Am Sternenhimmel stehen Ursa Maior und Ursa Minor, die größere und die kleinere Bärin, und blicken auf Palau. Doch über das Dorf und sein Meer wacht noch ein dritter: ein großer, kräftiger Bär aus Granit.
Signor Orso wirkt nie müde von dem Wind, der ihm stets, tagaus, tagein um die Nase weht. Aufmerksam sitzt er dort am Felsen, der nach ihm benannt ist: Capo d’Orso (Bärenkap, auch bekannt als Bärenfelsen) und blickt auf Palau, das Fischerdorf.
Erst 1875 kam der erste Siedler Giovan Domenico Fresi, Zecchinu gannt, aus Tempio nach Palau. Die Küste galt den Sarden seit jeher als gefährlich. Doch er ließ sich mit seiner Familie hier dauerhaft nieder – der Reichtum an Nahrung aus dem Meer war ein Grund dafür.
Der Bär ist aber schon viel länger da.
Und nimmt auch ein wenig von der Gefahr: Seefahrern galt er über die Jahrhunderte als Wegmarke, um den Weg durch die dem Festland vorgelagerten Inseln aus der Bocche di Bonifacio in Richtung des offenen Meeres zu finden.
Das schwarze Schaf ist neugierig, mehr über den Bären zu erfahren.
Es klettert hinauf auf den Felsen – und fragt.
Pecora nera: Guten Tag, verehrter Signor Orso, wie ist das werte Befinden?
Bär: (guckt verwundert) Ein Schaf hat sich ja ewig nicht hier hoch verirrt …
P: Verirren sich Menschen hier?
B: Es kommen viele, aber die verirren sich nicht, seit der Weg gut befestigt ist. Aber die meisten haben Höhenangst und bleiben hier unter meinem Bauch stehen.
P: Ist Ihnen das nicht unangenehm?
B: Nein.
P: Wieviele kommen denn so im Sommer zu Ihnen?
B: Viele.
P: Sind Sie froh, dass die Saison vorbei ist oder finden Sie es im Winter zu einsam?
B: (würde mit den Schultern zucken, wenn er könnte)
P: Recht einsilbig sind Sie.
B: Bär ist einsilbig.
P: Das ist wahr… Erinnern Sie sich an den ersten Menschen, der zu Ihnen heraufkletterte?
B: Nein eigentlich nicht… Das ist bestimmt schon an die 10.000 Jahre her….
P: Das ist eine lange Zeit… Wieviele Schafsleben sind Sie schon hier?
B: (lächelt zum ersten Mal) Ein paar Millionen.
P: Der Blick von hier oben ist traumhaft. Wie schön ist es für Sie noch, nach all den Jahrtausenden?
B: Das ist zeitlos. Die Granitfelsen, das türkisfarbene Wasser, das ist schon ganz lang so. Und La Maddalena ist auch immer noch so schön wie früher.
P: Gefallen Ihnen die Betonhäuser und die ganzen Straßen und Lichter?
B: Die Lichter sind wunderbar und glitzern auf dem Meer und in der sommerabendwarmen Luft. Man sieht im Dunkeln endlich mal was. Aber es ist wahr, die Lichter kommen immer näher und es werden immer mehr.
P: Wie fing das an mit den vielen Lichtern?
B: Zuerst war da nur der Feuerschein aus ein paar Häusern. Aber die beweglichen Lichter gibt es noch nicht so lang. Über den Weg von dahinten, aus Arzachena kommen immer mehr. Besonders im Sommer, da leuchtet es die ganze Nacht.
P: Stört Sie das beim Schlafen?
B: Nachts bin ich sowieso wach und gucke. Wenn, dann schlafe ich tagsüber.
P: Sie können schlafen, wenn Touristen auf Ihnen herumklettern?
B: Autogenes Training. Dann fühlt es sich an wie eine Massage.
P: Wissen Sie eigentlich, dass Sie berühmt sind? Auch auf dem Festland? Und hier auf Sardinien sind Sie quasi ein Star. Manche sagen sogar, Sie seien DAS Wahrzeichen der Insel.
B: Sicher, das weiß ich.
