Sardiniens Verständnis von Zeit ist ein grundlegend anderes als das der nordeuropäischen Reisenden. Als wär man in einer anderen Zeitzone. Und tatsächlich, das schwarze Schaf hat’s herausgefunden: Nullmeridian, Greenwich, Sommerzeit – alles irrelevant! Sardinien befindet sich in einer eigenen, zeitlichen Welt – der »Sardinian Culture Time (SCT)«!

Der unweigerlich damit verbundene »Culture Clash« hat zuweilen entzückende Auswüchse und äußert sich vor allem beim Thema Essen.

Nehmen wir das Urlauberpaar aus dem süddeutschen Raum, das sich – inspiriert vom schwarzschafigen Buch – auf einen Wochenendausflug in die Barbagia machte und hinterher bei einem zufälligen Treffen erzählte:

»Also, landschaftlich ja alles sehr schön. Und wir waren ja auch in diesem Dorf mit den Murales. Aber da hatte ja alles zu! Und wir hatten so Hunger! Dann sind wir halt nach Nuoro gefahren, weil wir dachten, da finden wir was. So eine große Stadt – aber auch da: Alles zu! Kann das sein? Was ist da los?«

Ja nun. Die erste Frage: »Wann wart ihr denn da?« – »In Orgosolo so um 14, 15 Uhr.« – »Und in Nuoro?« – »Naja, wir haben dann ja erstmal Murales geschaut und waren dann gegen 18 Uhr in Nuoro. Also ganz normal eigentlich …«

Glasklare Sache. Grobes, generelles Missverständnis zwischen Nord- und Südeuropa … Und in Sachen Normalität und Zeit läuft der Hase auf Sardinien etwas anders.

Toller Platz, aber keiner da? Nix los? Vielleicht bist Du in der falschen Zeitzone … Foto: Antico Terrazzo, Posada *

Wichtig zu wissen: Die »Sardinian Culture Time (SCT)« ist in erster Linie eine …

»Essenszeitzone«

Gewusst, wie, wo und vor allem WANN:

6:30 – 8:00 Uhr » Frühstück / colazione

  • Der Sarde an sich ist viel beschäftigt, ggf. sogar in mehreren Jobs, und ist daher Frühaufsteher. Zuweilen auch sehr früh. Einige nehmen auf dem Weg zur Arbeit in der Bar den schnellen caffe (»Espresso« wird verstanden, ist aber nicht gebräuchlich) und una pasta (Croissant / Brioche) mit ordentlich Kalorien und geht dann ans Werk. Er frühstückt auch gern zuhause, weil vielen Arbeitern auch das Geld fehlt, täglich in die Bar zu stiefeln. von Nutellabrot über Dolci bis Torte geht alles, was Energie liefert und man startet mit der Arbeit. Oder kauft ein, erledigt Dinge, bringt die Kinder zur Schule, … so Alltagszeug eben …
  • Der Urlauber frühstückt auch mitten in der Woche frühestens um 9 Uhr. Ach, lieber noch ausschlafen, wir haben ja Ferien: 10 Uhr. Das halbgare Frühstück im B&B oder Hotel mit abgepackten Keksen und das Süßzeug verschmäht man (zu recht, und Ausnahmen sind selten). Einen Bäcker findet man spontan nicht, und wenn doch: Belegte Brötchen („So wie bei uns, das gibt’s doch bei jedem popeligen Bahnhofsbäcker!“) haben »die« nicht. Tja, ist halt kein Bahnhof hier, sondern ein Dorf in Sardinien. Hach, man hätte ja so gern jetzt ein Panino mit Tomate-Mozzarella. Ist das in Italien zuviel verlangt?! Der hoffnungsvolle Gang führt in die nächste Bar. Da waren mal Panini, die Schilder stehen da noch. Doch es ist bereits 11 Uhr: Alles leer! Ein einsames Croissant mit pappsüßer Vanillecreme und ein in Plastik verpacktes Tramezzino dienen als Notlösung … der Magen beschwert sich vorsichtshalber schonmal.

13:00 – 15:00 Uhr » Mittagessen / pranzo

  • Die Einheimischen finden sich wieder in den Häusern zum pranzo ein, und essen – wenn möglich – mit der Familie. Wer weiter weg von zuhause arbeitet, isst auch mittags außer Haus oder holt sich, wenn er wenig Zeit hat, noch ein panino. Aber eigentlich isst er sich gern satt. Muss ja halten bis spät abends. Einige Restaurants haben für die lavoratori / Arbeiter darum auch mittags geöffnet und eine kleine Auswahl, aber in gleicher Qualität wie abends gibt’s für kleines Geld. Offen haben aber eben nicht alle und auch nicht überall. Bei Pizzerien ist es Glückssache – weil es lang dauert, den Holzofen aufzuheizen. Generell sind geöffnete Lokale auch nicht unbedingt in den touristischen Hotspots zu finden, sondern in den gewachsenen Orten und Vierteln. Da wo eben auch die Sarden essen. Wer nicht weiß wo, fragt. So einfach ist das.
  • Der Urlauber hat zwar schon noch Hunger, aber ja erst um halb zwölf sein Panino gefunden und gemampft. Nun soll er schon wieder was essen? Noch so ein panino? »Wo wir doch heute abend auch noch ins Restaurant gehen. Ach komm, das hält schon bis abends. Und sonst holen wir uns zwischendurch was.« MÖÖÖP MÖÖÖP MÖÖÖP!!! Denkfehler!!! Nein, das erste Brötchen hält natürlich nicht. Und das mit dem »zwischendurch was holen« ist auch so ne Sache … Der Hunger stellt sich so gegen 14, 15 Uhr ein. Gnadenlos. Man könnte ein ganzes Wildschwein verdrücken! Man sucht und sucht. Alles was nach Futter aussieht, hat zu. Nix offen, schon wieder! Und selbst, wenn man dann was findet und sogar mit noch einem panino zufrieden wär (eigentlich wollte man ja was »Richtiges«), sagt die Barfrau: »Niente.« Nix. Ausverkauft. Und sie hat bis abends auch nix. Basta.

17:30 – 18:30 Uhr » Aperitivo

  • Sardinien hat leider auch keine besonders ausgeprägte Aperitivo-Kultur. Der Sarde hat am Nachmittag gearbeitet und nun wartet oft noch irgendein anderer Job. Oder vielleicht muss man dem Kumpel noch den Rasenmäher bringen. Irgendwas unter Freunden und in der Familie ist immer. Also springt man direkt nach der Arbeit nur auf ein schnelles Feierabendbier in die Bar. Hunger hat keiner, das Bier reicht. Am Wochenende ist man zu dieser Zeit zuhause, oder bei Freunden und brezelt sich auf. Denn der Abend wird lang, du wirst sehen …
  • Der Tourist aber – immer noch hungrig! – schlurft seit 14 Uhr durch die Straßen. Auch alle Geschäfte sind zu, aber echt alle! Nichts offen! Man könnte in den Supermarkt am Ortsrand fahren aber neee, das ist ja auch doof. Wir sind ja auf der kulinarisch wertvollen Insel Sardinien und wollen ja kein Supermarktfutter. Also: Durchhalten! Survival! Jetzt sind es schon drei Stunden elender Hunger! Kurz nach 17 Uhr stolpert man in die nächste Bar. Ha! Volltreffer! Da werden gerade die Häppchen /stuzzachini auf dem Tresen aufgebaut. Aber natürlich gaaaaanz langsam … Wer noch nicht ganz auf dem Zahnfleisch kriecht, widersteht irgendwie dem Drang, sich direkt auf das erst halb aufgebaute Buffet zu stürzen … * lechzsabber * … Und sonst? Keiner da! Null Gäste! Wo sind die bloß? Da hinten zwei Typen in dreckiger Montur trinken Bier … Können die nicht leben und genießen? Scheinen doch eher schlicht zu sein, diese Sarden …

20:00 – 0:00 Uhr » Abendessen / cena

  • Na endlich drehen die Sarden auf! Das Abendessen wird zelebriert wie keine andere Mahlzeit, auch zuhause. Sie ist wichtig und heilig, als alles andere ist nur ein Darauf-hin-Arbeiten. Wenn es ins Restaurant geht, dann meistens in der Horde (Familie, Freunde, Fußballverein) und dann doch meistens gut gekleidet – wenn man nicht gerade vom calcetto / Fußball kommt oder noch schnell im palestra / Fitnessclub war. Sporteln, mit den anderen koordinieren, aufhübschen und überhaupt irgendwie loskommen – das braucht alles seine Zeit. Und so kommt die Horde tendenziell erst ab 21 Uhr im Restaurant an. Manchmal dauert alles aber auch noch länger, man ist entspannt, dann wird halt erst um 22 Uhr gegessen. Und auch hier hetzt man nicht. Bis das Antipasto durch ist, geht schon die erste Stunde ins Land. Alles wird diskutiert und erstmal der nächste Gang für alle bestellt: »Spaghetti allo Scoglio per tutti!«. Ob man noch ein Secondo will… Ja, vielleicht, Gianpaolo was willst du denn? – Nein ich glaub nicht, oder doch … entscheiden wir gleich – Sag mal, was macht eigentlich die Sache mit dem Bürgermeister? … So zieht sich der Abend bis zum gemütlichen Mirto. Die Kinder bleiben mit wach, zur Not bis Mitternacht, so lang wie es halt dauert. Dann ab nach Hause – die Alten und Kinder ins Bett, die Jungen brezeln nochmal nach und düsen ins Nachtleben (Clubs etc. öffnen darum auch nicht vor 1 Uhr!). Um 2, 3 Uhr nachts gibt’s einen Burger oder ne Pizza auf die Faust.
  • Der (hungrige!) Urlauber scharrt schon um 18 Uhr mit den Hufen. Fährt wie Rosi und Michael durch ganze Städte und findet kein geöffnetes Restaurant. Auch um 19 Uhr nicht. Um 19:30 klopft man bei einer Trattoria an der Glastür, durch die man die Kellnerin sieht, die gerade am Eingangsbereich noch schnell durchwischt. 20:30 Uhr ist der Pizzaofen heiß, sagt sie. Merke: ab 20 Uhr öffnen die Restaurants – nicht früher! Neinneinnein. Vergiss es einfach! Hat man sich dann mit dem späten Essen abgefunden, wird das dann auch schnell hinter sich gebracht. Man hat ja diesen Bärenhunger!!! Ja logo, drei Gänge, her damit! Na klar isst man viel zu schnell und fast ist einem schlecht. Vollgeplautzt und fast bewegungsunfähig versucht man verzweifelt vom Platz aus schnell die Rechnung zu bestellen. Die Kellnerin versteht auch den dezenten Hinweis mit dem schon hingelegten Geldbeutel nicht. Die geht nämlich davon aus, dass man (vor allem im Urlaub!) Zeit hat und auch gern noch bleiben möchte – mindestens bis zum Mirto. Alles andere wäre doch auch unfreundlich und käme ja quasi einem Rauswurf gleich. Tipp: Wenn es dir zu lang dauert, geh einfach zur Kasse. Das macht der Urlauber – leicht angesäuert über den doch miserablen Service. Denn den Abend als Pärchen noch zu dehnen, obwohl man sich tagsüber schon angegrätzt und dann beim essen angeschwiegen hat, weil die Stimmung mau ist, wegen dieser blöden Öffnungszeiten, ist keine Option. Man verlässt das Lokal, während der Nebentisch immer noch am Hauptgang knabbert und über das mögliche Dessert / dolce sinniert. Und wundert sich über die Energie, die diese Italiener noch haben – der Wahnsinn! Man entscheidet sich für einen Verdauungsspaziergang an der Hafenpromenade. Ne Stunde später würde man gern noch einen Absacker in der Bar trinken … Aber … Warum ist da bloß außer uns keiner…?! Mal überlegen. Vielleicht sitzen die gemütlich beim Mirto in der Trattoria 🙂

Zwei Wege aus der Zeitzonenfalle

Keiner da? Alles zu? Nix los? Dann bist Du vermutlich in der falschen Zeitzone!

Der Fehler ist nicht unbedingt, dass Sardinien immer schließt und nichts hat und es nichts gibt. Sondern vielmehr, dass wir Urlauber keinen Meter von unserer Erwartung und / oder Gewohnheit abrücken.

Das ist nicht mal böse gemeint. Und beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Der in Deutschland urlaubende Italiener (die soll’s geben) ist quasi in der umgekehrten Zeitzonenfalle. Wenn er nach 21 Uhr etwas zu Essen sucht, erhält er die Antwort: »Küche ist aber schon zu …« Nach dem ersten Nicht-Verstehen (die Antwort kommt so in Italien glaube ich gar nicht vor): Oooooh! Grooooßes Lamento!

Das Thema Essenszeit ist auch, aber nicht nur ein Thema in der Nebensaison oder im Hinterland. Denn im heißen Sommer ergibt das antizyklische Aktivsein am späten Abend und eine ausgedehnte Siesta extrem viel Sinn!

So oder so, auf Sardinien gibt es nur zwei mögliche Wege aus der Falle SCT heraus zu kommen:

  1. Picknickkorb / Selbstversorger sein / Not-Panino selber basteln
  2. Anpassung an die Landeskultur

Entscheide du 🙂

* In der oben abgebildeten Bar »L’Antico Terrazzo Posada« war es übrigens auch deswegen so leer, weil der Aperitivo auf der grandiosen Dachterrasse mit Meerblick einfach nochmal so gut ist 🙂

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