Agriturismo. Das ist im Kopf vieler Sardinien- und Italienreisender heute als: „viel landestypisches Essen“ abgespeichert. Ein mehrgängiges Menü, mit großen Portionen, Wein und Mirto, so dass man hinterher nur noch hinaus kugeln kann. Einmal im Urlaub „muss man“ im Agriturismo gegessen haben. Und natürlich im „Besten“, den es gibt 😉

Sicher hat ein Agriturismo auch etwas mit Essen zu tun. Und daher gibt es heute tatsächlich auch touristische Betriebe, die nur das anbieten – weil es nachgefragt wird.

Doch Essen ist nur ein kleiner Teil von dem, was das Agriturismo-Konzept im Kern ausmacht.

Und von der ursprünglichen Idee ist das ziemlich weit entfernt. „Urlaub auf dem Bauernhof“ kommt dem etwas näher – aber tatsächlich geht (oder ging) es im Kern um den kulturellen Austausch und das Lernen in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Und um die sardische Gastfreundschaft.

Um den Bogen vom Gestern zum Heute zu spannen, hat das schwarze Schaf die Entstehungsgeschichte recherchiert, die an die ersten landwirtschaftlichen Kooperativen von Frauen auf Sardinien geknüpft und zudem erstaunlich jung ist.

Reisen wir rund 75 Jahre in die Vergangenheit.

Vorgeschichte: Sardinien nach dem zweiten Weltkrieg

Wie alle europäischen Regionen hat auch Sardinien durch den zweiten Weltkrieg sehr gelitten. Zwar stand Sardinien nur bedingt mitten im Kriegsgeschehen und war kein strategisches Ziel im Italienfeldzug der Alliierten, der von Sizilien zum Festland verlief.

Sie war aber Station für Flieger und Schiffe – und wurde daher bombardiert (insbesondere die Häfen und die Hauptstadt Cagliari).

Als Region, die schon nach dem ersten Weltkrieg wirtschaftlich geschwächt war, erholte Sardinien sich nach dem zweiten nur sehr schwer und galt als eine der strukturschwächsten Regionen Europas.

Während anderswo das Wirtschaftswunder passierte und man die „goldenen fünfziger Jahre“ erlebte, schaffte Sardinien es nicht, die Armut zu überwinden.

Außerdem kämpfte die Insel seit jeher mit der Malaria, speziell in den westlichen Landstrichen mit ihren Seen, Lagunen und Feuchtgebieten.

Der Stagno di Cabras ist wunderschön – fanden einst auch die Malaria-Mücken

Die Malaria hemmte das Wirtschaftswachstum nach dem Krieg, denn sie dezimierte die eh schon durch den Krieg ausgedünnte Arbeitskraft auf Sardinien stark. Die meisten Menschen hatten aufgrund der Insellage und der allgemeinen Armut keinen Zugang zu wirksamen Therapien. Von 1948 bis 1950 wurde die Malaria endlich mit einer groß angelegten Ausbringung von Pestiziden (DDT) ausgerottet.

Doch die Insel war mitgenommen. Es ging weder vor- noch aufwärts.

Um den besonders armen Regionen zu helfen, war die internationale Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (it. OECE – Organizzazione per la Cooperazione Economica Europea / en. OEEC – Organization for European Economic Cooperation) zum Ende des zweiten Weltkriegs ins Leben gerufen worden. Sie sollte den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Zusammenarbeit in Europa organisieren sowie die Länder Europas bei der Verwendung der Gelder aus dem Marshallplan einbeziehen.

Die OECE-Mitgliedsstaaten einigten sich 1956 in Paris darauf, das „Projekt Sardinien“ – „Projet Sardaigne“, in Zusammenarbeit mit den Regierungen Italiens und der autonomen Region Sardinien, zu lancieren.

Ein Film über das Projekt (in italienischer Sprache) findet sich auf youtube:

Quelle: Sardegna 1958 – Progetto OECE. Realisiert von Vette Film Italia.

Das OECE-Projekt „Projet Sardaigne“

Das Projekt umfasste weitreichende, auch technische Unterstützung, insbesondere in der Landwirtschaft und Energieversorgung.

