„Rechts“ ist eine Interpretationsfrage. Die Nuraghier lebten nun mal nicht in einer binären Welt. Das ist mir nach langer Zwiesprache mit ihnen klar geworden. Wenn man also die höchst(gelegene) Nuraghe der Welt finden will, dann kommt es bei „rechts“ vor allem auf das Timing an: Wann genau rechts? Man sollte auch nicht den Fehler machen, dazu den netten Typ von der Café-Bar auf dem Weg zu fragen. Er lebt glücklich mit einer Rechts-Links-Schwäche. Wie gesagt, er ist ein netter Kerl und spricht sogar passables Englisch. Vielleicht liegt auch genau hier das Problem.
Auf der anderen Seite kann man in dieser Gegend unmöglich ein falsches „rechts“ wählen. Denn die Umgebung der höchsten Nuraghe ist atemberaubend, egal, welches „rechts“ man nimmt. Das gilt übrigens auch für „links“. Richtig wird schnell nichtig und aus falsch ein Haupttreffer.Damit ist Grundlegendes geklärt und wir können uns nun ganz auf die Suche nach dem weltweit topographisch-nuraghischen Höhepunkt konzentrieren. So ungefähr steht es im archäologischen Reiseführer.
Am besten startet man in Villagrande Strisaili oder Arzana und nimmt die SS 389 Richtung Norden. Je nachdem, erreicht man in 4 bzw. 7 Kilometern eine Steinbrücke, die im rechten Winkel nach links abzweigt. Brücken sind zum Überqueren da. Das ist offensichtlich. Auf der anderen Seite angekommen, kann man mit ein bisschen Wehmut die verlassene Bahnstation von Villagrande betrachten, die bald soweit heruntergekommen sein wird, dass davor ein Shoot-out oder Show-down irgendeiner Art vor laufenden Kameras stattfinden sollte. Jemand sollte unbedingt Clint Eastwood Bescheid geben, falls er sich endlich wieder besinnt, nicht nur noch sentimentalen Quatsch zu drehen.
Egal, zurück zur Orientierungsfrage: Die Brücke geradeaus weitergedacht, liegt leicht erhöht, eine Jausenstation und rechts… ja wieder dieses rechts, folgt man einfach dem kurvig asphaltierten Straßenverlauf und orientiert sich immer der Fladenspur entlang, die wohlmeinende Kühe gelegt haben. Die Straße schlängelt sich lieblich ein paar Kilometer entlang, was einschläfernde Wirkung hat, aber dann attenzioni(!) gabelt sie sich ziemlich unvermittelt und es taucht vor einem auf: Das „rechts“, auf das es ankommt! Die Schmalspurbahn täuscht übrigens auch erst einmal ein rechts an, bevor sie sich dann auf Nimmerwiedersehen ins linke Nirgendwohin hinwegschlängelt. Man quert ihre Gleise kurz nach der Abzweigung ein letztes Mal und folgt der nun am Seeufer entlang mäandrierenden Straße ein paar weitere Kilometer.
Rechts unterhalb der Straße staut sich der See, das wird bald langweilig und man wünscht sich ein Wasserski-Ballett zu sehen oder Orcas, die Kunststücke vollführen. Ob Orcas, sofern die Ernährungsfrage gelöst wäre, Süßwasser abkönnen? Ich sinniere gerne über derart wichtige Fragen, nur beinhält das immer das Risiko, den Fokus zu verlieren. Deshalb verpasse ich beinahe den nächsten Moment der Wahrheit. Plötzlich taucht mittig – so plötzlich wie sich ein Objekt, das sich seit Jahrtausenden nicht bewegt hat eben auftauchen kann – ein bearbeiteter Fels in das Blickfeld, ein Fels, der eher einem Grabstein ähnelt, wie es sich vielleicht einmal Reinhold Messner wünschen würde. Auf seiner glatten Vorderseite (ich spreche jetzt wieder vom Fels und nicht vom Messner) findet sich eine reichlich stilisierte Karte eingemeißelt.
Die Nuraghe Orruinas entdeckt man auch auf diesem Vorläufer moderner Weltkarten – ich glaube mich zu erinnern – mit Nummer 10 oder 11 bezeichnet. Der Weg dorthin führt erst leicht rechts, dann bergab und dann wieder mal rechts. Oder war es zwischendurch mal links? Egal, wir übernehmen besser keine Verantwortung. Man soll sich am besten diese Steinkarte genau einprägen, ein Foto davon machen und selbst verantwortungsbewusst genug sein, den Plan zu interpretieren. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Menschen davon abzuhalten oder zu ermuntern, ihre eigenen Fehler zu machen.
