Zwei kleine Orte, gelegen im Grün der Wälder, die sich scheinbar endlos an den Südwesthängen des Gennargentu ausbreiten. Zusammen haben Aritzo und Belvi rund 2.000 Einwohner. Mal mehr, mal weniger. Sie liegen abseits unserer Zeit.

Anfahrt auf Aritzo

Anfahrt auf Aritzo, wie gemalt am Berg gelegen

Das ist als Kompliment gemeint, denn Schnelllebigkeit wirst du hier zum Glück nicht finden. Die Hektik des Alltags ist hier vergessen. Wer schon bei der Landung in Olbia oder am Strand liegend meinte, das zu spüren, versteht erst hier, wie das wirklich geht.

Im südlichen Gennargentu gibt es die extra Dosis Ruhe und Gelassenheit. Schon die Anreise lässt den Sardinien-Entdecker mindestens zwei Gänge runterschalten. Buchstäblich.

Denn die Fahrt ist lang. Und langsam. Des schwarzen Schafes Faustregel für Provinzstraßen 1 km = 1 Minute reicht hier nicht. Es sind eher zwei oder gar drei Minuten pro Kilometer.

Egal, ob man sich den beiden Orten von Norden via Fonni und Desulo, von Westen von Ghilarza und Atzara, von Süden über Mandas und Sadali, oder von Osten aus der Ogliastra von Lanusei und Seui  nähert: Immer liegen von dem nächsten, einfach zu erreichenden Punkt ein bis zwei Stunden Fahrt über enge Serpentinen zwischen dem Reisenden und seinem Ziel (nachdem du vielleicht schon ein Weilchen Schnell- und Landstraße gefahren bist).

Blick auf Belvì vom Texile aus

Blick auf Belvì von Su Texile aus

Da fragt sich so mancher, ob die Mühe überhaupt lohnt. Das schwarze Schaf versteht die Frage generell nicht, aber egal. So viel sei gesagt: Ja, der Weg lohnt und nimm dir Zeit mit.

Aritzo und Belvì sind zwei künstlerisch sehr wertvolle Dörfer Sardiniens. In diesen beiden Orten hat man vor allem zwei Dinge: 1. Zeit und 2. Raum für Kunst und Traditionen.

Wir kommen heute von Desulo, und landen nach langer Gondelei zuerst in …

Belvì: Erstaunliches aus Kunst und Wissenschaft

Difeso e sollevato dai suoi monti / verteidigt und erhoben von seinen Bergen. Auch Belvì hat im Nacken die höchsten Berge der Insel, genauer gesagt hängt es am Hang des Genna de Crobu, in dessen westlicher Richtung sich nach einem weiteren Tal der höchste Berg Sardiniens, die Punta La Marmora erhebt.

Doch neben den Bergen, die das Dorf natürlich prägen, ist der Sinn der Einwohner für Kunst interessant. Beides ist hier eng miteinander verwoben.

Belvì versteht sich als Museo all’Aperto di Arte Contemporanea / ein Freilichtmuseum für moderne Kunst. Du entdeckst den Ort also am besten der Nase nach und langsam durch die Gassen streifend. Geh auch ruhig durch ein paar Straßen, in denen nichts zu sein scheint. Es sind oft Kleinigkeiten, die begeistern.

Holz - das Material der Künstler

Holz – das Material der Künstler

2009 wurde im Rahmen des allsommerlichen Kulturfests des Dorfes ein Pfad angelegt, der durch die kulturellen Highlights, die Natur, die Produkte des Ortes und zu lokalen Künstlern führte.

Das Motto: Sonos de Linna / La materia ha l’anima / die Seele der Materie. Der Kunstpfad ist bis heute geblieben, genau genommen sind es sogar zwei, ein verrät ein Schild am Ortseingang: der erste „L’uomo e il bosco“, wurde bereits 1996/97 angelegt, und ebenjener „Sonos de Linna“ folgte dreizehn Jahre später.