Es sollte die sardische Bevölkerung in die Lage versetzen, aus dem wenigen, das vorhanden war, eine Lebensgrundlage und wirtschaftlichen Erfolg zu schaffen.

Im Gegensatz zur Hauptstadt Cagliari, die schnell wieder hergestellt wurde und auf einem guten Weg war, lebten die Menschen in den ländlichen Gebieten weiterhin in extrem schlichten und selbst im Vergleich zu anderen ländlichen Regionen, stark rückständigen Verhältnissen.

Schlichte Behausungen, schlichtes Leben
Schlichte Behausungen, schlichtes Leben

Hinzu kamen die klimatisch schwierigen Bedingungen für Ackerbau und Viehhaltung: große Hitze im Sommer, bei der kaum etwas gedieh, sowie für Mensch und Tier unerträgliche Kälte im Winter, mit starken Regengüssen. Die ertragreiche Zeit war sehr übersichtlich.

Böden waren seit jeher karg und steinig. Fehlende Infrastruktur, die heute vorhanden ist, wie Stauseen oder Leitungen zur Bewässerung, fielen zusätzlich ins Gewicht.

Wir wagen zu behaupten: glückliche Schafe
So grün und fruchtbar ist es auf Sardinien heute immer noch selten – das Bild ist aus Mai. Seinerzeit, ohne Bewässerung, dörrte das Land umso mehr aus.

In der Provinz Oristano im Westen Sardiniens wurden verschiedene Konzepte erarbeitet und ausprobiert, um festzustellen, welche für die Insel am effektivsten waren. Dann sollten die anderen Regionen davon profitieren und die Konzepte für sich anpassen.

Die Maßnahmen betrafen etwa 110.000 Menschen in 41 Gemeinden. Etwa drei Viertel lebten direkt oder indirekt von der Landwirtschaft oder Viehhaltung.

Das Projekt setzte auf Erwachsenenbildung – aber vor allem Integration der Frauen in den Wirtschaftskreislauf.

Denn die vor Ort eingesetzten Mitarbeiter der OECE haben sehr schnell gemerkt, dass die sardischen Frauen das Rückgrat der Gesellschaft und gewohnt waren, zu arbeiten. Daher war klar, dass sie zuvorderst eingebunden werden mussten.

Quelle: Sardegna 1958 – Progetto OECE. Realisiert von Vette Film Italia.

Das ist historisch-kulturell begründet, da die Frauen über Jahrhunderte die Dorfgemeinschaft zusammen hielten, während die Männer mit den Herden auf der Transhumanz, also dem Weidewechsel zwischen den höheren Bergen und niedrigen Weiden unterwegs waren.

Die Arbeitsteilung war über die Jahrhunderte klar geregelt: Die Frau ist Chef in Haus und Dorf. Der Mann ist der Chef in der Campagna, auf dem Weideland im Umgang mit Feldern, Tieren und anderen Hirten.

Frauen auf Sardinien genossen höchstes Ansehen, waren unantastbar. Sie konnten hart arbeiten und verschafften sich Respekt.

Doch obwohl die Frauen sich gegenseitig versorgten und die Dorfgemeinschaft so überlebte, fand keine Wertschöpfung im wirtschaftlichen Sinn statt.

Ihre Arbeitslosigkeit lag nach dem Krieg bei fast 100 Prozent und es gab im Prinzip keinen Wohlstand. Auch waren viele sardische Männer gefallen und es gab kein Einkommen aus der Viehwirtschaft.

Transhumanz - die Männer verließen das Dorf, die Frauen hatten das Kommando
Transhumanz: Die Männer verließen das Dorf, die Frauen hatten das Kommando

Der Ansatz: arbeitende Frauen zu Unternehmerinnen machen

Das Pilotprojekt startete in den Dörfern Seneghe, Flussio, Paulilatino und Santulussurgiu in der Provinz Oristano.

Dr. Giuliana Minutti, Spezialistin für Haus- und Landwirtschaft der OECE, leitete das Projekt in Paulilatino. Sie besuchte jedes einzelne Haus, sprach mit dem Pfarrer, dem Apotheker und dem Bürgermeister der Gemeinde über die besonderen Bedürfnisse des Ortes.

