Ich hab ihn überlebt. Viermal. Den „gefährlichsten Käse der Welt“. Casu marzu. Als erster Käse der Welt hält er den Guinness World Record im Gefährlichsein: The most dangerous cheese.
Huuuuuu … Mir geht bei dem Titel die Fantasie direkt durch. Ich sehe vor meinem geistigen Auge einen Schwarzweiß-Comic: Ein zotteliger, bösartig schauender Käselaib, in dem wuselige Würmer und Maden stecken, jagt zu schauriger Musik nachts durch die Straßen eines sardischen Dorfes. Dann blendet Headline der Lokalzeitung darüber: „Horrorkäse hat wieder zugeschlagen!“
Oder sind das schon die ersten Folgen des Casu marzu-Käsegenusses?
Ha! Da sind wir direkt beim Thema. Denn tatsächlich ist der Casu marzu ein Genuss! Findet jedenfalls das schwarze Schaf.
Aber was ist dran am gefährlichen Casu marzu? Was ist so gefährlich, dass Herstellung und Verkauf verboten sind?
Verboten? Ach, illegal ist er also auch noch? Na, der Sardinientrip kann ja heiter werden.
Kurz und schmerzlos: Fliegenlarven, ihre Verdauungsenzyme und Pecorino. Casu marzu ist verdorbener Pecorino. Denn casu ist sardisch für Käse und marzu für faul, verrottet, morsch.
Auf der Nachbarinsel Korsika kennt man ihn auch. Dort heißt er sogar ähnlich: casgiu merzu. Auch auf dem italienischen Festland gibt es ähnlichen Käse mit ähnlichen Namen. Und auch im Baskenland in Spanien, dort heißt er gazeta-ustela.
Die Herstellung des Casu marzu geschieht quasi von selbst. Und das kam in früheren Zeiten durchaus häufiger vor. Denn Käselaibe lagen zur Reifung nicht wie heute in hermetisch abgeriegelten und akribisch gereinigten Kühlräumen, wo sie sauber vor sich hinschimmeln dürfen. Sondern sie lagen unterm Dach, in Ställen, im Keller, in einer Kammer – dort wo der Schäfer halt gerade Platz hatte. Bei manchen, irgendwo im sardischen Nirgendwo, ist das auch heute noch so.
So manch Pecorino entwickelte bei seiner Reifung unter diesen Bedingungen keine durchgängig glatte Rinde, sondern war hier und da beschädigt. Mal fiel einer beim Transport runter, mal gab es Mäusefraß. Und manchmal werden so Schäden auch forciert und Löcher absichtlich gebohrt.
Und das ruft die Käsefliege auf den Plan! Tadaaa!
Sie legt ihre Eier (und das gleich zu Tausenden) in diese Löcher. Und wenn die Larven dann schlüpfen, haben sie vor allem eins: Hunger. Sie nagen sich immer weiter in den Käse, und die Enzyme, die sie bei der Verdauung ausscheiden, wandeln den verbleibenden Käse um und lassen ihn im Inneren weich werden.
Die Maden selbst sieht man nicht unbedingt sofort. Aber wenn dein Gastgeber grinsend einen Käselaib heranträgt, der oben aufgeschnitten und nicht mehr schnittfest ist, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass es sich um den berühmten Madenkäse handelt.
Nicht der Käse, sondern die Made.
Denn einige der Larven, die schon etwas älter oder kurz davor sind, sich zu verpuppen und zur Fliege zu werden, können (wenn man sie nicht gut zerkaut) auch die Passage durch den Magen überleben, da diese Art gegen die Magensäure resistent ist.
Im Darm wähnen sich die Larven dann ähnlich wie im Käse. Und tun was? Genau: Sie fangen an zu fressen. Wenn Maden allerdings Darmwände fressen, ist das tendenziell schlecht. Im besten Fall gibt es nur Schmerzen und blutigen Durchfall und die Maden sind wieder weg. In einzelnen Fällen führt das aber auch zu zu einer Myiasis, bei der der Wirt (in dem Fall der Mensch) die Maden nicht ausscheidet, sondern von ihnen befallen bleibt. Die Folge sind wuchernde Geschwüre, nicht heilende innere Verletzungen und Darmperforationen. Nicht gut.
Kommt alles eher selten vor, aber insofern gilt der Käse als gefährlich.
Üblicherweise ist Madenbefall darum auch das Ende eines Käse. Niemand will verdorbenen Käse essen.
Niemand? Ganz Gallien? 😉
Nein! Eine von unbeugsamen Sarden bevölkerte Insel hört nicht auf, Casu marzu zu essen!
Auf Sardinien fand irgendwann irgendjemand – vermutlich zufällig – heraus, dass das, was die Larven da produzieren, erstaunlich gut schmeckt. Seither wird er als Delikatesse gehandelt.