P: Dabei stehen Sie, mit Verlaub, ja nur rum…
B: Soll ich etwa auch noch Märchen erzählen?
P: Das könnten Sie bestimmt…
B: Ich kenn eins von einem vorlauten Schaf, das von seiner Wiese verbannt wurde…
P: Also, Herr Bär, Verzeihung, Signor Orso: In einer sternenklaren Nacht wie heute – sehen Sie da manchmal zu den beiden Bären da oben?
B: Schon. Aber sehen Sie, ich kenne die ja schon ewig, da redet man kaum noch.
P: Und sonst, sehen Sie eher an den Himmel oder auf das Meer?
B: Beruflich sehe ich aufs Meer. Aber privat lieber an den Himmel. Der ist so vielseitig. Und oft so… bunt. Grad wenn es regnen wird oder geregnet hat. Oder an ganz klaren Tagen sehe ich auch gern durch den blauen Himmel zu den Schneegipfeln auf Korsika.
P: Gibt es einen Moment, in dem Ihnen der Himmel am besten gefällt?
B: Doch. Wenn die Wolkentiere umherziehen. Letztens war da eine weiße Wolke am Regenhimmel, die sah genauso aus wie ich. Das war ein wenig merkwürdig…
P: Ich habe mal ein Eichhörnchen am Himmel gesehen.
B: Ein was?
P: Hasen?
B: Selten.
P: Schafe?
B: (lacht) Wenn sich etwas aufdrängt am Himmel, dann ja wohl Schafe.
P: (etwas peinlich berührt) Sind halt Herdentiere… Bären leben üblicherweise allein?
B: Zum Glück. Wenn hier noch hundert Bären wären… Mir reichen der Delfin und die Schildkröte, die hier noch herumstehen.
P: Wie ist denn das mit der Nachbarschaft hier oben?
B: Die beiden weigern sich, mir ein bisschen Besuch abzunehmen. Ich dachte, die räumen vielleicht mal ein paar Steine weg, damit die Leute zu ihnen können. Wollten sie auch, aber es passiert nichts. Aber würde mich auch wundern, wenn die so viel Besuch bekämen. Der Delfin ist ja nicht ganz so formschön.
P: (hüstelt) Sie erkennen ja auch viele nicht…
B: Also, ich bin nun wirklich sehr groß.
P: Aber nicht so richtig bärig überall.
B: Unverschämt. Was verstehen Sie denn von Bärenfelsen?
P: Naja, wenn man hier so von rechts kommt, ist Ihre Silhouette eher …
B: Ich bin ein Bär und sehe aus wie ein Bär. Fertig. Aber ich verrate Ihnen einen Trick. Sie müssen bei dem kleinen Häuschen da hinten über die Absperrung klettern, um mich richtig zu erkennen. Gehen Sie mal da hinten links auf den Felsen.
P: Das ist ziemlich wacklig … und vielleicht auch gefährlich, wenn man es schon abgesperrt hat?
B: Vielleicht die Erklärung, warum hier noch nie ein Schaf war. Angsthasen.
P: Wie kommt Ihre Form eigentlich zustande?
B: Man nennt mich auch den „Tafoni-Felsen“. Ein „pietra tafunata“ ist ein durchlöcherter Stein. Im Granit finden chemische Reaktionen statt, interessanterweise im Inneren. Das Regenwasser, das von den Wolken einst vom Meer aufgenommen wurde, sickert in mein Gestein und zersetzt dort das Material. Extrem langsam natürlich, aber manchmal kribbelt es. Der Wind, der salzige Feuchtigkeit vom Meer hier hinaufbringt, trägt einen weiteren Teil dazu bei. Meine Bärenform wurde sozusagen im Laufe der Zeit von Wind und Meer ausgewaschen. Und es geht noch weiter. Vielleicht verliere ich irgendwann eine Tatze.
P: Oh. Ja also, wenn das so ist … und wenn Sie von da hinten wirklich bärig aussehen, dann kletter ich halt!
B: Ich weiß ja nicht, ob Schafe schwimmen … Aber vom Meer sieht man meine bärige Seite auch. Die ist noch viel schöner. Sozusagen meine Schokoladenseite. Die Seefahrer sind auch wichtiger, die müssen mich erkennen.
