Ein kleines, verlassenes Bergbaudorf sucht seine Identität. Wie so oft auf Sardinien haben auch hier in Argentiera, Menschen durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten einen Ort massiv geprägt – und nach ihrem Weggang sich selbst überlassen.

Argentiera ist eines der wichtigsten Beispiele für Bergbauarchäologie und Industriearchitektur auf Sardinien. Aber auch dafür, wie Kunst und Kultur helfen, Ideen im nachhaltigen und vorsichtigen Tourismus umgesetzt werden können.

Argentiera – Vergangenheit und Zukunft

Die Mine in Argentiera war ein Bergwerk, in dem silberhaltiges Blei und Zink abgebaut wurden – das verrät der Name, der von argento / Silber abgeleitet wurde.

Leider ist der Ort weitgehend verlassen und ungenutzt und – auch weil dem starkem Wetter der Westküste ausgesetzt – im Verfall begriffen. Putz blättert ab, Metall verrostet, Wände stürzen ein.

Ein typischer „Lost place“ würde man heute sagen. Und tatsächlich ist gar nicht so einfach, ihm wieder Leben einzuhauchen.

Seit einigen Jahren versucht das Kunstprojekt Landworks hier zu „vermitteln“, zwischen der alten und der neuen Zeit, zwischen touristischen und einheimischen Interessen, im generell schwierigen Spannungsfeld zwischen Politik und Kultur.

Ihr Projekt MAR Miniera Argentiera will als partizipatives Projekt, den alten Bergwerkskomplex von Argentiera zuvorderst schützen, aufwerten und wiederbeleben.

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Die Hauptaufgabe von MAR besteht darin, das ehemalige Bergbaudorf zu regenerieren, indem es in ein Zentrum für künstlerische und architektonische Experimente sowie multidisziplinäre künstlerische Produktionen wird (mehr dazu weiter unten).

Das Kunstmuseum am Pozzo Podesta oberhalb des Ortes ist aktuell geschlossen, und ein Ansatz aus 2019, Argentiera mit Augmented Reality erlebbar zu machen, ist technisch nicht mehr zugänglich. Die Gründe mögen vielfältig sein – in jedem Fall sind beides Zeichen einer schwierigen Zeit.

Das Projekt stellt sich diesen Herausforderungen und organisiert Projekte und Events.

So findet Ende Juli ein Literatur-Festival statt, an speziellen Tagen werden Lichter installiert, an anderen Exkursionen angeboten.

Und Argentiera ist und bleibt ein visuelles Erlebnis – für Liebhaber von Industriearchitektur, Kunst und Lost Places eine fantastische Destination.

Starten wir zu einem kleinen Rundgang durch Argentiera!

An der wilden Westküste …

Das schwarze Schaf kann nicht anders, als Argentiera schön zu finden. Allein die wundervolle Lage der Bucht, eingerahmt von Felswänden ist geheimnisvoll und bei Wind und Wellen, und bei Stürmen, die von Westen direkt herein rauschen, besonders beeindruckend.

Der Ort ist inklusive seiner beiden Strände mit kleinen Kieseln auch nie überfüllt – nicht einmal in der Hauptsaison.

Heute weht nur ein leichter Wind und der Tag lockt einige Badegäste nach Argentiera. Es wirkt geradezu lieblich.

Wer hier aber nur am Strand liegt, verpasst aber das meiste – und das Beste.

Die Industriearchitektur und die Bergbaugeschichte

Argentiera – die Bergbaugeschichte

Das silberhaltige Blei- und Zinkvorkommen war seit der Römerzeit bekannt, in signifikantem Stil abgebaut wurde es erst Ende des 19. Jahrhunderts.

Einst war Argentiera eine der produktivsten Bergbausiedlungen im Norden der Insel.

Kleines Kuriosum am Rande: Der Schriftsteller Honoré de Balzac, der stets über seine Verhältnisse lebte, wollte mit dem Abbau von Silber in Argentiera seine Finanzen wieder auf Vordermann bringen. 1838 schiffte er sich in Marseille ein, um in Argentiera die notwendigen Konzessionen für die Ausbeutung der Blei- und Silbervorkommen zu erlangen. Doch ein Freund, dem er sich anvertraut hatte, kam ihm zuvor, kaufte und verkaufte die Konzessionen zu einem guten Preis. Und so ging der mittellose Dramatiker wieder leer aus.

Die ersten industriellen Aktivitäten wurden von der belgischen „Société Anonyme Minière et Métallurgique Sardo-Belge“ aufgenommen. Diese bauten die Stollen aus, schufen eine veritable Logistik und eben das kleines Dorf mit Wohnungen für mehrere hundert Familien der Bergleute und Techniker sowie für zivile Dienste errichtet.