Immer hat die Kunst mit dem zu tun, was man in und um Belvì findet.

Da es hier einige Tischlereien, deren Familien seit Jahrhunderten mit dem Holz der Bergwälder umzugehen wissen, liegt das Material der Wahl nahe. Für „Sonos de Linna“ erstellten sieben Bildhauer der Region erstellten je eine moderne Holzskulptur der Tiere, die hier leben: Wildschwein, Schnecke, Igel, Fuchs, Hirsch und Eule. Zu jedem Werk gehört ein begleitendes Gedicht oder ein Vers. Sie sind heute im Parco Comunale ausgestellt (hier einige Impressionen aus Belvi).

Ziegenhirte zu Pferd mit Launeddas

Ziegenhirte zu Pferd mit Launeddas

Eine große Wand im Zentrum (die Straße führt direkt daran vorbei, es ist quasi nicht zu verpassen) ziert ein ebenfalls aus Holz gefertigtes Kunstwerk mit einer Ziegenherde. Darunter sitzen die alten Männer zum Gespräch, wie in fast jedem – hier kann man sogar mal sagen – italienischen Dorf. Obwohl Belvì mit dem, was man landläufig mit Italien assoziiert, herzlich wenig zu tun hat. Aber wen stört das.

Wer sich für Kunst nicht so begeistern kann – den lockt vielleicht das naturwissenschaftliche Museum: Museo di Scienze Naturali di Belvi (zum Blog des Museums). Die Sammlung ist erstaunlich umfangreich und beim Fachpublikum hoch geschätzt. Sie enthält neben einer großen Abteilung zur heimischen Tierwelt, zahlreiche Fossilien und Gesteine vorwiegend aus Sardinien, und einige der schönsten Schmetterlinge Sardiniens und der ganzen Welt.

Ansonsten ist Belvì einfach ein sehr hübscher Ort. Seine Bewohner haben Sinn für Details, schaffen Raum für etwas Besonderes, die Häuser und Fenster wirken gepflegt, hier und da tut sich der ein oder andere Kleinkünstler hervor.

Kunst und Poesie: volo impossibile - der unmögliche Flug

Kunst und Poesie: volo impossibile – der unmögliche Flug (Klick = Ansicht vergrößern)

Nach dem kleineren Ort ist übrigens der gesamte Landstrich benannt: die Barbagia di Belvì (sardisch: Barbàgia de Brevìe).

Aritzo: ein einsamer Fels und der Weg in die Berge

Von A nach B, bzw. in unserem Fall von B nach A, von Belvì nach Aritzo, kommt man dann wiederum sehr schnell: Die beiden liegen im gleichen Tal und nur 4 km auseinander. Damit es auch lohnt, den Motor anzuwerfen, fahren wir daher erstmal weiter.

Ein paar Kilometer hinter Aritzo nämlich liegt dessen Wahrzeichen: Su Texile (sprich: Teschile). Einer der typischen Felsabsätze der Region (genaue Lage siehe in der seitlichen Karte).

Su Texile oder genauer: Meseddu de Texile bedeutet soviel wie „isolierter Felsen“, wobei „meseddu“ eine Verkleinerung des Wortes „mesa“, was wiederum „Tisch“ bedeutet, ist.

Rauf auf den Felsen Su Texile!

Rauf auf den Felsen Su Texile!

Dieser „Tisch“ hat ziemlich hohe, senkrechte Seitenwände. Die kann man mit einigem Geschick sogar hinauf klettern. Hinunter ist es etwas schwieriger, aber nicht unmöglich – wir haben’s jedenfalls geschaf(f)t.

Oben steht der staunende Reisende auf 974 Metern über dem Meer (der Fels selbst ist 24 Meter hoch) und hat einen grandiosen Ausblick auf die gesamte Region.

Obwohl hier die höchsten Berge der Insel in direkter Nachbarschaft liegen, wirkt alles sehr sanft und eher hügelig. Und vor allem: menschenleer.