Mit einer sonntäglichen Radiosendung begann die Bildung der Frauen. In den Sendungen ging es beispielsweise um Maßnahmen zur Gesunderhaltung der Tiere und die zusätzliche Wassergabe im Sommer. Sie vermittelten auch Wissen, welche speziellen Bedürfnisse Kinder in der Ernährung hatten und wie diese mit dem wenigen, was da war, gestillt werden konnten.

Alles war ganz nah an dem, was sie auch sonst taten und wie sie auch sonst lebten – die Dorfgemeinschaft kümmerte sich umeinander.

Die gemeinschaftliche Arbeit in Kooperativen basierte auf der traditionell gemeinschaftlichen Arbeit im Dorf.

Nun ging es darum, daraus zusätzliche Werte und Wohlstand zu schaffen.

Und dann bekamen Frauen der Orte eine zusätzliche Aufgabe. Sie erhielten als Starthilfe lebende Hühner und Küken, die sie am Haus halten konnten.

Die Idee: Sie sollten nicht mehr nur sporadisch für den Eigenbedarf und den von Nachbarinnen, denen man meist etwas schenkte, zu arbeiten. Sondern zusätzlich durch das, was direkt am Haus kultiviert und produziert werden konnte, in satter und verkaufbarer Menge, am Marktgeschehen teilzunehmen und aus eigener Kraft ein Auskommen zu erwirtschaften. 

In Kursen wurde das dazu notwendige Wissen vermittelt.

Aus Küken werden Hühner und Hähne – mit Kleintieren fing es an und kehrte ein bisschen Wohlstand nach Sardinien zurück

12.000 Tiere wurden in der gesamten Pilotregion verteilt: Die Frauen kauften die Küken, um sich an das Erwerbsprinzip zu gewöhnen. Einige kauften zu Beginn nur zwei oder drei. Andere konnten oder wollten sich mehr leisten und nahmen zehn oder zwanzig. Die Tiere dienten sowohl zur Selbstversorgung, als auch zum Verkauf von Fleisch und Eiern.

Sie lernten in land- und viehwirtschaftlichen Kursen, wie sie die Eierproduktion erhöhen konnten, und wie sie kleinen, ungenutzten Flächen in den Innenhöfen ihrer Häuser zu Gemüsegärten umfunktionieren konnten, und dort eigenes Futter anzubauen, um im Einkauf zu sparen. Auch der Schulhof wurde bewirtschaftet und die Kinder der Frauen eingebunden.

Einige Sardinnen bildeten sich in tierärztlichen Qualitäten weiter, um kranke Tiere selbst kurieren zu können. Sehr viele

Gründungsmoment der Kooperative beim Notar. Quelle: Sardegna 1958 – Progetto OECE. Realisiert von Vette Film Italia.

Die Idee dahinter: Nicht nur Selbstversorgung, sondern vor allem Wachstum aus eigener Kraft.

Die Entstehung der Cooperativa Allevatrici Sarde und anderer Kooperativen von Frauen

Schnell kamen die Frauen auf die Idee, zusammenzuarbeiten. Auch, weil sie es so gewohnt waren.

Sie kauften gemeinsam Futter ein und verkauften die Eier gemeinsam an Händler, die in die größeren Orte fuhren.

Das Projekt Sardinien und insbesondere das der Frauen entwickelte sich so gut, dass 1962 die Cooperativa Allevatrici Sarde in Oristano gegründet wurde – die Kooperative der sardischen Viehzüchterinnen mit 220 Mitgliedsfrauen.

Cooperative Allevatrice Sarde – Copyright / Quelle: coop.it

Die Cooperativa Allevatrici Sarde hat sich seither weiterentwickelt, eigene Märkte aufgebaut, konnte ein starkes Wachstum verzeichnen und hat sich den solidarischen Geist bis heute bewahrt. Und sich selbst immer wieder neu erfunden – wie mit dem Agriturismo-Konzept. Dazu kommen wir gleich.

Eine ähnliche Verbesserung wie in der Landwirtschaft wurde parallel auch für das antike Teppichweben durchgeführt.