An der Reede von San Nicolo wurde eine Anlegestelle für die Verladung des geförderten Erzes auf dem Seeweg gebaut, die heute nur noch rudimentär vorhanden und von Atmosphäre, Wasser und Wellenkraft zersetzt wurde.

Im Jahr 1886 wurde das Bergwerk an die italienische „Società di Correboi“ verkauft, die auf Betreiben ihres Mäzens, des genuesischen Finanziers Andrea Podestà, die Produktion noch einmal intensivierte und den Ort modernisierte. Auch ein Kino wurde gebaut.

Argentiera war ein in sich geschlossener, kleiner Mikrokosmos, in dem es an fast nichts fehlte. Außer an einer nachhaltigen Zukunft.

Die Mine wurde 1962 geschlossen, als das Vorkommen erschöpft war, die Menschen zogen weg, widmeten sich der Landwirtschaft in der Umgebung oder verarmten.

Die Industriearchitektur in Argentiera

Die Architektur vieler Wohn- und Arbeitsgebäude ist nicht wirklich schön, sondern zweckmäßig, mit viel Zement gestaltet.

Doch das Bergbauzentrum mit der alten Gesteinswäscherei der Mine, gebaut aus Kiefernholz, umgeben von Lagerhäusern und Produktionsstätten sowie Gebäuden für technische Einrichtungen – das hat sehr viel Charme.

Der oberhalb des Ortes gelegene Schacht „Pozzo Podestà” beherbergt heute das Kunstmuseum und war früher das Herz des Bergbaus. In der Nähe befanden sich die Elektrokabine, die Schmiede, der Kompressorraum, das Wachhaus, die Schreinerei und ein Blockhaus.

Ab 1890 wurde hier auf einem Niveau unterhalb des Meeresspiegels die erste Ebene (genannt: Sohle) eingezogen. Der Schacht verband die Außenwelt mit dem Untergrund.

Der Podestà-Schacht erreichte eine Tiefe von minus 220 Metern. Auf dieser Höhe wurde ein interner Schacht mit dem Namen „Umberto“ abgetrennt, der wiederum bis 333 Meter reichte – die tiefsten Teile der Lagerstätten.

Das geförderte Gestein und gewonnene Material wurde auf von Menschen geschobenen oder von Maultieren gezogenen Karren transportiert, und zur Anreicherungsanlage und Gesteinswäscherei (laveria) oder ins Lager gebracht.

Und heute, 80 Jahre später? Nur etwa 70 Menschen wohnen noch ständig hier.

Argentiera ist Teil des sardischen Geo-Bergbauparks und erfuhr eine Aufwertung und Aufmerksamkeit im Rahmen der Bewerbung als UNESCO-Weltkulturerbe. Zusammen mit den anderen Bergwerken Sardiniens ist es Teil eines internationalen Themenparks.

In Argentiera werden aber die Gebäude und der Ort nicht nur als historisches Zeugnis, sondern vielmehr als Leinwände verstanden.

Und so hat sich Argentiera auch zu einer Destination für Kunst- und Kulturreisende entwickelt.

Die zeitgenössische Kunst

Die von LandWorks initiierten Projekte und Regenerationsmaßnahmen sollen Prozesse der Aufwertung und der dauerhaften Wiederherstellung durch eine Umgestaltung auslösen, die auf das historische und kulturelle Erbe sowie auf die wertvollen Merkmale der Landschaft und der vorhandenen Architektur achtet.

Dabei sind die Projekte stets temporär und natürlich – wie im Leben ist der Verfall Teil des Konzepts. So wird wo immer möglich mit natürlichen Materialien gearbeitet.

Realisiert: LA SCALA

Ein Projekt aus 2022, entworfen als öffentlicher Kultur- und Freizeitraum für Geselligkeit und Austausch.

Realisiert wurde es von LandWorks mit dem sardischen Street-Artisten Tellas (Fabio Schirru) und fand Unterstützung von zahlreichen Partnern – unter anderem der Stadtverwaltung von Sassari, der Fondazione Sardegna Film Commission, der Univeristät Sassari (DADU – Department of Architecture, Design and Urban Planning, und DISSUF – Department of History, Humanities and Education), der Fondazione di Sardegna. Es entstand unter der aktiven Beteiligung der lokalen Gemeinschaft und zahlreicher anderer Partner.

Das Projekt ist einer der Gewinner des Preises „Creative Living Lab“, der von der Generaldirektion für zeitgenössische Kreativität des italienischen Kulturministeriums zur Unterstützung multidisziplinärer und sozialer Innovationsprojekte zur Schaffung und Umgestaltung von Stadtvierteln gefördert wird.