Überhaupt ist es sehr ruhig hier. Sowohl auf dem gesamten Pfad – hier verirrt sich kaum ein Tourist her – als auch zurück in Aritzo. Mitten in der Siesta durchfahren wir das Dorf und erblicken zunächst nicht eine Menschenseele.

Zurück in Aritzo wollen wir das „Museo della montagna sarda o del Gennargentu“, ein Volkskundemuseum, das vom Leben in den sardischen Bergen erzählt, besuchen, in dessen Nachbarschaft man auch noch ein altes Gefängnis aus spanischer Besatzerzeit besichtigen kann. Beides hat mittags natürlich geschlossen.

Alter Ausländerfehler – versuche niemals zwischen 13 und 16 Uhr irgendwo rein zu wollen …

Wir haben also wieder Zeit. Ein Geschenk der Berge.

Land und Leute kennenlernen

Su Texile von weitem

Su Texile von weitem

In dieser Zeit könnte man weiter wandern, die Wege sind vielseitig. Wir entschließen uns, ein wenig auf den sardischen Alltag zu spähen und steuern die nächste Bar an.

Auf den ersten Blick wirken die Leute darin etwas abweisend – schon in Belvì hatten wir kurz diesen Eindruck. Das täuscht allerdings – das ist eine angeborene, abwartende Haltung. Ähnelt ein bisschen dem Hirsch im Wald, der auch erstmal guckt, was oder wer da ist.

Wir grüßen lächelnd und freundlich, bestellen Ichnusa (die paar Brocken Italienisch inklusive Bitte und Danke sind schnell gelernt) und setzen uns draußen in die Sonne.

Wir saugen wir in aller Ruhe die Ruhe auf, beobachten. Eine gute Art, zu verstehen, wie das Dorf tickt. Wir chillen, uns umgibt eine sagenhafte Gelassenheit.

Irgendwann merken wir: Die drei Herren auf der anderen Seite der Bartür sprechen über uns. Herrlich, es ist mitten in der Hauptsaison und Reisende sind ein Gespräch wert, so selten ist unsere Spezies hier.

Die Bar am großen Platz bei dem wunderschönen Brunnen am Eingang von Aritzo ist sowas wie ein Dorftreffpunkt. Handwerker, Teenies, alte Damen – alle kommen hier vorbei für ein Schwätzchen.

Wir machen nebenher ein paar Fotos, natürlich von dem Brunnen – der ebenfalls ein kleines Kunstwerk ist, und auf die alten Quellen der Umgebung aufmerksam macht. Eine Holzskulptur mit Tieren ist auch am Platz: Muflon, Wildschwein, Adler.

Nach einer halben Stunde die ersten zarten Annäherungen. Ein älterer Herr erklärt uns den Brunnen. Wo diese Quellen sind, die in der Inschrift erwähnt sind. Dass ein Weg zu ihnen führe, der gleich hinter dem Dorf begänne.

Eine schöne Wanderung sagt er, und zeigt auf unsere Wanderschuhe. Man könne sogar auf wilde Pferde treffen, dort oben lebe eine freie Herde, die niemandem gehört. Auf jeden Fall aber träfe man Tiere, die die Quellen natürlich auch kennen. Wir nehmen uns das für den nächsten Tag vor.

Ihr seid aber abends wieder hier, bevor es dunkel wird! sagt er noch. Mahnend-liebevoll, fast wie ein Vater.

Holzarbeiten in Aritzo

Holzarbeiten in Aritzo

Seine Freundlichkeit ist nicht übertrieben (die manchmal lärmende Herzlichkeit anderer Dörfer oder gar des italienischen Festlandes scheint hier unbekannt).

Was dann folgt, ist wieder typisch sardisch: Das Gespräch gipfelt natürlich in einer Einladung zum Abendessen – etwas, worauf der neugierige Reisende im Inselinneren immer gefasst sein muss und nicht enttäuscht sein darf, wenn es nicht passiert.