Oder eben nicht mehr.
2005 trat eine Novelle des EU-Lebensmittelrechts in Kraft, die einheitliche Hygiene- und Produktionsstandards vorschrieb. Alle Lebensmittel, die diesen Standards nicht entsprachen, durften in der EU nicht mehr hergestellt und verkauft werden.
Ganz sachlich betrachtet, finde ich das erstmal verständlich. Gammelfleisch war ja auch ein Skandal.
Und auch eine Käsefliege sitzt zuvor gern mal mit Familie und Freunden auf einem Kadaver oder Exkrementen. Ist ein bisschen schwierig, ihr das zu verbieten oder sie höflichst bitten, dann draußen zu bleiben und sich vielleicht lieber nicht auf den Pecorino zu setzen.
Kuriosum am Rande: Das EU-Recht war kurze Zeit auch ein Problem für einige Kuhkäsesorten, deren große Löcher durch Bakterien begünstigt werden, die in Kuhställen vorkommen. Mehr Hygiene = keine Löcher. Hier behalf man sich mit künstlichen Ersatzbakterien. Zack, waren die Löcher im Käse wieder da.
Zurück nach Sardinien: Die Schäfer und Käser gingen natürlich auf die Barrikaden. Man wolle ihnen die Tradition wegnehmen, so schallte es durch die Berge und Täler der Barbagia, der Heimat des Casu marzu.
Daran hatte die EU zwar nicht primär gedacht (selten werden Gesetze erlassen, um jemand bestimmten zu ärgern). Aber: Ja, das wäre theoretisch die Folge.
Wenn die Sarden sich den Käse denn praktisch wegnehmen ließen. Aber sie verzichten auf nichts, das so gut schmeckt. Dann wurde er eben nicht mehr verkauft. Zumindest nicht kommerziell und sicherheitshalber auch nicht an Fremde. Ganz einfach.
Weil sie also nicht mehr in den Käse darf, ist die Käsefliege arbeitslos. Eigentlich …
Denn hier die erste Beruhigung in Sachen Illegalität: Falls du den Käse jemals bei einem privaten Essen bei einem Hirten aus seinem „Eigenbedarf“ bekommst, ist das erstmal in Ordnung. Erst die Produktion für den kommerziellen Verkauf und Handel sowie der Export (das beträfe wiederum auch unseren Koffer im Flugzeug) wäre nicht mehr im Einklang mit europäischem Recht.
Ein Agriturismo, Restaurant oder auch ein organisiertes Hirtenessen darf ihn nicht auftischen – egal, ob der Schäfer ihn ursprünglich für den Eigenbedarf hergestellt hat (oder das Verderben wie früher einfach passierte). Und auch kein Käseladen wird ihn dir verkaufen.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Das mit dem Käse nimmt man auf Sardinien tatsächlich nicht so genau. Ist ja auch irgendwie richtig.
Der Urlauber an sich mag aber eh keine Larven im Essen. Es gibt allerdings Touristen, die den Casu marzu mit Gewalt und per forza haben und kaufen wollen. Ich weiß gar nicht wie oft ich schon gefragt wurde, ob ich wisse, wo es ihn gibt.
Ja, weiß ich. Aber ich sag’s nicht 😉
Wie auch viele Sarden nicht. Das ist eben eine recht geheime und private Angelegenheit. So mancher, der sagt er wisse nicht, wo man ihn bekommt, hat ihn vermutlich direkt um die Ecke liegen. Aber warum sollte er das irgendwelchen dahergelaufenen Menschen sagen, die vielleicht auch unverschämt und zu direkt sind (soll vorkommen)?
Ein Casu marzu lässt sich nicht planen. Pack bei deiner nächsten Reise in die Barbagia einfach Zeit, Neugier und Abenteuerlust ein. Wage dich nah an den Alltag der Leute, sei nett und lasse Raum für Unvorhergesehenes.
Auch als schwarzes Schaf unterwegs muss man übrigens Glück haben, ihn zu bekommen.
Es ist eh viel spannender, wenn es einfach so passiert. Und wenn, dann bedanke dich wenn du gehst, still aber hunderttausend mal. Denn Casu marzu ist wirklich etwas Besonderes.
Bleibt noch die letzte Frage:
Da scheiden sich die Geister. Auch nicht alle Sarden lieben ihn. Aber die meisten sind ihm zumindest nicht abgeneigt.
Unter Nicht-Sarden ist der Casu marzu nicht so irre beliebt. Grundsätzlich mal verständlich. Zart besaitete und nicht vorbereitete Menschen werden beim Anblick der Maden im Käse vermutlich gleich Reißaus.
Das schwarze Schaf mag ihn recht gern.
