Den archäologischen Komplex von Tamuli bei Macomer habe ich ungefähr vor zehn Jahren das erste Mal besucht – fand aber eigentlich nur die Menhire spannend. Vor wenigen Wochen war ich erneut da und habe mir Tamuli mit mehr Hintergrund und anderen Augen angesehen.

Wenn jemals die Bezeichnung „Archäologischer Komplex“ für einen Ort richtig war, dann für Tamuli bei Macomer: der Complesso archeologico di Tamuli auf der Hochebene Pranu e Murtas nahe des Monte Sant’Antonio besteht aus mehreren Monumenten gleichzeitig. Zusammen auf dem Areal stehen ein schöner Nuraghe, ein nuraghisches Dorf, drei Gigantengräber und sechs Menhire, in diesem Fall auch Bätyle genannt.

3 in 1: ein Nuraghe mit Dorf, sechs Menhire und drei Gigantengräber

Das Kuriose: Eigentlich stammen die Bauwerke ihrer Art nach aus unterschiedlichen Epochen oder Kulturphasen Sardiniens. Ganz grob:

  • Menhire sind üblicherweise am ältesten, aus der Steinzeit, als der Mensch zum Leben noch Grotten, Höhlen und Felsen nutzte, die er vorfand.
  • Gigantengräber stammen meist aus der Jungsteinzeit, als erste megalithische, also mit großen und behauenen Steinen errichtete Bauwerke, für den Totenkult entstanden. Jüngere Exemplare stammen aus der Eisenzeit.
  • Nuraghen sind Bauwerke aus der Bronzezeit, als Menschen auf Sardinien nur noch halbnomadisch lebten, Landwirte wurden, Handwerken nachgingen und sich niederließen.

In Tamuli sind sie an einem Ort vereint. Eine genaue Datierung habe ich nicht gefunden. Aber aus Keramik- und Knochenfunden schließen die Archäologen, dass sie zumindest ungefähr zur gleichen Zeit genutzt wurden, nämlich rund um 3000 vor unserer Zeit.

3 in 1, sozusagen. Allein das macht Tamuli zu einer besonderen Stätte.

Tamuli: entdeckt von Alberto Lamarmora

Die Stätte war bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt: Der General Alberto Della Marmora, der Sardinien kartographierte (und auch dem höchsten Berg seinen Namen gab), beschrieb sie in seinem 1840 veröffentlichten Werk Voyage en Sardaigne. Der gesamte Komplex inklusive der Bätyle war noch halb eingegraben, so dass er sie zur Untersuchung vorsichtig freilegen musste. Er ordnete die Steine zunächst der phönizischen Zeit zu, was aber nicht richtig war.

Al 1973 leiteten die Archäologen Ercole Contu und Renato Loria dann umfangreiche Ausgrabungen.

Der ordentliche Rundgang beginnt in einem kleinen Häuschen bei den Gigantengräbern, das einige Keramiken zeigt und mit ersten Visualisierungen aufwartet, die helfen, die Stätte einzuordnen. Schön gemacht.

Das schwarze Schaf rennt aber aus lauter Neugier erstmal direkt zum Kuriosum von Tamuli: den Steinen mit den Brüsten.

Steine mit Brüsten: die Bätyle oder Menhire von Tamuli

Neugierig lesen wir die Informationstafel, die verrät: „Zur Linken des Gigantengrabs (A) sind sechs bemerkenswerte Bätyle zu finden, die vermutlich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Anordnung stehen; zumindest verändert gegenüber der Freilegung durch A. Lamarmora. Die Monolithen sind aus Basalt und alle mit Hämmern bearbeitet. Sie sind konisch und bauchig gewölbt. Die weiblichen Bätyle mit Brüsten, sind 1,55 – 1,54 und 1,53 m hoch; kleiner und gedrungener sind die drei männlichen Bätyle mit 1,25 – 1,33 und 1,38 m.“

Die drei weiblichen Menhire: Sa petra uue sunt sos thithiclos

„Sa petra uue sunt sos thithiclos“, der Stein mit den Brüsten, nannte man die Steine im Mittelalter, in einem längst nicht mehr gesprochenen Dialekt. Heute nennen die Sarden sie pedras marmuradas (oder italienisch: pietre mammellate > mammella ist die weibliche Brust, bei Tieren nennt man auch Zitzen, Euter etc so).