Neue Techniken, modernere Webstühle, neue Designs: das Teppichweben
Neue Techniken, modernere Webstühle, neue Designs: das Teppichweben wurde modernisiert, Kooperativen gegründet

In Santu Lussurgiu hatte nahezu jedes Haus einen Webstuhl, doch die Stoffe und Teppiche wurden nur für den Eigenbedarf hergestellt und in manchen Familien wurde das wegen der anhaltenden Armut auch ganz aufgegeben.

Mit hemdsärmeligen Fähigkeiten und aufwändig zu verarbeitendem Material wurde jedoch eine eher mindere Qualität des Endproduktes erreicht.

Diese reichte nicht aus, um auf dem Markt einen Preis zu erzielen, der den zeitlichen Aufwand rechtfertigte und über dem Materialeinsatz lag. Zudem gab es kaum große Absatzmärkte – die traditionellen Muster und Farben waren längst aus der Mode gekommen.

Auch hier wurde eine Kooperative der Tessitrici, der Weberinnen, gegründet.

Gemeinsam arbeitete es sich moderner – und schöner

Wer Stoffe für den Hausgebrauch gewebt hatte, lernte neue Techniken, es wurden gemeinsam größere Webstühle gekauft, und Teppiche, Decken und Vorhänge – oft kunstvoll und schön – gewebt. Die Frauen entwarfen eigene Designs, die sowohl die Tradition spiegelten als auch den Geschmack der Zeit trafen.

Die ersten Jahre waren noch sehr schwierig, aber mit viel Geduld wurden die neuen Märkte erschlossen. So generierten die Frauen, ein eigenes Auskommen und sie konnten beginnen, ihre eigenen Häuser zu verschönern.

So wurde die Wohnsituation verbessert – die Familien konnten sich elektrische Geräte leisten, Wände ausbessern und streichen. Sie lernten, das Haus während der Sommerhitze und Winterkälte besser zu schützen.

Gleichzeitig wurde natürlich auch bei den heranwachsenden Jungen und arbeitsfähigen Männern angesetzt.

Einige Hirten aus den höheren Lagen und Bergregionen wie in Fonni, wo im Winter stets Schnee lag, erkannten die Notwendigkeit der Zeit, sich mit ihren Familien in der Ebene niederzulassen. Die traditionelle Schafhaltung im Weidewechsel wurde gegen eine lokale Milch- und Käseproduktion mit modernen Methoden eingetauscht.

Das half, die dauerhafte Versorgung in der Region sicherzustellen.

Lies dazu auch gern unseren Artikel zur Fattoria Su Grabiolu.

Schafhaltung und Landwirtschaft im Winter – auf Sardinien extra schwierig
Schafhaltung und Landwirtschaft im Winter – auf Sardinien extra schwierig

Außerdem wurden die Olivenbäume von Parasiten befreit und nach Bodenanalysen auch die landwirtschaftlichen Flächen verbessert und mit (damals) fortschrittlichen, landwirtschaftlichen Methoden der Ertrag verbesssert.

Und damit kommen wir auch zum Agriturismo.

Denn ein schönes Heim mit einer ausreichenden Versorgung mit guten, gesunden Lebensmitteln, ein gut organisierter landwirtschaftlicher Betrieb, gemeinsam geführt von einer Familie, in einem schönen, lebhaften Ort – das alles kann einladend für andere Menschen sein.

Ein neuer Markt: der (ländliche) Tourismus in Südeuropa

Das Reisen in den Fünfziger-Jahren war getrieben vom gelungenen Wiederaufbau in Deutschland und anderen kriegsversehrten Ländern. Nach Sardinien reisten jedoch nur wenige – zu mühsam die mehrtägige Anreise und die lange Fahrt per Postschiff.

Gemeinsam kochen, gemeinsam lernen – wie hier: Pasta frisch zubereiten
Gemeinsam leben, gemeinsam kochen, gemeinsam lernen – wie hier: Pasta frisch zubereiten

Sardinien hatte auch hier zunächst aufgrund der weiten Entfernung zum Festland eine stiefmütterliches Dasein.

