Ein Naturwunder erwartet das schwarze Schaf. Verborgen im Supramonte. Eine versteckte Grotte, die nur denen bekannt ist, die sie entdeckten und anderen, denen sie davon erzählten: der Voragine di Tiscali am Rande des Valle di Lanaittu.
Voragine bedeutet übersetzt Schlund. An der Oberfläche des Monte Tiscali, an seiner westlichen Flanke, ist das „Maul“ des Berges auch erkennbar: eine etwa zehn Meter weite Öffnung, die knapp hundert Meter in die dunkle Tiefe geht. Eine riesige Grotte mit mehreren Höhlen wartet auf uns.
Allein ist die Grotte schwer zu finden und auch nicht ausgeschildert – auch Einheimische vertrauen sich hier einem Guide an (unserer ist aus Oliena und hat die Grotte quasi mit als erster erschlossen), um einen der beiden Eingänge in den Berg zu finden. Mittlerweile gibt es natürlich viele Exkursionen, die jedes Jahr speziell im Juni hierher kommen. Das tut der Schönheit des Schauspiels, das uns erwartet, aber (noch) keinen Abbruch.
Das Besondere an der Grotte ist nicht einfach nur ihre Größe, die in den Ausmaßen an eine natürliche Kathedrale erinnert, sondern ein phänomenales Lichtspiel, das in ihrem Inneren stattfindet.
Im Juni, in der Zeit kurz vor der Sommersonnenwende, steht die Sonne in einem ganz bestimmten Winkel, so dass das Sonnenlicht durch die Öffnung in der Bergoberfläche gebündelt wird und die Grotte erleuchtet. Und das schwarze Schaf wird das heute sehen.
An einem warmen, sonnigen Sonntag im Juni geht es ganz frühmorgens mit mehreren Autos über eine Schotterstraße durch das bezaubernde Tal Valle di Lanaittu (auch: Lanaitto).
Das vom Monte Tiscali und Monte Cusidore eingerahmte Tal ist ein Top-Ziel für Trekkingfreunde. Auch zu Pferd kann man es wunderbar erkunden. Die Hänge der umliegenden Berge sind bei Sportkletterern beliebt, da sie anspruchsvolle Routen mit wunderbaren Aussichten bieten.
Wir fahren so langsam wie möglich, um die Ruhe und die Natur nicht zu stören – und unsere Autos zu schonen. So weit wie möglich geht es hinein, bis kurz vor das Ende des Tals. Wir müssen uns trotzdem beeilen, denn in der Grotte erwartet uns um die Mittagszeit (und nur dann) eben das großartige Lichtspiel.
Irgendwann geht es nur noch zu Fuß weiter. Ein Freund gibt dem schwarzen Schaf noch etwas carburante / Kraftstoff: einen Becher jungen Rotwein. Ein klein wenig hat wirklich noch nie jemanden geschadet – auch wenn das früh morgens schon eine kleine Herausforderung ist.
Erst gehen wir durch ein Stück Wald und treten dann hinaus in die Sonne. Es ist bereits sehr warm. Unsere Guides empfehlen uns, die Strecke in aller Ruhe in uns aufzunehmen. Denn in der Grotte erwarte uns ein fast meditatives Erlebnis und mit der Wanderung könne man sich darauf vorbereiten.
Die Stille ist eindrücklich – aber einige Wanderer haben ihren Labrador mitgebracht, den der Ausflug zu lautem Bellen animiert. Aber das ist in Ordnung, wir lassen uns von dem Hund anstecken und das Trekking wird zu einem fröhlichen Ereignis.
Zunächst gilt es, weiter aufzusteigen, auf einem relativ breiten und gemütlichen Weg. Auf dem Grat eines mittelhohen Vorpostens erklärt unser Guide Flavio uns die Umgebung: Wir blicken auf den Monte Tiscali und den Canyon Horoglios.
Der Weg wird schmaler und führt bergab. In fila indiana / „Indianerreihe“ gehen wir, einer hinter dem anderen, eben wie die alten Indianer schleichen wir über die silbrig-grauen Kalkfelsen, deren vom abfließenden Wasser geschaffene Oberflächenstruktur an die welke Haut einer alten Frau erinnert. Oder an eine Gebirgskette aus dem All betrachtet. Mikrokosmos – Makrokosmos, je nach Blickwinkel.
Dann geht es einen kleinen schmalen Pfad hinunter zum Flussbett. Wir bleiben eng beieinander – im Supramonte kann man leicht verloren gehen, und in unserer Gruppe kennen nicht alle den Weg.
Nach etwa einer halben Stunde sind wir da. Noch eine kurze Verschnaufspause, dann setzen wir unsere Helme auf, schalten die mitgebrachten Taschenlampen an und gehen auf die Wand zu.
Typisch Schaf: Natürlich sieht es die Öffnung im Fels nicht, obwohl es direkt davor steht! Nie im Leben hätte es gedacht, dass sich dahinter der Eingang zu einer der schönsten Grotten der Insel befindet.
Den niedrigen Stollen, der gleich hinter dem Einstieg beginnt, ist zum Teil nur einen Meter hoch. Unser Guide hat ihn mit zwei Freunden vor einiger Zeit selbst gegraben und ausgebaut, um die Grotte auch mit Besuchern erreichen zu können.
Etwa 40 Meter unter dem Kalkgestein hindurch führt er in die Grotte – zum Teil geht es gebückt oder auf den Knien hindurch. Das ist wirklich nichts für Leute mit Beklemmungen.
Der Voragine di Tiscali trägt den sardischen Namen „sa conca e‘ sos troccos“, was übersetzt in etwa „die Grotte und ihre Abgründe“ bedeutet. Das beschreibt vermutlich gut den Blick von oben.
Von dem Punkt, an dem wir aus der Erde gekrochen kommen, haben wir tatsächlich das Gefühl, in eine Kathedrale zu treten: Die Höhle erhebt sich auf gut hundert Meter. Zwar sind unsere kleinen Kopf- und Taschenlampen sind kaum geeignet, die Dunkelheit auszuleuchten, doch die Dimensionen sind auch so beeindruckend.
Wir sind im Inneren der Erde. Wow. Staunen.
Langsam gewöhnen sich die Augen an das Halbdunkel und wir sehen uns um. Durch die Öffnung in der Decke fällt bereits ein wenig Sonnenlicht. Nicht genug, um die ganze Höhle auszuleuchten, aber das stört kaum.
Die Wände des Berges sind von Kalkablagerungen des Wassers bedeckt. Stalagmiten und Stalagtiten hier und dort. Wer schon in anderen Grotten war, hat sicher schon bizarrere Formen gesehen, aber nie eine solche natürliche Schönheit.
Denn die meisten für Touristen erschlossenen Grotten leiden langfristig unter dem künstlichen Licht und den andauernden Besuchen. Oft sind sie auch für den Touristenandrang umgeformt worden – wie zum Beispiel die Neptunsgrotte bei Alghero oder die Grotte del Bue Marino.
Hier finden wir alles so vor, wie es die Natur geschaffen hat. Die Grotte hat sich dem Menschen entzogen. Der Monte Tiscali entstand im Jura vor hunderten Millionen Jahren und seit dieser Zeit gibt es vermutlich auch diesen Ort.
Wir stehen in dem „Hauptsaal“, in dem das Lichtspiel in wenigen Augenblicken beginnen wird.
Wir klettern an einer Seite einen kleine Anhöhe hinauf – von hier aus hat man einen großartigen Blick auf das Spektakel. Hier steht ein kleiner Altar vor einem Stalagmiten, der aussieht wie eine Madonna.
Der Schlund, der oberirdische Höhleneingang des Voragine di Tiscali, befindet sich jetzt quasi genau über unseren Köpfen. Die Sonne kann nur hier hereinscheinen, wenn sie nah am oder im Zenit steht.
Das ist nur in einer Periode des Jahres der Fall, rund um die Sommersonnenwende (21. Juni), wenn die Sonne am höchsten über der Erde steht. Hier im Süden Europas ist fast der gesamte Juni gut geeignet. Die Sonne klettert gegen Mittag nah an ihren Zenit und wenn sie ihren Höchststand über dem Horizont erreicht, ist die dunkle Grotte für einige Minuten hell erleuchtet.
Ein Bündel aus Sonnenstrahlen tritt leicht schräg ein und trifft die Wand gegenüber. Stärker und stärker wird das Leuchten während die Sonne weiter ihre Bahn zieht, über dem „Auge“ der Grotte.