Insgesamt sechs Menhire stehen gleich bei dem letzten Gigantengrab, in zwei Dreiergruppen. Alle sechs sind gezielt in Form gehauen. Drei von ihnen haben jeweils zwei Wölbungen, die aussehen wie Brüste. Darum ist die Bezeichnung Statuenmenhir auch passend, wegen des In-Form-Bringens.

Die drei männlichen Bätyle von Tamuli
Die drei männlichen Bätyle von Tamuli

Ein alter Reiseführer, einer meiner liebsten, die ich im Bücherregal habe, befragt, ergründet ihren Ursprung etwas weiter:

„Solche meist in Gruppen angeordnete Bätylen, um die sich unzählige Volkserzählungen ranken, finden wir in den verschiedensten Ausführungen auch vor Gigantengräbern. Die ältesten von ihnen werden in die Mitte des zweiten Jahrtausends (v. Chr.) datiert: Es sind schlanke, „phallische“ Steinpfeiler […], welche an die Fruchtbarkeitssymbolik der Ozieri-Kultur anknüpfen; ebenso früh einzuordnen sind spitzbogige „Gestalten“ in der Art der pèrdas marmuradas von Tamuli […] – sie scheinen ein dreifaches Götter- oder Ahnenpaar zu symbolisieren, da drei von ihnen durch Brüste eindeutig als „weibliche“ Bätylen gekennzeichnet sind.“
(Quelle: Rainer Pauli; Sardinien Geschichte, Kultur, Landschaft; 1978 DuMont Buchverlag Köln)

War Tamuli eine Art Kultstätte?

Die Menhire von Tamuli werden als Bätyle (oder Bethyle, ital.: betili) bezeichnet, weil die Forscher einen Zusammenhang mit religiösen Kulten vermuten. Der Wortursprung ist im Griechischen zu suchen: Baitýlia oder Baítyloi heißen sie da. Das meint „Haus Gottes“ und erinnert an den aramäischen Begriff „bet el„, hebräisch Bethel, der für religiöse Stätten verwendet wurden.

Ein religiöser Hintergrund liegt nahe. Das Vorhandensein von gleich drei Giganten- und Kollektivgräbern in direkter Nähe legt einen direkten Zusammenhang mit antiken Begräbnisritualen nahe.

Außerdem gibt es eine Quelle auf dem Areal. Man könnte die Stätte also auch mit dem antiken sardischen Kult um das Wasser und Naturgottheiten in Verbindung bringen.

Menhire wurden oft als göttlich, mindestens als beseelt verstanden. Oft waren sie auch Repräsentanten für Verstorbene. Anderenorts wiederum fungierten sie als eine Art Wächter, z. B. Grabwächter oder an Eingängen von Kultstätten.

In Tamuli blitzt Dank der Menhire sogar ein bisschen Yin und Yang blitzt durch: Die sechs Basaltsteine bilden eine Einheit, eine Art Pantheon. Drei können als weibliche Repräsentanten der Muttergottheit / Dea Madre interpretiert werden. Die anderen drei symbolisieren die männlichen Gegenstücke, die Naturgötter.

Schwarzschafige Interpretationen …

Als das schwarze Schaf das erste Mal davor stand, musste es seine Fantasie schon sehr stark bemühen, um in den sechs unregelmäßig angeordneten Felsen auf dem archäologischen Gelände von Tamuli überhaupt Menschen zu erkennen. Sie erinnerten eher an die Hinkelsteine von Obelix …

Aber nein, wir wollen nicht despektierlich sein. Nun sind Schafe aber keine Archäologen, Historiker oder Kultexperten. Sie denken praktisch: Zum Umgrasen und Dranschubbern sind so Felsen prima …

Mir gefällt die Assoziation einer Besucherin, die sagte „Die sehen aus wie Schlammspringer, deren Köpfe bei ihrem Sprung aus der Erde herausragen“. Vielleicht sind die Brüste ja auch die Glupschaugen von Außerirdischen, wie ihr Sohn besser wusste.

Wer bin ich Schaf, das zu verneinen?!