Erst in den Sechziger-Jahren erfuhr der Reisetrend weiteres Wachstum. Südeuropa und Italien wurden beliebter. Mit der Erschließung der Costa Smeralda Ende der Sechziger-Jahre durch den Prinzen Aga Khan und verbessertem Transport erhöhte sich auch langsam das Touristenaufkommen.

In den ländlichen Regionen merkten die Frauen von all dem zunächst wenig.

Die Kooperativen durchlebten eine eher schwierige Zeit: Die Realität und äußere Einflüsse machten sich bemerkbar und die Frauen sahen sich einer Konkurrenz durch gewachsene, größere Betriebe gegenüber.

Statt aufzugeben, nahm die Kooperative die Herausforderung an und „renovierte“ sich. Sie erweiterte ihren Unternehmensgegenstand auf den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und wurde zu einer Verbrauchergenossenschaft. Heute betreibt sie mehrere coop-Supermärkte, vorwiegend im Oristanese.

Und sie war sehr innovativ: Ihr Erfolg aus dem OECE-Projekt hatte sie gelehrt, aus eigener Kraft neue Aktivitäten aufzubauen. Und die Zeichen der Zeit und den Tourismustrend erkennend, haben sie das Konzept des Agri-Tourismus auf Sardinien entwickelt

Schlicht und schön: Urlaub im ländlichen Raum, in einem echten, sardischen Dorf

Ein Vorbild war der ländliche Tourismus in den nördlichen Mittelmeerregion und den norditalienischen Alpen. Die Frauen griffen also Trend und Idee auf, statteten ungenutzte Zimmer schön aus und boten sie Reisenden als Studienzimmer oder zum Ausruhen an.

Statt nur für ihre Familien zu kochen und sie zu versorgen, hießen sie Geschäfts-, Archäologie- und Kulturreisende willkommen.

Eine frühe Form von „Urlaub auf dem Bauernhof“

Die Gäste lebten für einige Zeit mit im Familienverbund, lernten das landwirtschaftliche Leben und den Alltag kennen und wurden wo möglich, eingebunden. Es ging darum, in die Kultur der Insel einzutauchen.

Mit dem Tourismus-Betrieb innerhalb der land- und viehwirtschaftlichen Aktivitäten schloss sich der Kreis zur urpsrünglichen Idee, in einer Gemeinschaft zu produzieren und zu leben. So wie in der Familie und in der Dorfgemeinschaft, so auch in einer temporären Gemeinschaft mit Reisenden.

Dank der Dynamik des touristischen Marktes und dem internationalen Interesse breitete sich das Konzept des ländlichen Tourismus oder Agri-Tourismus in den 70er-Jahren auf ganz Sardinien aus.

So eröffnete die alltägliche Arbeit auf dem Hof plötzlich neue Horizonte: Durch die Gäste kam es zu einem kulturellen aber auch fachlichen Austausch.

Auch heute noch erlebbar auf Sardinien: Das Leben im Kreis der Großfamilie – manchmal in vergleichsweise schlichten Umständen, aber immer herzlich, gesellig und Versorgung in herausragender Qualität
Im Kreis der Großfamilie lebt es sich in manchen Agriturismi in vergleichsweise schlichten Umständen – aber es ist immer herzlich, gesellig und die Versorgung ist in herausragender Qualität

Häufig wohnen studierte Menschen bei den Bäuerinnen, die einen gewissen Intellekt und Horizont mitbrachten – ob Archäologen, Kunstverständige, Studienräte, Professoren, Ökonomen, Ärzte, aber auch Künstler, Schriftsteller, Musiker …

Kurz: Leute, die sich einerseits das Reisen zu jener Zeit leisten konnten und andererseits ein großes Interesse an der Landeskultur und Offenheit mitbrachten.

Und so nahm man auch seitens der Gastgeberinnen neue Ideen auf. Allein dadurch, dass man zusammen kochte und lebte. Man erzählte sich gegenseitig, „wie man das zuhause so machte“ und warum, woher gewisse Bräuche und Methoden stammten.