Einige sprechen von einem großartigen Schauspiel, andere bekreuzigen sich, wieder andere sind andächtig still.
Wir sehen alle sprachlos zu, wie sich der Lichtstrahl bewegt und schließlich auf einen Bogen aus Tropfstein trifft – der unterhalb dessen wir in die Grotte gekrochen kamen. Eine gute halbe Stunde erleuchtet die Sonne die Grotte und während der ganzen Zeit sind wir andächtig und fast meditativ.
Auch das schwarze Schaf kommt aus dem Staunen nicht heraus und sitzt und guckt und denkt ein bisschen darüber nach, wie klein es ist und wie unnötig vieles von dem Gewusel da draußen doch ist.
Irgendwann löst sich die Anspannung. Einige rezitieren aus dem Herrn der Ringe. Andere scherzen, dass Aliens denjenigen holen, der sich in den Lichtstrahl stellt. Und tatsächlich trauen sich nur wenige hinunter zum Licht, um sich von ihm umarmen zu lassen.
Und dann sehen wir in der Öffnung zwei Kletterer, die sich genau in diesem Moment in die Grotte hinablassen. Was für ein gutes Timing sie haben! Das sind einfach perfekte und großartige Momente, die du dein Leben nie vergessen wirst.
Als das Licht langsam schwächer wird, besuchen wir noch kurz den zweiten Saal der Grotte – eine Höhle, die bizarre Formen enthält. Sie erinnert an eine Wiese mit Pilzen und eigentümlichen Pflanzen. Wir treffen ein paar Fledermäuse. Im Vergleich zu dem eben Erlebten fast vernachlässigenswert, aber tatsächlich ist die riesige Grotte auch ohne das Lichtspiel ein tolles Ausflugsziel.
Ich komme im Winter noch einmal mit einem Geologie-Kurs zurück, da ist in der Grotte fast gar kein Licht, aber sie hat auch dann eine unfassbar schöne Atmosphäre. Wir bewegen uns mit Höhlenleuchten und Helmen, denn zum Glück ist die Grotte immer noch nicht ausgeleuchtet. Sie ist also auch etwas für Geologen, Höhlenforscher und professionelle Exkursionisten, die mit einem fachlichen Guide die Grotte entdecken wollen. Auf Wunsch stellt das schwarze Schaf gern einen Kontakt her.
Dann geht es wieder durch den Stollen hinaus. Es ist, als erwache man aus einem Traum und gehe langsam wieder zurück in die Realität …
Weit nach 13 Uhr ist es, als wir, immer noch überwältigt, vor dem Eingang der Grotte stehen. Wir quatschen über das Erlebte und stellen fest, dass es gar nichts ausmachte, so lang in der Dunkelheit zu verweilen (wovor viele zuvor Angst hatten).
Wieder in der Freiheit erklärt uns unser Guide, dass der heutige Trek ein alter Weg der Kohlenarbeiter ist. Die traurige Geschichte: Früher war im Supramonte alles voller hoher Bäume. Für die beiden Weltkriege wurden die Hänge gerodet und das Holz zu Kohle verarbeitet. Wenn man genau hinsieht, finden sich noch alte Brandspuren und Kohlenreste.
Nur die Steineiche hat sich am Fuß des Berges wieder angesiedelt, darüber hinaus sind nur vereinzelt Wacholderbäume zu finden.
So unberührt wie sie aussieht, ist die Natur also leider gar nicht. Blöde Menschen, denkt das Schaf.
Wir gehen ein Stück hinaus aus dem Tal und am Fuß des Berges in einem Wäldchen, gibt es eine Stärkung mit einem pranzo pastore, einem landestypischen Mittagessen nach Art der Hirten. Während wir in der Grotte waren, hat ein Freund des Guides alles vorbereitet.
Es gibt pane carasau, selbstgemachten Ricotta mit Honig, und vor dem Feuer sind schon seit einer guten Stunde Ferkelhälften aufgespießt. Allein der Anblick ist nichts für Vegetarier. Der Duft aber, der über den Platz wabert, ist vielversprechend. Auch den selbst angebauten Cannonau nehmen wir dankbar. Der fließt reichlich – und wir sind gespannt, wie wir den Rest des Rückwegs schaffen …
Das schwarze Schaf ist – wie alle anderen hier und heute – dankbar und glücklich, dass es diesen wunderbaren Ort erlebt hat!
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