Also weiter auf der Suche nach der Nuraghe Orruinas, bergab. Die Fragezeichen mehren sich: Kann es zur höchsten Nuraghe der Welt bergab gehen? Wurde der Karten-Fels verdreht, um uns zu täuschen? Endlich ist der Tiefpunkt des Zweifelns erreicht und es geht wieder bergauf und das mithilfe äußerst ambitionierter Kehren. Der Straßenbelag ist meistens überraschend gut, vielleicht weil ihn Kühe ablecken. Das stellt man in der übernächsten Kurve fest. Da steht stoisch eine bovine Herde und schmatzt an der Fahrbahn, als wäre es Lakritz. Wurde dem Belag iodiertes Salz beigegeben, wachsen dort schmackhafte Algen oder versuchen die Rindsviecher nur ihr Spiegelbild in der Leckspur zu betrachten? Vielleicht handelt es sich auch um räuberische Bergkühe, die Heranfahrende zum Stehenbleiben zwingen wollen? Egal, wir bremsen, denn die sind stärker. Und vor allem verdammt abgebrüht. Zeigen keine Nerven. Endlich, nach Minuten des Wartens bequemen sich die Damen, einen Schritt zur Seite zu tun. Ein kackfreches Exemplar lässt ihre Noch-nicht-Flade beinahe auf unsere Motorhaube fallen. Unserem Hupen wird mit äußerstem Gleichmut begegnet. Ausgerechnet der vier Meter große Bulle tritt bereitwillig zur Seite. Wahrscheinlich sollte sich Jurassic Park ein Beispiel nehmen an diesem Beispiel einer friedfertigen Koexistenz von Monstern und Autos.
Irgendwann hat man diese und die nächste Kuhherden dann doch passiert und verlässt Asphalt. Wahrscheinlich besteht eine Kausalität zwischen diesen beiden Entwicklungen. Noch wichtiger ist allerdings das, was sich am Horizont vor der glücklicherweise unbekackten Motorhaube, vor der staubigen Piste abzeichnet: Die wohlmeinende Königin der von Menschenhand geformten steinernen Auftürmungen – die bestimmt höchstgelegene Nuraghe der Welt!
Ein Prachtexemplar, erhaben, edel, eine Nuraghe, von der keine wuselige Botanik ablenkt, eine Nuraghe, die sich im kargen Umfeld noch entschlossener, noch einsamer, noch verlassener, noch majestätischer nach oben gen Himmel schraubt. Vielleicht sollte ich, bevor vom Schwärmen davongerissen, noch schnell eine Sache klarstellen: Offiziell (wobei man sich fragen muss, wer die Autorität haben könnte, das zu entscheiden) heißt es wohl „der“ Nuraghe. Aber da ich männlich bin und gerne Nuraghen umarme, ist mir eine weibliche Nuraghe irgendwie lieber.
Da steht sie also nun: Die Nurraghe Orruinas, eingerahmt von – das fachkundige Auge erkennt es natürlich sofort – den Resten dutzender nuraghischer Wohngebäude und Zweckbauten. Ich möchte das betonen, denn ich mag es, mir vorzustellen, dass die Nuraghier sich die Mühe mit den Nuraghen einfach so machten. Komplett zweckfrei. Naja, vielleicht, um uns an der Nase herumzuführen.
Orruinas ist komplex, der ganze Komplex ist ruinös, das erkennt man natürlich auch mit einem Blick. Worte sollten hier nicht verschwendet werden, um persönliche Erfahrungen vorwegzunehmen. Der routinierte Nuraghensucher weiß, dass das erste unvoreingenommene Auge-in-Auge mit der Nuraghe ein fragiler unersetzlicher Moment ist, der den weiteren Verlauf der Beziehung bestimmt. Man nehme sich Zeit. Man spüre das Spröde dieses Vorläufers allen hoch Hinausgewolltem, in dünner Luft Errichtetem, gewissermaßen eine vorausgenommene Synthese von Machu Picchu und der Gipfelstation der Ötztaler Gletscherbahnen. Nur viel besser. Und auf jeden Fall einsamer.
Der angenehm warme Wind zerrt mehr an den Haaren, als an den Steinen, während ich sinniere: „Was haben sie bloß hier gemacht, die Nuraghier?“ Wurden bronzene Wandernadeln ausgegeben, gab es Essigwurst, karierte Tischdecken? Aus was bestand die Essigwurst? Was wurde dem durstigen Wanderer gereicht? Buttermilch? Klares Quellwasser? Ich blicke zum wiederholten mal 360 grädrig, wie eine Eule, aber mein Auge findet nicht Halt an der verräterisch-dreieckigen Form eines Brunnenheiligtums. Auch plätschert oder zumindest rieselt es nicht. Ich würde sie so gerne fragen, die Nurgahier. „Wo habt ihr hier Wasser geholt?“ Nur heute antworten die Steine nicht.
Nach einer Stunde der Kontemplation, nur unterbrochen vom Klicken der Kamera, eine letzte Umarmung von Orruinas, dann verlassen wir diesen wundervollen Ort. Vorbei an obstruktiven Kühen, Kehren hinauf, Kehren hinunter: Wiederkehr! Ist es nicht ironisch: Ein rechts wird am Rückweg zum links?
Abends liege ich im Bett und lasse den Tag noch einmal Revue passieren. Ich fühle mich stolz und seufze zufrieden: „Das was das Höchste aller Nuraghen!“ Da dreht sich meine App zu mir herüber: „Du übrigens – Deine Orruinas liegt auf beachtlichen 1186 Metern!“ Dann macht sie eine Pause, die mich misstrauisch macht: „Sag schon, spuck’ es aus!“. „Aber die Su Calavriga, ganz in der Nähe bringt es auf 1429!“, lacht sich die App ins Fäustchen.
Beim Nuraghen-Quartett hätte ich jetzt verloren.
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