Vieles ähnelte sich, manches war abhängig von örtlichen und klimatischen Gegebenheiten und konnte nicht repliziert werden. Und doch diente es der Inspiration.

Und manche Methoden erleichterten die alltägliche Arbeit. Und so wurden die Ideen dankbar angenommen und es kam zu einer gegenseitigen Anpassung von Bräuchen und Traditionen. Auch das gegenseitige Verständnis wuchs.

Aus ihren Erfahrungen nach dem Krieg hatten die Frauen gelernt, Hilfe und Ideen anzunehmen und dann selbst etwas draus zu machen.

Auch der Kontakt mit anderen Sprachen begünstigte die persönliche Weiterentwicklung der Betreiberinnen. Einige sagten, „durch den Agriturismo habe man die Möglichkeit, die Welt bequem vom heimischen Sessel aus zu bereisen“.

Die Idee ist lange Zeit das geblieben: Der Agriturismo war ein Ort des kulturellen und fachlichen Austauschs.

Natürlich aß man auch zusammen – wie auch nicht! Doch die eigentlich Idee des Agriturismo ist der fachliche und kulturelle Austausch
Natürlich aß man auch zusammen – warum auch nicht! Doch die eigentlich Idee des Agriturismo ist der fachliche und kulturelle Austausch.

Die gemeinsame Basis war das ganz normale, ländliche Leben.

In dem man an der Realität des anderen teilnahm, eröffneten sich nicht nur Horizonte, sondern bildeten sich auch Freundschaften fürs Leben.

Das können wir bis heute auf Sardinien so ähnlich erleben, wenn wir uns in die ländlichen Regionen begeben.

Ländlicher, nachhaltiger Tourismus heute

In einem Agriturismo auf Sardinien ist immer noch leicht, sich mit anderen Menschen zu verbinden.

Ein geselliges Abendessen mit Selbstgemachtem und Hauswein und all dem, was liebe- und hingebungsvoll vor Ort produziert wurde auf dem Tisch, ist ein Garant für schöne Abende.

Heute noch erlebbar auf Sardinien: Gäste und Familie leben zusammen, ein kultureller, fachlicher und freundschaftlicher Austausch findet statt.
Heute noch erlebbar auf Sardinien: Gäste und Familie leben zusammen, ein kultureller, fachlicher und freundschaftlicher Austausch findet statt.

Doch die eigentliche Idee ist, im Agriturismo zu wohnen, zu leben, die Ferien (oder zumindest einen großen Teil) im Kontakt mit der Landeskultur zu verbringen.

Oder anders: Ein Agriturismo im eigentlichen Sinn hat IMMER Zimmer, die Betreiber kochen für ihre Gäste und lassen sie im einen oder anderen Sinn auch an der Entstehung der Produkte teilnehmen.

Natürlich ist das kein „konzeptioneller Zwang“ – denn wenn eine Familie kein Haus mit Gästezimmern hat oder die Familie komplett in der azienda agricola, im landwirtschaftlichen Betrieb beschäftigt ist, dann gibt es eben keine Zimmer.

Dafür aber vielleicht eine fattoria didattica – zum Beispiel um Reisenden zu erklären und erzählen, wie Käse hergestellt wird, wie ein Schaf geschoren wird, mit welchen Methoden man Wolle färbte etc.

Heute werden solche Kurse auch separat angeboten, meistens für Schulen und touristische Gruppen oder zu speziellen Events. Lebt man tatsächlich im Agriturismo bei einer Familie, ist auf Wunsch von Besichtigung bis zur Mitarbeit ist in den Betrieben vieles möglich.

Toll für Kinder: ein Tag oder ein Urlaub auf dem Agriturismo
Nicht nur für Kinder toll: ein Urlaub auf dem Agriturismo und Kurse in der fattoria didattica

Liegt sicher auch an der Sprachbarriere – aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Die ist oft nur ein Vorwand.

Erstens kann man den Urlaub im Agriturismo gleich als Sprachurlaub verstehen. Heute ist es denkbar einfach. Mit einer passenden App gewappnet, lassen sich nahezu alle Hürden beseitigen.