Realisiert: FRONTE MARE

Die Fläche direkt vor dem Meer umfasst mehr als 500 Quadratmeter, die zuvor als freier Parkplatz genutzt wurde. Nun steht sie der Gemeinschaft als Raum für Geselligkeit, Spiel, kulturelle und sportliche Veranstaltungen zur Verfügung.

Die Basketballkörbe sind nicht zufällig da – der Profi-Basketball-Verein Dinamo Sassari unterstützte das Projekt und richtete zur Eröffnung ein Turnier mit den Jugendmannschaften aus. Jungen und Mädchen, geboren zwischen 2007 und 2011, waren die ersten, die den Platz nutzten.

Lassen wir kurz die Gründer des Projektes LandWorks zu Wort kommen. Paola Serritu und Andrea Maspero erklären FRONTE MARE und die Arbeit der Künstler Tellas und 2bleene so:

„In Anlehnung an die Beschaffenheit des Ortes bezeichnen wir uns gerne als Kulturbergleute und graben nach dem Potenzial dieses wertvollen Juwels inmitten der Natur. Die Intervention möchte die Aufmerksamkeit auf das Thema der Wiederherstellung und Wiederverwendung von stillgelegten Räumen lenken und die zeitgenössischen Bedürfnisse eines verlassenen Ortes neu interpretieren.“

Und auch hier, in diesem neuen Projekt aus 2023 sehen wir, wie die Natur ihren Platz behauptet: Strandsand und Treibgut, sowie durch Regenfälle und Stürme angeschwemmte Materialien verdecken einige der künstlerischen Bestandteile.

In Arbeit: DISCESA MARE

Das 2024 initiierte Projekt DISCESA MARE widmet sich der riesigen Zementtreppe, die direkt zu den beidem Stränden des Ortes hinabführt. Dieses natürliche Auditorium als Aussichtspunkt auf den Strand und den Sonnenuntergang setzt das Meer in Szene – und hat mehr als verdient, nicht nur als reiner Durchgang verstanden zu werden.

In der ersten Projektphase wurden umfangreiche Sanierungsarbeiten durchgeführt, von der Zugangstreppe zum Hauptstrand von Argentiera und dem öffentlichen Parkplatz oben auf der Böschung.

Ziel der aktuellen Intervention ist, diesen Raum mit einer hohen Durchgangsdichte neu zu definieren und aufzuwerten, indem man sensibel auf ihn einwirkt und eine neue Lebensqualität definiert, indem man den Abstieg zum Meer mit öffentlichen Mikroräumen anreichert.

Das schwarze Schaf erwartet mit Spannung, was an diesem außergewöhnlichen landschaftlichen Ort noch erschaffen wird!

Weitere Informationen zum Projekt Landworks

(Quelle: https://www.landworks.site/about)

Die Kulturvereinigung LandWorks (LW) wurde 2011 gegründet und organisiert hauptsächlich internationale mobile Workshops zu den Themen Kunst, Architektur und Landschaft an Orten von besonderem historisch-ökologischem Wert, die sich jedoch in einem starken Zustand des Verfalls und der Verlassenheit befinden und sozioökonomische Notlagen aufweisen.

Ziel ist es, die ausgewählten Orte durch Kultur und Kreativität aufzuwerten und zu regenerieren, und zwar unter aktiver Einbeziehung von Experten, Lehrern, Fachleuten, internationalen Architektur-, Landschafts-, Kunst- und Fotostudenten und der Beteiligung der ansässigen Bevölkerung in einem multidisziplinären Spektrum.

Unter Einbeziehung verschiedenster kreativer und performativer Disziplinen (Kunst, Architektur, Design, Tanz, Musik und Theater) entwickelt LW Projekte der sozialen und kulturellen Innovation: Es organisiert Workshops und experimentelle Labors, Künstler-, Studien- und Forschungsaufenthalte, Ausbildungspraktika, Museumsinstallationen, Kultur- und Freizeitveranstaltungen, Konferenzen, Seminare, Festivals und Kulturmarketingaktivitäten.

Ihr operativer Sitz befindet sich in Argentiera, einem ehemaligen Bergbaudorf im Norden Sardiniens, wo sie in Zusammenarbeit mit der Gemeinde, lokalen und internationalen Organisationen und Institutionen ein Stadterneuerungsprojekt ins Leben gerufen hat.

Künstler können sich jedes Jahr für laufende Projekte bewerben. Nehmt einfach mit euren Ideen über die Webseite Kontakt auf.

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