Alles eine Frage des Sich-Mögens nach dem Sich-Beschnuppern. Und von Zeit. Wenn du nur kurz anhältst, gar aus dem Autofenster Fotos machst, wird dir das nicht passieren. Obwohl, vielleicht doch.

Ein paar Tage später fuhren wir durch ein Dorf und fotografierten ein Wandgemälde. Jemand sprach uns an, meinte, wir sollen unbedingt aussteigen, da hinten in den Gassen gäbe es noch mehr und ob er uns auf einen kleinen Wein einladen dürfe.

Wir müssen die Einladung des alten Herrn in Aritzo ungemütlicherweise ablehnen, weil wir in unserer nächsten Herberge in Seui am frühen Abend erwartet werden. Termine … wir kommen uns sehr dumm vor.

Aber bis dahin sind es noch gut 40 Kilometer über kurvige Landstraßen. Das dauert – nach obigen Faustregeln – locker eineinhalb bis zwei Stunden.

Das versteht der Herr – er selbst scheue schon jede Fahrt nach Belvi – und wünscht sich und uns, dass wir noch einmal wiederkommen nach Aritzo – und mehr Zeit mitbringen. Ja … unser Fehler, dass wir es hier „eilig“ haben, und das obwohl wir uns für „touristische Verhältnisse“ schon sehr ausdauernd vorkamen.

In unserem nächsten Ziel, Seui, geht es weiter mit der Kultur, so man denn möchte. Die „Musei di Seui“ (ein kleiner Zungenbrecher, probier mal das unbeschadet zu sagen), kosten ein paar Euro für vier Museen. Und die haben – allen Unkenrufen zum Trotz – sogar mittags geöffnet, wenn anderswo noch alles pennt.

Also: Hinfahren, Augen auf, Zeit mitnehmen!

Es gibt im südlichen Gennargentu so viel zu entdecken, da wird der Aufenthalt der langen Anfahrt allemal gerecht.

Reisetipps für Aritzo und Belvi

Brunnen in Aritzo

Brunnen in Aritzo

Die Orte werden in den Sommermonaten von dem Trenino Verde angefahren (Belvì und Aritzo ab Mandas, Seui auch ab Arbatax, Fahrpläne auf www.treninoverde.com). Dann fühlt man sich so richtig weit in der Zeit zurückversetzt.

Eine warme Empfehlung für unsere Unterkunft: In der Azienda Agrituristica „Aradonì“, an der Landstraße kurz vor Belvì gelegen, wohnten wir in Rundhäusern aus Stein, die den „Pinettos“ der Hirten nachempfunden sind und oberhalb der Azienda in einem Waldstück liegen. Sehr schön und sauber, auf Wunsch hätte man für uns sogar den Kamin angeworfen. Wir wollten keine Umstände machen – und haben uns am nächsten Morgen schon etwas geärgert, denn wir sind hier auf ca. 850 Metern und die Häuser sind nachts trotz Klimaanlage im Winter nicht so ganz warm. Zum Glück hatten wir einen Schlafsack dabei. Das Essen war reichhaltig und gut, alles stammt aus eigener Produktion.

Die Dörfer der Inselmitte erkundet man am besten im Herbst – wenn auch die Dorffeste anlässlich des „Autunno in Barbagia“ stattfinden und die Menschen ihre Häuser und Höfe öffnen. Dann bekommst du einen sehr intensiven Eindruck dessen, was die Inselmitte so alles zu bieten hat.

Auf sardegnaforeste ist einer der Wanderwege zum Texile beschrieben.

Der Übergang aus der Barbagia di Belvi zur Barbagia Mandrolisai, einer kleinen aber feinen Weinanbauregion im Westen, ist fließend. Im Süden schließt sich das Sarcidano an, geprägt von Landwirtschaft, Tierhaltung und einigen Stauseen. Tiefer in die Bergwelt und die südlichen Ausläufer des Gennargentu führt die urwaldartige Barbagia di Seulo (ein traumhaftes Trekking-Gebiet).

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