Und selbst, wenn man in einem Kurs nicht alles versteht – man verständigt sich mit Händen und Füßen, lernt durch Sehen und Verstehen. Die Pasta wird am Ende auch garantiert fertig und mit einer Karaffe Landwein beim anschließenden Essen ist noch jede Sprachhürde überwunden worden.

Dieser Ansatz des gemeinsamen Leben und Lernens ist seitens vieler Gastgeber immer noch vorhanden. Mindestens der, unter einem Dach gemeinsam Zeit zu verbringen und einen schönen Urlaub zu gestalten.

Agriturismo oder Urlaub auf dem Bauernhof bedeutet: ganz nah ran.

Im Kopf der meisten Sardinien-Touristen aber ist das heute nur selten eine Option – was schade ist, denn es brächte sie ganz nah an die Lebenswirklichkeit der Menschen heran.

Das heutige Urlaubskonzept lautet jedoch eher „Ferienhaus und Selbstversorgung“ und „einmal in den Ferien auch im Agrotourismo landestypisch essen gehen“. Oder „all inclusive im Strandhotel“ und ein bisschen Folklore bei Dorffesten. Aber man möchte bitte nicht zu weit fahren …

Das kann man alles natürlich so machen – man ist jedoch ganz sicher auf dem Weg, das Beste auf Sardinien zu verpassen:

Die von Herzen kommende Gastfreundschaft.

Die Freude in den Augen der Gastgeber, wenn wir ihrer eigener Hände Arbeit wertschätzen.

Das wirklich wahre Leben und das echte Sardinien.

Weitere Informationen

Hier zwei schöne Youtube-Videos in italienischer Sprache, die einen Eindruck der damaligen Projekte der OEEC vermitteln.

2 Comments

  1. Hans-Peter Bröckerhoff

    1. Oktober 2024 at 10:39

    Liebe Nicole,

    danke für die Aufarbeitung der Geschichte des Agriturismo auf Sardinien – insbesondere für die Erinnerung an die Aktivitäten der Cooperativa Allevatrici Sarde. Diese hat für mich persönlich eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt. Ohne diese Frauenkooperative im Oristanese wäre mein Leben wahrscheinlich deutlich anders verlaufen. Denn ich hätte wohl nicht die große Liebe zu Sardinien entwickelt und dort meine zweite Heimat gefunden – auch wenn es dafür natürlich noch andere Gründe gab. Und erst recht hätte ich mich wahrscheinlich nicht so intensiv mit der Küche der Insel beschäftigt. Denn die authentische sardische Küche (die der Westküste und des Campidanno) habe ich zuerst bei den Frauen der Cooperativa kennen und lieben gelernt.

    Es war genau (tatsächlich auf die Woche genau) vor 41 Jahren, dass ich das erste Mal in einem dieser damaligen „Agriturismi“ gewohnt habe. Organisiert war der Aufenthalt von der Frankfurter Sprachschule Pier Paolo Pasolini, die einen Ferien-Italienischkurs im Oristanese, eben in Zusammenarbeit mit der Frauenkooperative, durchgeführt hat.

    Im Jahr darauf bin ich ohne Kurs wieder in demselben „Agriturismo“ untergekommen und in den Folgejahren bei mehreren anderen. Ich habe mich dort immer so wohlgefühlt, dass ich bis zum Kauf unseres Hauses nur Urlaub in „Agriturismi“ bei den Frauen der Cooperativa gemacht habe. Vor allem das abendliche gemeinsame Essen mit der Familie und den anderen Gästen war eine große Bereicherung.

    Mit dem, was man heute unter Agriturismo versteht, hatten die damaligen Angebote der Frauen aus der Cooperativa nicht viel zu tun. (Deshalb die Anführungszeichen oben.) Zum einen waren die meisten Frauen, die bei diesem Angebot teilnahmen, keine Bäuerinnen und hatten auch keinen Bauernhof, sondern bestenfalls einen Hühnerstall im Garten. Von den sechs „Agriturismo“ betreibenden Familien, die ich damals direkt oder indirekt näher kennengelernt habe, war nur eine einzige eine Bauernfamilie und diese hatte ihr Haus im Dorf und nicht in der Campagna.