Der Käse ist wie oben beschrieben, ein oben offener Laib. Das Innere hat eine cremige Konsistenz und einen intensiven, scharfen Geschmack.
Je nach Reifegrad ist die Schärfe bei manchem Casu marzu sehr präsent, bei anderen eher mäßig. Einfach mit einem Messer ein bisschen davon auf Stück des dünnen Hirtenbrotes pane carasau verfrachten. Und dann gut kauen, um den Maden den Garaus zu machen.
Das ist übrigens der Grund, warum der Casu marzu auch eher für Reisende gefährlich ist: Viele ekeln sich genau davor und schlucken ihn nach einem zögerlichen Bissen einfach runter. So überleben einige Maden eben.
Die Maden sieht man je nach ihrem Alter gar nicht oder deutlich. Gerade geschlüpft bewegt sich da wenig und sie sind fast gar nicht auszumachen, selbst wenn man genau hinschaut. Nach ein paar Tagen beginnt es zu wuseln. Dann erkennt man sie auch an ihren dunklen Chitin-Kauwerkzeugen. Am Ende ihres Larvenstadiums von 20 Tagen sind sie etwa 10 Millimeter lang.
Larven haben aber zum Glück Käsefarbe und ich finde den Anblick im Käse daher nicht unbedingt störend. Die Puppen sind etwas dunkler und gut sichtbar. Aber meistens wird der Käse eh früher gegessen.
Meinen ersten Casu marzu hatte ich gar nicht als solchen erkannt und fröhlich gegessen – weil eben keine Maden drin rumsprangen und ich nicht wusste, wie er aussieht. Vielleicht der Grund, warum ich ihn heute mag.
Auf einem Herbstfest in der Barbagia bekam ich den Casu marzu mal im Glas zur Käsecreme verarbeitet. Nicht ganz billig, dann doch wieder so halblegal. Aber egal, die Maden waren gut zerkleinert und als Brotaufstrich war das richtig gut!
Und wenn du keinen Casu marzu bekommst oder schlicht keine Maden essen möchtest?
Dann empfehle ich den Gang zur Käsetheke: Sehr lang gereifter Pecorino hat eine ähnliche präsente Schärfe. Und eine Pecorino-Creme mit Chili kommt dem Geschmack auch nahe.
Ansonsten geht der Urlaub davon auch nicht unter. Läuft nicht immer alles nach Plan. Schon gar kein Käse.
PS. – Einen weiteren, sehr informativen Artikel mit Informationen zum Casu marzu findet ihr auf dem Blog meines geschätzten Kollegen: https://www.sardinien-auf-den-tisch.eu/casu-marzu-verdorbener-kaese-eine-umstrittene-aber-fuer-viele-sarden-und-sardinienfreunde-ganz-besondere-delikatesse/
Design by ThemeShift.
Andrea Stuhlmueller
10. Januar 2023 at 22:15Ich habe ihn in den 80ern als ich auf Sardinien lebte vom Nachbarn, einem Tierarzt, geschenkt bekommen. Es riet mir, ihn eine Zeit unter Luftabschluss zu lagern um die Tierchen zu töten.
Ich habe ihn gegessen, oft sogar. Mochte und vertrug ihn gut.
Gabi Arnemann-Madau
10. Januar 2023 at 23:55Ein sehr guter, mit ganz viel Humor gespickter Artikel zum Casu Marzu …welcher der sardischen Delikatesse alle Ehre macht 😀😃
Ich bin früher bin durch meine sardische Verwandtschaft auch mehrfach in den Genuss gekommen.
Zugegeben, hätte man mir beim ersten Mal gleich gesagt, was es damit auf sich hat… wäre ich sicherlich kreischend davon gerannt… aber da Maden nicht als solche erkennbar waren… bin ich zum Glück drauf reingefallen und auf den Geschmack gekommen😂
Florian
16. März 2023 at 10:57Ich finde es sehr faszinieren. Und eklig. Aber ich habe vor ein paar Stunden schon gefrühstückt, passt also.
Wir fahren Anfang Mai nach Sardinien und wollen uns (da wir nicht so sehr auf Kirchen und Museen stehen) der Insel kulinarisch nähern, also vor allem Käse, Wein, Mirto usw probieren. Aber das mit dem Faulkäse habe ich mir jetzt gemerkt; es hat sich sozusagen eingebrannt und ich werde in den zwei Wochen nach dem Käse ausschau halten. Meine Frage wäre, ob diese Larven denn auch ein Schaumbad in Alkohol überleben würden, man also – würde man Wein zum Faulfliegenkäse trinken – die kleine Kollegen ohne an einer Alkoholvergiftung sterben würden.
Ich muss ehrlich sagen: ich weiß nicht, ob ich mich trauen werde das zu essen. Aber ich würde es drauf ankommen lassen. Ohnehin müsste ich den Käse ja erstmal finden!