P: Gutes Thema. Erzählen Sie von Ihrem Beruf: Man nennt Sie auch den „Wächter über Palau“. Was genau bedeutet das?
B: Ich wache über Palau und das Meer, damit niemand zu Schaden kommt. Das ist wichtig. Das ist meine Lebensaufgabe: dafür zu sorgen, dass die Schiffe ihren Weg ins offene Meer finden.
P: Erinnern Sie sich an eine Begebenheit, bei der Sie besonders hilfreich waren?
B: Hier kam mal eine Anzahl von Schiffen vorbei, irgendwelche Griechen. Wenn Sie mich fragen, Verrückte. Ich meine, die müssen verrückt gewesen sein, denn sie fuhren Richtung Bonifacio. Ein furchtbarer, böser Ort.
P: Warum?
B: Dort lebten seinerzeit Riesen. Furchtbare Gestalten. Menschenfresser. Das Volk der „Laistrygonen“.
P: (schüttelt sich) Menschenfresser? Wer isst denn sowas?
B: Ein paar von diesen Riesen waren auch auf unserer Insel, aber das ist lang her und Korsika gefiel ihnen wohl besser. Zu der Zeit jedenfalls, als die Schiffe hier vorbeikamen, waren sie scheinbar besonders hungrig… Ich meinte, furchtbares Geschrei weit über das Meer bis hierher gehört zu haben… Jedenfalls kam nach ein paar Tagen nur ein Schiff zurück. Die Besatzung war ziemlich durcheinander, die hätten fast die Untiefen vor Maddalena gerammt. Das müssen Sie sich vorstellen: Erst den Feinden entkommen, nur um dann Schiffbruch zu erleiden. Aber ich war ja da. Der arme Kapitän hat seine Augen nicht von mir gelassen und sich daran erinnert, dass man nur an mir vorbeifahren und immer geradeaus fahren muss. Dann kommt man ohne Gefahr aufs offene Meer.
P: Spannend.
B: Irgendjemand hat später eine Geschichte über ihn geschrieben, Odysseus hieß der Kapitän. Ein wirklich bedauernswerter Mann, ist wohl ziellos auf dem Meer geirrt. Ich bin froh, hier zu stehen – und stehen zu bleiben.
P: Kennen Sie die Geschichte, die man über ihn schrieb?
B: Jemand rezitiert mal eine Passage, die Bonifacio so schön beschreibt, ich hab sie nicht vergessen:
„Jetzo erreichten wir den trefflichen Hafen, den ringsum | Himmelanstrebende Felsen von beiden Seiten umschließen | Und wo vorn in der Mündung sich zwei vorragende Spitzen | Gegeneinander drehn; ein enggeschlossener Eingang!“
P: Sehr schön, Herr Bär, Kompliment. Sagen Sie, um ein richtig guter Wächter zu sein, wäre es dafür nicht hilfreich, ein Leuchtturm zu sein?
B: Ich bin eine über die Jahrtausende bekannte Wegmarke. Die Leuchttürme, diese Angeber, der in Palau oder Porto Rafael und vor allem der in der anderen Richtung, dieser Jungspund von Baia Sardinia – sie alle meinen, sie können mir das Wasser reichen. Hier unten am Kap ist aber tatsächlich einer, der ist recht umgänglich. Naja, ich mache meinen Job weiter wie bisher, in aller Ruhe.
P: Wacht auch jemand über den Bärenfelsen?
B: Natürlich. Die beiden Bärinnen am Himmel kümmern sich bestens um mich.
P: Vielen Dank, Herr Bär, für das Gespräch!
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Anja Marks
8. September 2021 at 12:30Hallo Frau Schwarzes Schaf, eine sehr schöne Dialog-Geschichte, die mit dem Bären, vielen Dank dafür. Besonders die Stelle mit Odysseus, ich bin auch Anhängerin der Theorie, dass er die Lästrygonen auf Korsika getroffen hat. Alles Gute weiterhin.
Viele Grüße von einer anderen Mittelmeer-Insel, Anja.