Schwarzschaf-Tipp » Zum besseren und wissenschaftlicheren Verständnis lohnt ein Besuch anderer Fundorte und Museen zu diesem Thema: Menhir-Museum von Laconi – die archäologische Stätte Pranu Mutteddu bei Goni – Biru ‚e Concas bei Sorgono – Museo MaTer und der Stein Perda Pinta in Mamoiada.

Die weibliche und männliche Welt kennen wir nun also. Jetzt wagen wir uns an die nächste Dualität:

Tamuli: die Welt der Lebenden und der Toten

Die Menhire stehen östlich des Nuraghen, dort, wo das nuraghische Dorf endet und das Begräbnisareal beginnt. Also genau zwischen dem Dorf der Lebenden und den drei Gigantengräbern, die dem Totenkult und der Verehrung der Vorfahren dienten.

Links das Dorf, rechts die Gräber. Ob als Grabwächter oder Götter, bleibt Vermutung.
Links das Dorf, rechts die Gräber. Ob als Grabwächter oder Götter, bleibt Vermutung.

Das sicher erstmal aus dem gleichen Grund, warum auch heute Kirchen und Friedhöfe nah beieinander liegen: weil die Menschen den Verstorbenen weiter nahe sein wollten. Sie erbaten sicher auch über eine Art Priester Segnungen für die Lebenden und die Toten.

Aber es liegt auch nahe, dass die symbolhaften Menhire nicht einfach zufällig dort platziert wurden, sondern vielmehr auch, um den Übergang von dieser Welt in das Jenseits zu verdeutlichen.

Mit den sardischen Totenkulten sollte den Verstorbenen der Weg erleichtert werden. Die Kraft der Männlichkeit sollte die Gräber und die Toten schützen. Die Fruchtbarkeit und weibliche Lebenskraft der Göttin würde die Verstorbenen regenerieren und sie in die andere Welt hinübertragen.

Darum schaut sich das schwarze Schaf nun auch die Gigantengräber an.

Die drei Gigantengräber: mehr als ein Friedhof

Quelle / Copyright: Google Maps

Der Grabkomplex besteht aus drei Gigantengräbern / Tomba dei Giganti. Das erste Grab ist nur noch Ruine. Bei den beiden anderen Gräbern der typische Grundriss zu erkennen.

Das taurinische Protom, also ein Stierkopf – und ein Symbol für den Stiergott / Dio Toro, oder den männlichen Teil des Kultes.

Die geschwungenen „Hörner“ bilden die halbkreisförmige Exedra (der heiligste Teil des Bauwerkes). Die zentrale Stele ist schon vor langer Zeit umgestürzt und liegt am Boden. Der lange Korridor hinter der Stele ist die eigentliche Grabkammer. Gigantengräber waren Kollektivgräber.

Die Korridore bei Tamuli waren neben Basaltquadern und -felsen mit vier- und fünfeckigen, behauenen Steinplatten eingerahmt und geschlossen. Diese Technik sowie die Quaderbauweise sprechen beide für ein jüngeres Datum der Gräber, nämlich aus der Nuraghenzeit (Bronzezeit). Verstorbene wurden nacheinander hineingelegt und somit gemeinschaftlich beigesetzt. Opfergaben wurden durch die kleine Tür vorn hineingegeben.

Das dritte Grab ist am besten erhalten, der Korridor gut erkennbar
Das dritte Grab ist am besten erhalten, der Korridor gut erkennbar

Auf Youtube gibt es eine Rekonstruktion der gesamten Stätte von Tamuli, mit den Gigantengräbern, den Menhiren davor und dem intakten Nuraghen, der Bastion, die im Hintergrund über allem thront.

Gezeigt wird auch die Beisetzung. Hypothetisch, versteht sich, und so verzichtet man auf die Rekonstruktion der Kulthandlungen, weil man über diese zu wenig weiß. Die frühe sardische Kultur kam weitgehend ohne schriftliche Dokumentationen aus. Aber sich das anzusehen, hilft, die Stätte insgesamt besser einzuordnen:

Rekonstruktion der Gigantengräber und der Kulthandlungen von Tamuli

Der Nuraghe Tamuli und das nuraghische Dorf

Tamuli ist auch der Name des wunderschönen Nuraghen, umgeben von den Resten eines antiken Dorfes. Sie stammen wie auch der Rest der Anlage aus der mittleren und jüngeren Bronzezeit etwa 1600 bis 1200 vor unserer Zeit.

