Maria Lai (1919 – 2013) war eine eine Künstlerin der Moderne aus Ulassai. Im besten Wortsinn schuf sie Gegenwartskunst. Nicht nur, dass sie IN der Gegenwart lebte und arbeitete, sondern sie schuf ihre Werke auch FÜR die Gegenwart.

Ein gewaltiger Unterschied, den vor allem ihre Zeitgenossen in ihrem Heimatort zu spüren bekamen. Denn die berühmteste Tochter und Künstlerin des Dorfes hatte wenig Interesse daran, in der Vergangenheit hängen zu bleiben.

Die von Maria Lai geschaffene "eckige Ziege"
Die von Maria Lai geschaffene „eckige Ziege“

Als ihr der Bürgermeister des Ortes im Jahr 1979 auftrug, ein Denkmal für die Gefallenen der Kriege zu schaffen, lehnte sie das ab, mit den Worten: „Ich schaffe Ihnen ein Kunstwerk. Aber nicht für die Toten, sondern eines für die Lebenden.“

Manche sahen das durchaus als Affront. Eine Künstlerin, die es ja auch nicht einfach hatte, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sollte doch dankbarer sein. Über ein Jahr diskutierten Bürgermeister, Stadträte und Einwohner an- und aufgeregt darüber, was nun zu tun war – zumal Maria Lai freie Hand bei der Ausführung gefordert hatte. Schließlich willigten sie doch ein.

Maria Lai wollte ein lebendiges Kunstwerk schaffen, das etwas mit dem Ort und seiner Geschichte zu tun hatte. Der Ort ist einer der am schönsten gelegenen auf der ganzen Insel: Ulassai, eingerahmt von markanten, senkrecht aufragenden Bergen, in der sonnenverwöhnten Ogliastra.

Sie sprach mit den jungen und den alten Menschen des Ortes. Ein Märchen, das von den alten Frauen erzählt und an die Kleinsten weitergegeben wurde, schien das Dorf und die Generationen zu vereinigen.

Die Legende vom blauen Band …

… handelt von einem Mädchen, das mit ihrer Mutter den Hirten in die Berge gefolgt war, um ihnen Essen zu bringen. Angesichts beginnenden Regens und eines aufziehenden Unwetters suchten alle Schutz in einer Grotte in den Bergen oberhalb des Ortes.

Nastro Azzurro - das blaue Band durch Ulassai
Nastro Azzurro – das blaue Band durch Ulassai

In einem Moment sah sie draußen vor der Höhle ein langes blaues Band, das vom Himmel herab zu fallen schien. Trotz des Unwetters sprang sie aus der Höhle und folgte dem Band. In der gleichen Minute ging ein Erdrutsch hinab, verschüttete den Eingang der Höhle und begrub Hirten und Herde. Das Mädchen überlebte.

Wie gesagt, eine Legende. Aber sie schien im kollektiven Gedächtnis von Ulassai verankert zu sein. Maria Lai nahm sie als Ausgangspunkt ihres Kunstwerks. Damit begann der komplexere Teil des Vorhabens. Ein blaues Band aus Baumwollstoff wurde organisiert. Aus gespendeten Stoffrollen riss man Bänder und jedem Haushalt in Ulassai ward ein solches übergeben.

Nebengebäude und Kunstwerk in der stazione dell'arte
Nebengebäude und Kunstwerk in der stazione dell’arte

Die Künstlerin stellte eine Aufgabe an alle Dorfbewohner: Verbinde Dein Haus mit dem Deines Nachbarn.

»Legarsi alla montagna«

Das was zunächst so einfach klingt, war für viele im Gegenteil sehr schwer: Wegen so manchem Nachbarschaftsstreit, Jahrzehnte alten Feindschaften zwischen einzelnen Personen hatten viele nicht nur die Distanz zum nächsten Haus zu überwinden, sondern vor allem die in ihren Köpfen. Maria Lai beschrieb das so: „Freundschaftliche Beziehungen sind eher selten. In der Regel wahrt man die Distanz. Die Menschen hier erzählen sich Geschichten vom bösen Blick und Dramen. Sie sind sehr angespannt.“

Um auch dem Rechnung zu tragen, sollten diejenigen, die miteinander in Freundschaft verbunden waren, in das blaue Band Brote, Gebäck oder Knoten einarbeiten. Alle anderen setzten hingegen keines dieser Zeichen – waren aber gleichwohl mit ihren Nachbarn verbunden. Das Experiment gelang und löste hier und da sogar verstockte Haltungen im Kopf auf. Anderenorts blieben sie bestehen, aber auch das war Teil des Kunstwerks.

Stazione dell'arte, Ulassai
Stazione dell’arte, Ulassai

Unter dem Motto „Legarsi alla montagna“ – was übersetzt bedeutet: „sich an den Berg binden“ oder „sich mit dem Berg verbinden“ – sorgte Maria Lai dafür, dass ein Ende des Bandes von einem Bergsteiger aus Cagliari bis auf den Gipfel des Monte Tisiddu, der das Dorf dominiert, gebracht und dort festgebunden wurde.

Als Kunstwerk der Gegenwart, blieb es einfach so lang, wie es hielt. Ob es in den folgenden Wochen, Monaten oder Jahren zerfiel, abgebaut oder zerstört wurde – all das war Teil des Schaffensprozesses. Die Aktion war in die Zukunft gerichtet und sollte ein Bewusstsein für das künstlerische Potenzial des Ortes und seiner Einwohner schaffen.

Der Film „Legare Collegare“ von Tonino Casula zeigt die Entstehungsgeschichte der Aktion:

httpv://www.youtube.com/watch?v=0rVoN64Fz-o

Stazione dell’arte, Ulassai

Die „stazione dell’arte“ in Ulassai zeigt ca. 140 Werke der Künstlerin Maria Lai. In einem alten Bahnhofsgebäude an einer der Ausfallstraßen des Ortes untergebracht, sind viele Arbeiten mit Nadel und Faden zu sehen – darunter auch wunderschöne Bücher aus Stoffen und Fäden – eine echte Inspiration. Die Besucher werden hindurch geführt und die Exponate werden erklärt (in der Saison auch in Fremdsprachen, gern nach Voranmeldung). Webseite: www.stazionedellarte.it – Öffnungszeiten und Preise unter „visite e orari“. 

Darüber hinaus ist Ulassai selbst eine Art „Freilichtmuseum“, und gespickt mit Kunstwerken. Auch auf dem Weg hinauf zur Grotte Su Marmuri (Informationen auf sardegnaturismo.it), findet Ihr einige der „eckigen Ziegen“, die Maria Lai geschaffen hat, und Texte in Felswände geschrieben. Darüber hinaus das „Casa dell’Inquietudini“ – hier ein Artikel auf pecora-nera zu diesem beunruhigenden Kunstwerk. Auch sehr schön: das Gioca dell’Oca, ein Kunstwerk auf einem zentralen Platz in Ulassai, und auch in Osini, einem Nachbardorf (siehe auch dazu einen Artikel auf unserem Blog, „Das Gänsespiel lernt fliegen„).

Es gibt viel zu entdecken – geht einfach der Nase nach 😉

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