Nulvi ist ein rund 2.600 Seelen zählender Ort in der hügeligen, landwirtschaftlichen Region Anglona. Gänzlich abseits aller touristischen Rennstrecken, fahre ich durch goldene, sommertrockene Felder und entferne mich immer weiter vom Sommertrubel an den Küsten.
Wer nach Nulvi fährt, hat meist einen Grund. Auch ich habe einen, sogar einen der besten. In Nulvi wiederholt sich jährlich ein Ritual, das ich mir ansehen will: Sa Essida de Sos Candhaleris.
Das Fest wird auch Candelieri di Nulvi genannt, kurz: das Kerzenleuchterfest. Ein bisschen sperrig, der Name, aber zum Ursprung gleich mehr. Es wird am Nachmittag des 14. August ausgetragen. Dies ist der Vorabend der Himmelfahrt (assunzione) der Jungfrau Maria, im Fall genannt Beata Vergine Assunta. Sie ist die Schutzpatronin des Ortes Nulvi.
Das Datum des passenden katholischen Feiertages fällt wiederum mit dem italienischen Feiertag Ferragosto zusammen, der im Mittelalter vom 1. auf den 15. August verlegt wurde – ein Ergebnis der Christianisierung, als die Kirche geistige und weltliche Feste gern mal zusammenlegte, um das Volk bei Laune zu halten.
Traditionell macht zu Ferragosto ganz Italien Urlaub. Und so sind Mitte August enorm viele Reisende auf der Insel. Und auch nach Nulvi kommen einige.
Am Ortseingang werden wir zu einem Parkplatz außerhalb gelotst. Nulvi ist übersichtlich und ins Zentrum sind es zu Fuß nur ein paar Minuten. Mit einem Käppi und in luftiger Kleidung ist die Sommerhitze gut zu ertragen.
Umso erstaunter bin ich, dass das Geschehen geradezu familiär wirkt, obwohl sich die Leute in den Straßen dicht drängen. Man kennt sich, man trifft sich, man redet, erzählt von der Familie und Arbeit, trinkt ein Bier. Freunde und Verwandte sind aus allen Inselteilen und die erwachsenen Kinder vom Festland heran gereist.
Wir Urlauber und Fremde sind hingegen in der Unterzahl – ganz angenehm eigentlich. Ich vermute das ist so, weil zeitgleich die Discesa dei Candelieri in Sassari stattfindet. Das Fest in der nahegelegenen Stadt ist gleichen Ursprungs, wird etwas anders ausgeführt, und ist als Teil eines Weltkulturerbes (siehe ganz unten) berühmter und größer – über 100.000 Leute werden in diesem Jahr erwartet.
Ein Touristenmagnet. Ohne Frage auch sehenswert. Aber so als schwarzes Schaf hab ich ein Faible für kleinere Dorffeste und mir reichen die rund 1.000 Gäste, die man in Nulvi erwartet.
Ich fahre außerdem sehr gern irgendwo hin, wo ich noch nie war und wo nicht alle sein wollen, um einen Haken in der Urlaubsliste zu machen. Wenn jemand mich also mal wieder nach einem Geheimtipp für Sardinien fragt, und was „das Beste“ sei, das man auf Sardinien unbedingt gesehen haben muss, sage ich einfach: Nulvi. Und die Antwort wäre sogar richtiger als „La Cinta“.
Ich bin jedenfalls sehr happy, heute in Nulvi zu sein und nicht am Strand. Und als ich um eine Hausecke in die Hauptstraße, den Corso Vittorio Emanuele, einbiege, bin ich sofort mächtig beeindruckt:
Drei riesige, haushohe Holzkonstruktionen, die Leuchter mit Kerzen darstellen sollen, werden für die Prozession präpariert.
Ich frage natürlich gleich jemanden, der wie ein Teilnehmer aussieht, warum es eigentlich Kerzen sind.
Und weil der Befragte das nicht direkt erklären kann – weil er gleich an der Prozession teilnimmt und anderes zu tun hat – lädt er uns zu einem kalten Bier ein (Jep, Sarden sind tatsächlich Biertrinker) und verspricht, mir später ein bisschen zu erzählen.
Da ist sie wieder, die omnipräsente, ganz selbstverständliche Form der sardischen Gastfreundschaft, die sich in keinem Touristenprogramm planen lässt. Und das „später” ist auch keine Ausrede – denn tatsächlich treffen wir ihn wieder, ganz natürlich und ungeplant.
Er hat Zeit, ist entspannt und wir unterhalten uns über Nulvi und die Kerzen.
Die direkte Übersetzung von Candelieri ist Kerzenständer oder Kerzenleuchter. Ursprünglich ging es um Kerzen bzw. Kerzenwachs.
In Nulvi (und in ganz Sardinien) wütete im Mittelalter die Pest. Die Not war groß, die Leute hungerten und starben reihenweise. Ihnen blieb als letzte Hoffnung die Religion.
Die Einwohner von Nulvi wandten sich an ihre Schutzpatronin, die Jungfrau Maria, bat um das Überleben des Dorfes, um das Ende des Leidens und um neuen Wohlstand – und legte ein Gelöbnis ab.
Da die Region zu jener Zeit unter dem Einfluss der Republik Pisa stand und sich auch einige pisanische Kolonien in der Anglona befanden, wurde eine von dort importierte Tradition zu Ehren der Jungfrau adaptiert: Sarden und Pisaner gelobten gemeinsam, der Madonna zum Dank für das Überleben Wachs und Kerzen zu spenden, für die liturgischen Zwecke ihrer Kirche.
Die Familien der drei wesentlichen Berufsgruppen – Landwirte, Hirten und Handwerker – legten ihre Gaben zusammen. Die Männer transportierten Kerzen und Wachs zur Kirche und übergaben sie im Namen der Bewohner rechtzeitig zum Fest der Stadtpatronin, dem Festtag Mariä Himmelfahrt.
Denkbar, dass sie diese in Behältern auf ihren Schultern in die Kirche trugen. Vermutlich waren diese Behälter festlich geschmückt und jemand trug einen Kerzenleuchter voran.
Denkbar auch, dass die Opfergaben als heilig betrachtet wurden, denn auch in Pisa wurde das gestiftete Wachs in einer Art Schrein mit der Darstellung der zum Himmel auffahrenden Jungfrau versehen. Die Kerzen- und Wachsopfer wurden dem versammelten Volk gezeigt.
Nach und nach wurde die Tradition aufwändiger zelebriert. Die Kerzenleuchter nahmen die Form von Tabernakeln an – eine Art Schrein auf einem Holzgerüst, mit Bannern und Fahnen geschmückt und von mehreren Trägern auf den Schultern getragen.
Die Größe und Pracht sollten Ehrfurcht beim Publikum auslösen.
Die Candelieri von Nulvi sind dieser ursprünglichen Form am nächsten. Ihr Fuß sieht durchaus wie der eines Kerzenleuchters aus; darauf steht die Votivfläche.
In Pisa (und auch in Sassari) wurden diese „mobilen Altarbilder“ irgendwann durch hölzerne Säulen mit Kapitellen ersetzt, da diese leichter und einfacher zu handhaben waren.
Diese Neuerung ermöglichte es den Trägern auch, die Säule anzuheben und sie im Rhythmus der Musik zu bewegen. Darum hat das Candelieri-Fest in Sassari auch Musik- und Tanzelemente, die in Nulvi fehlen.
Dafür wurden die „Kerzenleuchter“ in Nulvi aber irgendwann neun Meter hoch und acht Zentner schwer. Warum, weiß ich nicht. Aber das macht nichts.
Um die Vorgeschichte abzuschließen: Nulvi überlebte die Pest tatsächlich und mauserte sich in den folgenden Jahrhunderten zu einem wohlhabenden, landwirtschaftlichen Zentrum. Fest und Gelübde werden daher seit dem Mittelalter jährlich erneuert.
Widmen wir uns der Prozession.
Die drei wesentlichen Berufe im sardischen Mittelalter – Landwirte, Hirten und Handwerker – sind auch heute noch in der Realität Nulvis anzutreffen.
Und sie sorgen bis heute für den Wohlstand des Dorfes, irgendwo mitten im sardischen Hinterland, der komplette Gegenentwurf zum blinkenden Großstadtleben.
Viele Einwohner haben eine Arbeit in diesen alten Berufszweigen – oder sagen wir mal so: PR-Berater und IT-Spezialisten sind eher unterrepräsentiert. Auch die Jugendarbeitslosigkeit sagt man uns, sei recht gering. Es gibt immer zu tun in Nulvi und irgendeine Arbeit findet ein Nulvese immer.
Aber auch deswegen ist diese Tradition so lebendig. Weil der Segen bis in die Neuzeit zu reichen scheint und weil alle teilhaben.
Jeder der drei Berufe hat eine eigene Farbe, die auch die Landschaft rund um Nulvi beschreiben.
Die Handwerker, Sos Mastros, tragen auch blaue Hemden. Landwirte und Hirten hingegen bevorzugen ihre traditionelle, sardische Kleidung aus einer schwarzen Hose und einem schlichten weißen Hemd.
Auch die drei riesigen Votiv-Kerzenleuchter sind in diesen Farben gehalten.
Die große Vorderfläche ist mit Verzierungen aus Pappmaché, farbigem oder versilbertem Papier sowie einer Art barocker Stofftapete, die um eine Konstruktion aus Schilfrohr und Holzleisten geschlungen wurde.
Vier Männer halten Seile zu jeder Ecke, um die instabilen, meterhohen Kerzen zu steuern.
Den Hirten wird die Ehre zuteil, die Prozession zu eröffnen.
Dann ist die pure Kraft von jeweils 16 Trägern nötig, um die Candelieri anzuheben, auf ihre Schultern zu bugsieren und dann in durchaus sportlich zu nennendem Tempo durch den Ort zu tragen.
Das ist in den Gassen, die zuweilen auch bergauf und bergab führen, und oft gerade mal so breit sind, dass ein Auto hindurch passt, gar nicht so einfach.
Die Gesichter der Träger sind von Beginn an entsprechend konzentriert und werden vor Anstrengung immer verzerrter. Das Leiden ist ein Symbol und Teil des Gelübdes. Die schwere Last erinnert irgendwie auch an den Kreuzweg.
Wer mag, folgt ihnen – muss aber damit rechnen, dass es eng und anstrengend wird und auch mal gerempelt oder gebrüllt wird. Manchmal sieht man vor lauter Mensch auch rein gar nichts.
Aber näher dran an der Tradition geht nicht! Mir ist das sehr recht!
Tipp: Falls du nicht gut zu Fuß bist, gehe nach dem Start der ersten Gruppe am besten durch den Ort und dann hinauf zur Kirche San Sebastiano. Dort kommt die Prozession garantiert an. » Piazza Caserma (Link zu Google Maps)
Man kommt aus den engen Gassen auf einen relativ großen Platz an der Chiesa di San Sebastiano. Wir überblicken die Gegend, im Hintergrund erheben sich die Hügel. Ein Pferd wiehert. Alles passt.
Hier ist für mich einer der schönsten Momente. Auch, weil der Ort so schön ist und die Leute wieder ins Quatschen geraten. Alles ist relaxed.
Auch emotional ist es ein besonderer Moment: Die Träger haben die erste Etappe geschafft und können sich zusammen mit uns, die wir mitgelaufen sind, ausruhen. Einige lassen sich auswechseln.
Und alle sind immer noch in gespannter Erwartung.
Denn es kommen noch zwei Highlights:
Zur Discesa renne ich schnell hinunter, um einen der raren Plätze zu ergattern. Die Polizei schickt die Leute so gut wie möglich an die Seiten. Denn wenn hier irgendetwas passieren sollte, dann gute Nacht.
Höchste Konzentration also!
Im Corso Vittorio Emanuele angekommen, ist die größte Aufregung vorbei, aber die Konzentration darf nicht nachlassen.
Denn die Candelieri werden nach der Prozession in die Kirche zur Segnung gebracht, und durch das Portal kommen sie nur horizontal.
Die Szene des Herabsenkens der enormen Candelieri direkt vor dem riesigen Wandgemälde ist sehr beeindruckend. Alle verfügbaren Hände heben sich, um die Konstruktion zu halten.
In der Pfarrkirche Beata Maria Assunta werden die Candelieri in einer bestimmten Reihenfolge hingestellt:
Die Landwirte betreten die Kirche zuerst und stellen ihren Leuchter in der Mitte vor der Madonna auf. Die Handwerker nehmen den Platz rechts von der Madonna ein. Die Hirten kommen zum Schluss hinein und stehen auf der linken Seite.
Sie werden gesegnet und sind auch Bestandteil einer Messe am eigentlichen religiösen Festtag, dem 15. August, das aber so gut wie kein Tourist mehr mitmacht. Dies ist dann wirklich das Fest der Einheimischen und mich beschleicht das Gefühl, sie sind dann auch gern als Gläubige unter sich.
Nach dem Fest werden die Kerzenständer in die kleine Kirche San Filippo gebracht, in der sie bis zum nächsten Jahr aufbewahrt werden.
Die Candelieri di Sassari sind übrigens seit 2013 Teil des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit der Unesco.
Wenngleich nicht offiziell in der Liste gehören auch die Kerzenleuchter in Nulvi zu den „Feierlichkeiten zu großen schultergetragenen Prozessionsbauten in Italien“ (Celebrations of big shoulder-borne processional structures). In ganz Italien gibt es noch mehr – eingetragen sind neben Sassari nur die Traditionen in Nola, Palmi und Viterbo (was eher an dem bürokratischen Prozess liegt).
Auf Sardinien gibt es noch in Iglesias eine Prozession mit Kerzen und Schreinen – auch sehr sehenswert, und noch einen Tick religiöser als in Nulvi.
Das nur der Vollständigkeit halber. Ehre, wem Ehre gebührt 🙂
https://www.cityandcity.it/sa-essida-de-sos-candhaleris-il-rispetto-della-tradizione/
https://www.comune.nulvi.ss.it/nulvi/zf/index.php/servizi-aggiuntivi/index/index/idtesto/3
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