Betreten verboten: Nuraghe Tamuli
Betreten verboten: Nuraghe Tamuli

Behutsam in die Felslandschaft eingebaut, war der Nuraghe Tamuli der Mittelpunkt des bronzezeitlichen Lebens. Er hat einen zentralen Turm und eine Bastion mit zwei weiteren Türmen.

Leider ist er von innen nicht zu besichtigen, die gesamte Struktur ist nicht gesichert und man darf ihn nicht betreten, auch nicht drauf klettern.

Aber vielleicht ist das auch gut so. Vielleicht hat er deswegen viel von seiner Strahlkraft bewahrt. Jetzt, als sich die Wolken verdichten, und ein kühler Winterwind um ihn weht, liegt eine fast mystische Stimmung über dem archäologischen Komplex.

Das nuraghische Dorf breitet sich zu den Füßen des Nuraghen aus. Im Vergleich zu den Bauwerken im Umfeld ist es geradezu unauffällig und scheint nebensächlich: Ich bin beim ersten Besuch tatsächlich daran vorbei gegangen … Asche auf mein Haupt!

Das ist nicht nuraghisch, sondern ein nachträglich angebauter Schafstall
Das ist nicht nuraghisch, sondern ein nachträglich angebauter Schafstall

Die Grundmauern von etwa 15 Hütten sind zu sehen. Ich erfahre, dass einige der Hütten mit den kleinen Eingängen nachträglich von Hirten errichtet worden sind, als Schafställe. Vermutlich stammen sie aus dem Mittelalter, wurden aber von wandernden Hirten bis noch ins letzte Jahrhundert genutzt. Dass die nuraghischen Dörfer, wenn sie denn halbwegs intakt waren, weiter verwendet wurden, ist keine Seltenheit.

Blick vom Nuraghen hinunter zum nuraghischen Dorf
Blick vom Dorf auf den Nuraghen Tamuli
Blick vom Dorf auf den Nuraghen Tamuli

Zeit zum Nachdenken

Ich bleibe noch ein bisschen länger hier. Insgesamt trabe ich weit über eine Stunde über das Gelände, hin und her. Der Vorteil der Nebensaison: Du kannst solche wundervollen Plätze ganz ungestört erleben. Der einzige Nachteil, falls du wie ich fast in der Nicht-Saison da bist: Wenn das Wetter umschlägt, ist es ungemütlich. Und so gesellt sich zu den Wolken heute ein kalter Wind.

Trotzdem ist es wunderschön hier, selbst bei durchwachsenem Wetter. Ich bin warm angezogen. Und ich muss noch über ein paar wichtige Dinge nachdenken.

Und so springt das schwarze Schaf zu guter Letzt verbotenerweise über die Absperrung und kuschelt sich ganz vorsichtig an die Außenmauern des Nuraghen. Für einen verstorbenen Freund, einen der wichtigsten Nuraghenhugger der Welt, nimmt es ein bisschen universeller Nuraghen-Kraft für ihn in seinem neuen Leben mit.

Ich hoffe, dass du es gut hast, alter Freund, wo immer du auch bist.

Der Nuraghe Tamuli. Ich widme meinen Besuch unserem verstorbenen Freund.
Der Nuraghe Tamuli. Ich widme meinen Besuch unserem verstorbenen Freund.

Anfahrt

Komisch eigentlich, dass Tamuli heute nicht stärker frequentiert ist, wo es hier doch soviel zu sehen gibt. Gleiches gilt für Macomer und die historische Region Marghine (mehr Tipps findest du hier).

Aber die Stätte liegt auch nicht unbedingt an den Durchfahrtsstraßen: Über die SS 131 Sassari-Cagliari schafft man es noch relativ schnell bis Macomer. Von dort nimmt man (wenn man sie findet) die SP 43 in Richtung Santu Lussurgiu. Kurz vor Leonardo di Siete Fuentes geht es rechts ab in ein Waldgebiet am Monte Sant’Antonio, Tamuli ist auf teils verwitterten Schildern angeschrieben. Etwa vier Kilometer weiter dann der Eingang zu der archäologischen Stätte Tamuli, auf der Hochebene Pranu ‚e Murtas mit Parkplatz, Tickethäuschen und einem kleinen Shop.

Weitere Informationen zu Tamuli

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert