Die einen sagen, der Karneval von Lula sei extrem und beeindruckend, andere sind schlicht irritiert oder ihnen wird gar übel. Die nächsten wenden sich erschrocken ab, wenn sie genauer hinsehen und plötzlich wissen, was sie sehen. Von Staunen zum Schock ist es in Lula nur ein schmaler Grat.

Wer aber möglichst reale, theatrale Darstellungen liebt und auch Schönheit im Schaurigen und Merkwürdigen erkennen kann, für den ist der Karneval von Lula genau das richtige.

» Hier geht’s zu einem kleinen Video auf Instagram: https://www.instagram.com/p/B8win5eojzz/?igshid=7o3btuek4cpm

Also, gehen wir direkt in die Vollen: Mägen und Blut spielen eine zentrale Rolle. Echte Tiermägen. Echtes Tierblut.

Live und in Farbe in Lula: die Tragödie des Su Battileddu
Live und in Farbe in Lula: die Tragödie des Su Battileddu

Dazu die Auflösung, dann gruselt es gleich etwas weniger: Mit Blut und einem damit verbundenen Ritual wurde in antiken Zeiten der Boden fruchtbar gemacht. Dünger sozusagen. Der Magen diente den Bauern als Transportbehälter – übrigens auch für Wasser, Milch und Wein. Und dabei hat man wiederum festgestellt, dass Milch im Magen gerinnt (wegen des Lab-Enzyms wie man heute weiß) – so war der erste Schritt zum Käse gemacht. Nicht alles war also merkwürdig.

Die Symbolik leuchtet jedenfalls erstmal ein. Warum man diesen archaischen Brauch allerdings heute noch wie im Original pflegt, erschließt sich vermutlich nicht jedem.

Die gute Nachricht: Du kannst weggucken. Die schlechte: Dann erlebst du nicht, was da vor sich geht.

Ein wolliges Dilemma – und sicher nichts für zart besaitete Lämmer! Und so geht das schwarze Schaf in der dicksten Wolle, die es finden kann, nach Lula – ein Dorf in den Bergen des Nuorese.

Alte, archaische Riten beim Karneval von Lula
Alte, archaische, blutige Riten beim Karneval von Lula

Die Geschichte, die wir hier erzählen, ist alt. Sehr alt. Die Zeremonien des Karnevals in Lula haben ihre Ursprünge in vorchristlichen Riten zu Ehren des Dionysos, dem griechischen »Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase« (Quelle: Dionysos » Wikipedia, mehr weiter unten in diesem Artikel).

Su Battileddu – das Opfer

Die Hauptfigur ist Su Battileddudas Opfer (ital. la vittima).

Su Battileddu: wirklich keine Schönheit
Su Battileddu: wirklich keine Schönheit

Su Battileddu ist in ein dunkles Fell von Schafen oder Widdern gekleidet. Sein Gesicht ist ganz mit Ruß verdunkelt, der Kopf umhüllt von einem Tuch, das die Frauen zur Landarbeit trugen.

In der Vestizione, dem öffentlichen Ankleiden, das dem Spektakel voraus geht, setzt man ihm Hörner auf. Meist die eines Ziegenbocks / Caprone. Zwischen diesen Hörnern wird ein Teil eines Ziegenmagens (sardisch: sa ