Stark und hallend, rau und weich trifft ein Gesang mitten in unser wolliges Herz. Wenn die Männer singen, wissen wir Schafe: Alles ist in bester Ordnung. Denn sie waren nicht mehr allein. Emotionen aus längst vergangenen Zeiten, als wir noch auf Wanderschaft waren, sind in unser gemeinsames, kollektives Gedächtnis eingebrannt.

Die Gesänge sind uralt und gehören speziell in der Inselmitte, in der Barbagia, in den Bergregionen zur Transhumanz / Transumanza. Zum jährlichen Weidewechsel hatten die Hirten ihre Familien verlassen müssen und in die Ebenen und fruchtbaren Regionen wandern müssen.

Cantu a Tenore: Nähe und Distanz

Trafen sie sich untereinander, bildeten sie eine temporäre Gemeinschaft. Zwar versuchten sie es zu vermeiden, damit die Herden nicht zu groß und unübersichtlich wurden. Aber wer monatelang fern seines Zuhause lebte, brauchte auch für sich irgendwann eine kleine „Herde“, und sei es auch nur eine aus Schäfern.

Zwar sind Hirten ja nie Männer großer Worte und oft saßen sie auch nur schweigend beieinander. Offensichtlich hatten sie aber das Bedürfnis, sich auszutauschen. Und aus dem Schweigen entstand – eher zufällig – dieser poetische Gesang. Er schuf sehr große Nähe und wahrte gleichzeitig ausreichend Distanz.

Der Tenorgesang Sardiniens als immaterielles Weltkulturerbe

Der Cantu a Tenore / Su Càntigu a Tenore / su cantu a tenore, der künstlerische Gesang der Hirten, gehört zum »immateriellen Kulturerbe der Menschheit« der UNESCO. Er ist ein fundamental wichtiger Teil des kulturellen Vermächtnisses Sardiniens.

Üblicherweise sind die Tenores zu viert. Sie bilden mit ihren Stimmen quasi ein kleines Orchester:

  • Su Bassu – die tiefe Stimme
  • Sa Contra – die Gegenstimme
  • Sa Mesu Boghe (oder: Sa Mesa Oche) – die halbe Stimme
  • Sa Boghe – die Stimme, also der Vorsänger, er gibt Melodie und Rhythmus an

Manchmal fehlt auch eine Stimme – wie in diesem Hörbeispiel der Tenores Supramonte Orgosolo. Das macht nichts, denn es sangen ja immer so viele Hirten wie gerade da waren – in ihrer Stimmlage.

Da ich zugegebenerweise überhaupt keine Ahnung von Musik habe, lasse ich hier mal jeden Versuch der Erklärung. Aber dafür gibt es ja auch Leute, die sich auskennen:

Die beste Demonstration dieser Gesangskunst zeigt das multimediale Museum Museo Multimediale del Canto a Tenore in Bitti. Es hat 2020 frisch renoviert eröffnet und freut sich auf euren Besuch 🙂

Die Tenores di Bitti sind sicher die berühmtesten, aber von diesen Männerchören gibt es wirklich viele in ganz Sardinien. Da lohnt sich wirklich, ein bisschen rumzuhorchen.

Die meisten finden wir im Nuorese, also in der Inselmitte, wie z. B. die Tenores di Neoneli, Tenore Su Connottu di Fonni, Tenores di Orgosolo, Sos Coroneddos di Bultei, Santu Pretu di Loculi, Santu Gavinu di Illorai, Santa Maria di Ottana, Ospitone di Ollolai, Grazia Deledda di Nuoro … 

Manche Chöre haben auch mehr Sänger, die sich in den unterschiedlichen Stimmen ordnen.

Vom Männerchor Grazia Deledda aus Nuoro hier eines der Stücke, die ich sehr gern höre, Nanneddu meu (gehört während der Ausstellung von Marianne Sin-Pfältzer im Spazio Ilisso, Nuoro):

Coro Grazia Deledda, Nuoro

Und manchmal stellt man sich auf Festen auch einfach so zusammen und singt. Sicher weil sie es irgendwie können und vielleicht Teil eines Chores sind:

Manchmal sind es auch keine textreichen Lieder, sondern sich wiederholende Töne und Phrasen, die sehr schön anzuhören sind, wie hier, beim Festival Isole che parlano in Palau, am Capo d’Orso und vor der wundervollen Kulisse der Insel Caprera. Ein bisschen deplatziert sagen die einen, nicht „hirtentümlich“ genug. Wichtig für das kulturelle Verständnis der Insel sagen die anderen. Vor allem bei den Urlaubern, die niemals ins Nuorese fahren würden. Natürlich passt das da hin.

Hach, aber ich LIEBE die Gesichter und die Hilflosigkeit der Umstehenden in der Metro in Mailand, als diese Tenores einfach anfangen zu singen – herrlich!

Tenores di Bitti in der Mailänder U-Bahn

Apropos Liebe …

Melancholie – und sehr viel Liebe

Auch wenn der Gesang für ungeübte Ohren schwermütig, melancholisch und theatralisch klingt und die sardischen Texte zudem unverständlich sind, berührt der Cantu a Tenore doch irgendwie. Liegt vielleicht daran, dass der Großteil sehr viel Liebe beinhaltet und ans Herz geht. Das spürt Mensch vielleicht.

Nicht nur Non potho reposare als Liebeslied, sondern auch das obige Nanneddu meu ist von inniger Liebe zur Familie und zu den Liebsten geprägt.

Viele Lieder beschreiben geradezu liebevoll die unzerstörbare Verbindung mit der Natur, Heimat, Familie und Freunden. Auch die Wiedervereinigung mit der Dorfgemeinschaft, wenn die lange Transumanza dem Ende zu ging, ist Thema der gemeinsamen Gesänge. Sie sprühen nur so von der Sehnsucht der Hirten, bald wieder Zuhause zu sein.

Die Hirten sind der Schlüssel, um Sardiniens Kultur zu verstehen.

Heute singen aber nicht nur Männer. Es gibt auch Damen, die die Lieder aufgreifen und mit ihrer weiblichen Stimme bereichern. Wie Federica aus Cagliari, die zudem auch noch als eine wenige Frauen auf Sardinien das alte Hirteninstrument, die Launeddas spielt. Du triffst sie vielleicht mal auf der Insel mit ihren Kolleginnen, in ihrer rein weiblichen, traditionellen Band »Su Cunzertu Antigu« (instagram-Profil). Und auch in Tertenia gibt es eine Damengruppe, die die Launeddas spielt.

Non potho reposare – in Launeddas und gesungen

Außerdem gibt es auch ganz viele religiöse und christliche Lieder. Das bleibt nicht aus, wenn man heimatlos irgendwo Halt sucht.

Sardisches Liedgut als Weh- und Anklage

Eines der wichtigsten Lieder auf Sardinien ist aber eines, das nicht nur wehmütig ist, sondern auch anklagt: Barones sa tirrania (oder: Su Patriottu sardu a sos Feudatarios)

Es ist ein Lied der Revolution und Rebellion, eine Anklage in 47 (!) Strophen. Francesco Ignazio Mannu schrieb es während der Feudalherrschaft der Piemontesen auf Sardinien. Das unterdrückte und nach Demokratie hungernde Volk warnt darin, dass seine Geduld vorbei sei und sie bereit wären, für ihre Freiheit zu kämpfen und zu sterben. Für viele Sarden ihre heimliche Hymne; einige nennen sie die »sardische Marseillaise«.

47 Strophen wollen natürlich erstmal gesungen werden – aber als Hirte hatte man ja Zeit.

Murales in Orgosolo mit den Tenores, das die Unterdrückung durch die Piemontesen thematisiert
Murales in Orgosolo mit den Tenores, das die Unterdrückung durch die Piemontesen thematisiert

Das einzige, was wirklich, wirklich schade ist: Wir Schafe sind nur noch sehr selten bei den Tenores, wenn sie singen. Aber wenn, dann sind wir glücklich. 

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