    Zum anderen hatten die meisten Familien kein oder höchsten ein Gästezimmer. Sie nahmen aber dennoch mehrere Gäste auf, da sich das Ganze ansonsten gar nicht gelohnt hätte. Es wurde einfach improvisiert, wie ich am Beispiel von meiner Gastfamilie in Cabras, bei der ich fünf Jahre lang immer wieder gewohnt habe, deutlich machen möchte: Die beiden Töchter schliefen in den Ferien bei der Oma und die Eltern stellten sich Feldbetten in einer Abstellkammer auf. Und in dem „heiligen“ Wohnzimmer, das voller Möbel vom Typ „Gelsenkirchener Barock“ stand und eigentlich nur an Festtagen genutzt wurde, waren auch noch zwei Betten platziert. So konnten in diesem Wohnzimmer, in den Kinderzimmern und dem Elternschlafzimmer zusammen bis zu acht Gäste untergebracht werden.

    Abends wurde gemeinsam mit der Familie und den anderen Gästen gegessen – richtig gut, durchaus reichlich und vor allem sehr authentisch. Bei diesen abendlichen Runden lernte man die Familie und die (meist vom italienischen Festland kommenden) anderen Gäste besser kennen und fühlte sich wie zu Hause.

    Ehrlicherweise muss man sagen, dass vieles bei dieser Art von Urlaub nicht sehr bequem und auch nicht unbedingt romantisch war (die Abendessen ausgenommen). Die Zimmer waren spärlich eingerichtet und luden nicht zum Verweilen ein. Die Häuser waren eigentlich nicht auf den Aufenthalt von Gästen hin konzipiert und boten wenig Bequemlichkeit, hatten oft nur ein Bad für die Gäste und die Familie zusammen. (Meine langjährige Gastfamilie hat dann später draußen noch ein zweites Badezimmer angebaut.) Und zudem wurde erwartet, dass man am Vormittag zum Strand oder auf einen Ausflug ins Inselinnere fuhr und erst am späteren Nachmittag wieder ins Haus zurückkam. Schließlich musste sauber gemacht und das Essen vorbereitet werden.

    Den heutigen Ansprüchen würden die damaligen Verhältnisse nicht mehr gerecht werden. Aber es war ein Anfang und hat vielen Familien ein wenig zusätzliches Einkommen beschert. Einige der Frauen, die damals das Wagnis des Agriturismo auf sich genommen haben, haben nach einigen Jahren wieder aufgehört. Andere haben ihre Aktivitäten in die Form eines B&B überführt und wieder andere haben das entwickelt, was man heute unter Agriturismo versteht. Alles in allem war die Initiative der couragierten Frauen der Cooperativa Allevatrici Sarde ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung eines nachhaltigen und vor allem den Einheimischen zugute kommenden Tourismus auf Sardinien.

    Mein Kommentar ist recht lang geworden. Aber vielleicht ist dieser (wenn auch sehr persönliche) Rückblick auch für die Leser des Schwarzen Schafs interessant.

    LG Hans-Peter

    Reply
    • Nicole Raukamp

      1. Oktober 2024 at 10:56

      Lieber Hans-Peter, ganz ganz herzlichen Dank für deine Ausführungen und deine persönlichen Erfahrungen! Ein wirklich tolles Projekt, ich habe schon vor ein paar Jahren dazu recherchiert, nachdem ich in Cabras war und mit einer Dame ins Gespräch kam, die mir davon erzählte. Und wollte diesen Artikel immer schreiben, weil ich es so spannend fand.
      Die Ansprüche und das Reisen haben sich verändert und damit natürlich auch der Agriturismo. Vieles ist wirklich auch fein so, wie es heute ist – eine der schönsten Arten, Sardinien kennenzulernen, ist sich so nah wie möglich an die Bevölkerung zu begeben. Und gewisse Elemente sind ja auch noch da und sehr lebendig. Vielleicht müssen (können) wir einfach auch wieder ein bisschen lernen, uns mit weniger zufrieden zu geben. Ist ja auch ein sehr sardischer Ansatz.
      Nochmals lieben Dank und bis hoffentlich ganz bald!
      LG Nicole.

      Reply

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