später „Modì“, von seiner Familie stets „Dedo“ genannt) reiste höchstens als Teenager nach Sardinien.
Die Geschichte seiner Familie ist eng mit der Insel verbunden. Sie beginnt Ende der 1870er Jahre.
Der Vater wollte vom Boom des Bergbaus auf Sardinien profitieren, hatte in mehrere Unternehmen investiert und die Zink- und Bleimine von Baueddu gegründet.
Mit seinem Bruder erwarb er ein 12.000 Hektar grosses Tal, das „Salto di Gessa“ zwischen Fluminimaggiore und Buggerru, in dem der Wald abgeholzt und zu Kohle verarbeitet werden sollte, ausserdem erhielt er mehrere Konzessionen für den Bergbau. Auch bei Domusnova und Villacidro erwarben die Brüder Ländereien.
Im kleinen Borgo Sant’Angelo war eine Produktionsstätte des Modiglianis-Unternehmen ansässig. Mutter und Kinder lebten getrennt von ihm in Livorno.
Die Geschäfte verliefen insgesamt eher unglücklich.
1884, in dem Jahr als der kleine Amedeo erst geboren wurde, verlor die Familie die sardischen Ländereien wegen Steuerschulden an die Bank. Dass es soweit kam, soll an der jüdischen Herkunft der Familie gelegen haben: jene Zeit war tief geprägt von offenem Antisemitismus.
Der Vater blieb auf der Insel und führte aus dem „Leone d’Oro“, dem Hotel des Familienfreundes Tito Taci (oder Tacci) in Iglesias, ein Maklerunternehmen, das zwischen Minenbetreibern, Holzproduzenten und Produktionsbetrieben vermittelte.
Bei Grùgua hatte der Vater – ungeachtet der schwierigen finanziellen und familiären Verhältnisse – eine Villa bauen lassen. Eigentlich ist das mondäne Anwesen eher ein Weingut, das er neben seinen Geschäften selbst bewirtschaftet haben soll.
Bis vor einigen Jahren war diese Villa unbewohnt, und von den neuen Besitzern dem Verfall preisgegeben. Aber eine Gruppe der Scuola Civica d’Arte Contemporanea (Schule für moderne Kunst) in Iglesias hat dafür gesorgt, dass man das „Casa Modigliani“ oder die „Tenuta Modigliani“ seit diesem Sommer auch besichtigen kann.
Architektonisch ist das Gebäude sehr interessant, weil sie mehrere Baustile verbindet, und auch im Innenteil sind noch erstaunlich viele Details erhalten. Für ein Schild an der Hauswand von 1909 gibt es allerdings keine Erklärung (nein, das sei „nicht das Baujahr, aber eine Renovierung vielleicht“), was immens daran zweifeln lässt, dass der Sohn und spätere Künstler Modigliani je in diesem Haus gewesen ist. Die erwähnte Wandmalerei gibt ebenfalls Auskunft, dass leider keine Dokumente einen Aufenthalt des Künstlers Modigliani beweisen.
Wahrscheinlich ist eher, dass der Vater in der Villa allein weilte. Eine eventuelle Hoffnung, dass seine Familie ihm folgen würde, starb sehr schnell. Die Ehe der Modigliani-Eltern galt als tief zerrüttet.
Doch seit kurzem gibt die einzig noch lebende Nachfahrin, Laure Modigliani-Nechtschein, dem Verdacht in ihrer unveröffentlichten Biografie über den Künstler neue Nahrung: Ende des Jahrhunderts, etwa zwischen 1896 und 1899 soll Amedeo Modigliani den Vater mehrere Male für jeweils mehrere Wochen in Iglesias besucht haben.
Dass Sardinien den Künstler selbst in diesen kurzen Momenten geprägt haben könnte, ist dabei ebenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen.
„Bildnis der Medea Taci“, Öl auf Leinwand, Quelle: http://flumini.blogspot.it
Der Junge verliebte sich nämlich in Medea, die Tochter des Geschäftsfreundes seines Vaters. Und wie so manche Insulanerin umgab sie eine geheimnisvolle, stille Aura. Doch sie erkrankte an einer tuberkulösen Meningitis, an der sie sehr bald starb.
Die Nachricht ihres Todes erreichte Amedeo in Livorno. Er liess sich von der Familie eine Fotografie schicken, und schuf sechzehnjährig das „Bildnis der Medea Taci“ – sein erstes Bild einer Frau – und schenkte es der Familie.
In gewisser Weise hat so auf sein Lebenswerk begonnen, auch wenn der Stil weit entfernt war von dem, den er später fand.
Medea gilt heute als Modiglianis erste Muse. Ihre roten Haare finden sich in vielen seiner späteren Frauenbilder und die traurige dunkle Stimmung die die Frauen auf vielen Werken umgibt, mag ein Spiegel der früheren tragischen Ereignisse gewesen sein.
Modigliani war nach Medeas Tod nicht wieder auf der Insel, soviel ist sicher.
Als er wie Medea selbst 1900 schwer an Tuberkulose erkrankte (auch er sollte jung an der Krankheit sterben), führte ihn seine Genesungsreise mit der Mutter per Schiff entlang der italienischen Südküste. Von einer Fahrt nach Sardinien wird in diesem Zusammenhang nicht berichtet.
Wie dem auch sei – Modigliani war auf Sardinien, wenn auch nur kurz.
Und wer mag, der halte doch das nächste Mal in dem kleinen, halb verlassenen Borgo Sant’Angelo an und streife etwas herum, in dem Dorf, in dem die Geschichten einfach so am Strassenrand zu finden sind.
Quellen:
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