Winterfaulheit

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Dez 4, 2014

Unfassbar, wie viele Gänge Sardinien im Winter zurückschalten kann. Erst jetzt merkt man, wie hoch (und teilweise hohl) sie in der Hauptsaison dreht.

Jetzt ist die Zeit für slow traveler, für bewusst Reisende, für alle, die mit sich selbst klar kommen. Für Fußgänger, für Landstraßengondler, für Müßiggänger.

Von der schier unendlichen Stille des Gennargentu bis zum plötzlich sichtbaren Detail am Rande der Straßen, die sich durch die Barbagia schlängeln, eröffnet die Insel Perspektiven für Naturliebhaber.

Muschelsucher werden an den weiten Stränden der Insel fündig und Strandläufer haben selbst an La Cinta und in Porto Pollo Platz. Einsame Buchten haben erst jetzt den Namen wahrhaft verdient.

Bergziegen sind auf dem Monte Limbara unter sich und der Wanderer findet sich in stiller Eintracht mit der Natur an den Dünen von Piscinas.

Wer einsam durch den Supramonte streift, findet eine grandiose Eintönigkeit im besten Wortsinn. Das Auge ist ruhig, nicht abgelenkt und jede Farbe wirkt wie ein kleines Wunder auf dem Granit. Blüten, die in der verschwenderisch bunten Ogliastra während des Sommers keines Blickes gewürdigt werden, sind nun die Hauptattraktion auf der Reise durch einsames Gebiet.

Weihnachten versucht derweil aus einer Palme eine Tanne zu machen – und scheitert an der Küste mit Bravour. Weiter im Herzen der Insel, unterhalb der höchsten Gipfel, fallen die ersten Flocken. Hirsche grasen, Wildschweine werden gejagt und die Kälte nimmt die ersten Gefangenen.

Menschen suchen Geselligkeit in den Häusern, mit ihren Familien und Freunden. Kinder lachen, Katzen liegen vor dem Kamin, es wird gebacken, gekocht, getrunken und gegessen. Unweigerlich wird es festlich. Eine Handvoll überzeugter Gastgeber sorgen für Leib und Seele des Reisenden, der häufig unerwartet, aber stets willkommen ist.

Landschaft bei Nughedu di San Nicolò
Landschaft bei Nughedu di San Nicolò

Schafe suchen vergeblich nach frischem Grün und trauern der Zeit hinterher, als man in die warmen Ebenen des Medio Campidano und bis nach Cabras wanderte, um dort die Winter zu verbringen. Einzig ihre Wolle, die die kalte Nachtfeuchte auf den Hügeln bei Gavoi und Fonni fern hält, wärmt. Sie suchen Nähe, kuscheln sich eng aneinander und wären jetzt gern bei ihren Verwandten im Logudoro, die noch auf grünen Wiesen weiden.

Hier, in den Dörfern mit den nah beieinander stehenden Häusern, behütet in engen Tälern und umfangen von einem nebligen Zauber scheint die Zeit ganz still zu stehen. Überreife Orangen fallen von den Bäumen und verbreiten am Boden liegend den süßen Geruch des Verfalls.

Laconi, Orangenbaum
Laconi, Orangenbaum

Die Dämmerung nähert sich früh und unausweichlich. Die Berge hinter Orgosolo und Talana scheinen mit jeder Minute höher zu wachsen. Vereinzelt streifen Gestalten umher. Verfallene Ställe, Reste von Nuraghen und gerippeartige Bäume.

Die Insel scheint so mancherorts wie von allen guten Geistern verlassen. Fast kriecht etwas wie Angst in dem auf, der mit dieser starken, dunklen Landschaft nicht vertraut ist. Gigantengräber werden zu höchst eindringlichen und mystischen Orten.

Allein die bedingungslose Liebe zu der Insel, auf der man geboren wurde, kann hier Sicherheit schaffen. Dem Reisenden bleibt sein Vertrauen in das Gute der Welt, das sich zeigt, wenn Vollmond und Sterne suchen, die tiefschwarze Nacht zu erhellen.

Jeder geht seinem Tagesgeschäft nach, doch oft gemächlich. Wer jetzt hektisch hantiert, fällt unangenehm auf. Wer zuviel Gas gibt, ist nicht von hier. Rastlosigkeit gehört dem Kontinent. Spätestens in der Ankunftshalle des Flughafens Olbia wird sie abgelegt.

Allein in den Städten ist so etwas wie geschäftiges Treiben zu beobachten: In Cagliari sucht man Zerstreuung in Kultur und Theater und gibt sich Weihnachtseinkäufen hin, in Alghero ein Anflug von katalanischer Ausgelassenheit, in Sassari lärmt es aus den Cafés, nach Nuoro fährt man aus den umliegenden Dörfern um die letzten Besorgungen zu erledigen. Ein paar Baustellen müssen auf den großen Ein- und Ausfallstraßen auch noch geschlossen werden.

Derweil die vorgelagerten Inseln im Südwesten und Nordosten ihr eigenes Sein pflegen. Die Maddalenini bleiben unter sich, ebenso wie die Genueser Nachfahren auf San Pietro.

Gigantengrab Li Lolghi, Arzachena
Gigantengrab Li Lolghi, Arzachena

Doch egal wie und wo: Die Inselruhe umfängt bald jeden – ob Reisenden oder Einheimischen, ob Mensch, ob Tier.

Das schwarze Schaf richtet es sich gemütlich in seiner Winterfaulheit ein, wühlt alte und neue Bücher, streift ohne Eile durch die Landschaft und teilt hier und da ein paar Eindrücke mit seiner wohlwolligen Herde.

Es wünscht schon heute allseits eine beeehsinnliche Weihnachtszeit – ob auf der Insel oder dem kontinentalen Zuhause.

Und vielleicht schenkt Ihr Euch ja zu Weihnachten in diesem Jahr mal Inselruhe und Winterfaulheit. O wäre das eine sehr schöne Beeehscherung!

4 Comments

  1. Béatrice Marti

    5. Dezember 2014 at 16:05

    Vielen herzlichen Dank für diesen poetischen berührenden Text über den Winter in Sardinien. Es entspricht genau dem, wie ich es hier erlebe und was diese Insel für mich so besonders macht.

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  2. sigrid

    8. Dezember 2014 at 08:12

    wunderbar eingefangen, liebes schaf!
    auch aus dem fernen norden von deutschland kann ich deine wattige wollige wintergeschichte nach- und mit erleben. beim lesen gehe ich an deiner seite über die stille insel, sehe die schafe, die sich nach alten zeiten sehnen…
    ruhe.. welch wunderbare kraft! danke

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  3. Elke

    14. Dezember 2014 at 12:18

    Liebe Pecora Nera,
    das ist wunderschön geschrieben und 100% stimmig- genauso ist es. Eine gute Winterzeit wünscht Elke

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