In der wunderschönen Hügellandschaft des Monte Acuto, gleich hinter Oschiri, finde ich ein einzigartiges Monument auf Sardinien: den Altare rupestre di Santo Stefano oder sardisch, Santu Istevene – einen Felsenaltar, 12 Meter lang, mit geometrischen Formen.

Um die archäologische Stätte ranken sich viele Mysterien – auch, weil sie auf Sardinien kein Äquivalent hat und man sie nicht ohne weiteres in eine der bekannten Kulturen einordnen kann. Die Stätte wurde zudem nie wissenschaftlich untersucht, alle Funde und Erkenntnisse sind mehr oder weniger zufällig.

Der imposante, 12 Meter lange Felsenaltar Santo Stefano mit geometrischen Formen
Der imposante, 12 Meter lange Felsenaltar Santo Stefano mit geometrischen Formen

Bereits die Datierung ist unsicher: Die Nekropole mit einigen Domus de Janas (Feenhäuser, Grabkammern) in direkter Umgebung deutet auf einen Zeitraum zwischen dem jüngeren Neolithikum und der Kupferzeit (4.-3. Jahrtausend v.u.Z.) hin. Der Altar selbst kann ebenfalls aus dieser Zeit stammen – aber auch deutlich später entstanden sein.

Einige Hinweise gibt es auf die Zeit nach Christi Geburt und es wurden Spuren aus byzantinischer Zeit (ab dem 4. Jahrhundert nach Christus) gefunden – die Region war von phönizischen Besatzern geprägt.

Die Landkirche Santo Stefano aus dem Jahr 1504
Die Landkirche Santo Stefano aus dem Jahr 1504

In direkter Nachbarschaft des riesigen Felsblocks haben die Menschen im Jahr 1504 eine Kirche erbaut – ein Hinweis darauf, dass der Ort von religiöser Bedeutung ist und den Menschen bereits vor der christlichen Kultur als heilig galt.

Geometrische Formen im Felsenaltar Santo Stefano

Bizarre, ausgehöhlte Felsen („rupestre“ bedeutet übrigens „felsig“) und knorrige Bäume schaffen eine ganz besondere Stimmung in der Umgebung. Wer ein bisschen herumstreift, findet hinter dem Altar noch weitere bearbeitete Felsen sowie die besagten Grabkammern / domus de janas. Die gesamte Landschaft ist urschön und das schwarze Schaf macht eine Entdeckung nach der anderen.

Das alles zu verstehen, ist natürlich einigermaßen sportlich – auch das Schild am Eingang erklärt nur was man da findet: zunächst die Grabkammern / domus de janas / Feenhäuser, die aber nicht näher bezeichnet sind, und finden musst du sie auch selbst. Der Felsenaltar wird anhand seiner geometrischen Formen beschrieben. Man lässt sich zu keinerlei Deutung hinreißen.

Zeichnung des Felsenaltars
Zeichnung des Felsenaltars am Eingang der Stätte.

Vermutlich, weil das gar nicht so einfach ist. Denn geometrische Formen – Kreise, Quadrate, Halbrunde, Dreiecke – sind weltweit Klassiker der Symbolik und geben somit auch keine expliziten Hinweise, sondern lassen viel Raum für Deutungen.

Nehmen wir nur die Kreise. Es sind uralte Symbole für Kontinuität und Unendlichkeit, aber auch für die Sonne und das Leben. Insgesamt kann mit einem Kreis ja fast alles gemeint sein.

Sonne, Sternenhimmel, Sonnensystem? Einfache Symbole sind nicht immer einfach zu deuten ...
Sonne, Sternenhimmel, Sonnensystem, ganz was anderes? Einfache Symbole sind nicht immer einfach zu deuten …

In einem Felsen neben dem Altar finden wir einen etwas präziseren Hinweis: Ein großer Kreis umgeben von zwölf kleineren Kreisen – das deuten einige als Sonnensystem und geben dem Ort eine astrologische / astronomische Bedeutung. Andere sehen wiederum Mulden, um Flüssigkeiten wie Blut oder Milch aufzufangen – und sehen Verbindungen zu antiken Fruchtbarkeitskulten.

Im Altar selbst ist ein großer Kreis mit einem Kreuz versehen. Das wiederum ist ein Symbol für Sonnengötter (auch in der sardischen Kultur) – wird hier aber eher als „Christianisierung“ gedeutet – dazu gleich mehr.

Ganz Mutige sehen die Aushöhlungen im Felsen auch als eine Art antiken »Geburtssitz«, in dem Frauen ihre Kinder zur Welt brachten. Der Kopf wäre dann vor dem Dreieck oder Halbrund, umgeben von kleinen Kreisen – die Geburt fände wie unter einem guten Stern, in heiliger Umgebung, mit dem Segen des Universums statt.

Brachten hier Frauen ihre Kinder zur Welt?
Brachten hier Frauen ihre Kinder zur Welt?

Ein Forscher der Universität Florenz sah in dem Quadrat mit einem Dreieck darüber eindeutig Himmel und Erde – und sah auch eine Verbindung zu den Gigantengräbern, wo die zentrale Stele auch oft gut erkennbar in eine quadratische Form (die Erde) und ein Halbrund (der Himmel) geteilt ist. Dort wird das Quadrat wiederum auch als Scheintür / porta falsa gedeutet – als Übergang oder Kontaktpunkt zwischen Diesseits und Jenseits. » Seine Überlegungen findest du in italienischer Sprache auf Youtube.

Einige Archäologen sehen allein wegen der Nähe zu den Domus de Janas auf dem gleichen Gelände eine Verbindung zum Totenkult bzw. Kult um die Dea Madre. Santo Stefano wäre damit eine Erweiterung der Grabstätte und eine Verbindung alter und neuer Religionen.

Und vielleicht stimmt ja sogar alles – neben- oder nacheinander, wer weiß das schon.

Der Baum gehört zum Monument, alles hat eine Bedeutung.

Man hat auf jeden Fall den Baum direkt vor dem Altar stehen lassen. In der antiken, sardischen Kultur sind Bäume Lebewesen. Der Baum gehört zum Monument. Tatsächlich scheint hier alles irgendwie bedeutsam und nicht zufällig zu sein.

Eine geheiligte, heilige Stätte

Auch wenn man nicht alles erklären kann – das Wort „heilig“ passt schon irgendwie. Tatsächlich ist auch das schwarze Schaf heute irgendwie besonders respektvoll. Zumindest hat es keine Intention, auf den Felsen zu klettern oder ähnliche Scherze.

Insgesamt deutet alles auf einen vorchristlichen Kulturkreis hin – und eben nicht auf ein rein christliches Ambiente. Die Stätte ist aber „christianisiert“ worden – allein durch die Namensgebung Santo Stefano, eines Heiligen. 1504 wurde direkt gegenüber des Altars ein Kirchlein erbaut und ihm geweiht. Einige der Formen des Altars wurden nachträglich »sakrifiziert« und mit dem christlichen Symbol des Kreuzes versehen.

Die "Scheintür" zum Jenseits - christianisiert durch das Kreuz
Eine „Scheintür“ zum Jenseits – christianisiert durch das Kreuz

Anders nämlich als im dunklen Mittelalter auf dem Festland ließ man das Heidnische zu und verteufelte oder zerstörte es nicht. Im Gegenteil: Eine bislang nicht vollständig entzifferte Inschrift über der Tür weist auf die Verbindung zu früheren, nuraghischen Kulten hin. Ein Phänomen, das wir öfter auf Sardinien finden: die Verbindung von heidnischen und christlichen Bräuchen.

Allein die Koexistenz von Nekropole, Altar und Kirche geben die Sicherheit, dass Santo Stefano von großer, spiritueller Bedeutung war. Und für feinfühlige, mit dem Ort verbundene Menschen sicher auch noch ist.

Schau dich auch in der Umgebung um – dort finden sich weitere bearbeitete Felsen mit Aushöhlungen, aber auch solche, die von Wind und Wetter modelliert wurden.

Hier darf alles so sein, wie es ist. Das finde ich das Schönste an diesem Platz.

Moosbewachsene Felsen "beseelen" die Landschaft, fast wie Kunstwerke
Moosbewachsene Felsen „beseelen“ die Landschaft, fast wie Kunstwerke

Dass das hier keine „normale“ touristische Sehenswürdigkeit ist, wird nahezu jedem sofort klar. Vor allem die Nebensaison, vor allem der Winter, verstärkt den „magischen“ Eindruck noch.

Das Gefühl, an einem ganz speziellen Ort zu sein, lässt mich für die Dauer meines Besuches nicht los. Ich sitze eine Stunde einfach zwischen den Felsen und „erde“ mit unendlicher Leichtigkeit. Dazu das wechselhafte Januarwetter mit Sonne und Wolken, Wärme und Schatten … im Hintergrund blöken Schafe … Überall ist Leben! Es ist sogar ein bisschen laut – die Geräusche der Natur umgeben mich: Wind, Baumrascheln. Alles scheint sich zu bewegen und sogar die Felsen schauen mich an.

Hier haben die Felsen Gesichter ... alles scheint zu leben
Hier haben die Felsen Gesichter … alles scheint zu leben

Santu Istevene ist ein beseelter Ort, ohne Frage. Ich bin ganz nah an allem, was (mir) gerade wichtig ist.

In jedem Fall ein ganz besonderer und sehenswerter Ort, zu finden kurz hinter dem Ortsausgang von Oschiri. Die Stätte ist ausgeschildert. Du erreichst sie über eine schmale Teerstraße, Via Monte Acuto. Auf der rechten Seite geht es zwischen zwei Steinmauern durch ein Tor und einen Schotterweg ein paar Minuten durch eine felsige Landschaft.

Die einzige Literaturquelle mit belastbaren Informationen ist dieses Büchlein von Giacomo Calvia, in italienischer Sprache:

Mehr Fotos findest du in meinem Album „Altare rupestre e chiesa di Santo Stefano, Oschiri“ auf facebook (Erstbesuch 2013)

1 Comment

  1. Cordula Klein

    13. Februar 2021 at 11:57

    Jetzt hab ich echt Gänsehaut bekommen… Super schön!! Der Ort ist sofort in die Reiseroute für den nächsten Urlaub aufgenommen (was hätte ich mich geärgert, wenn wir da ganz in der Nähe vorbeigefahren wären…) Jetzt stellt sich nur noch die Frage: Pfingsten 21 oder 22??? Wir hoffen…
    LG Cordula

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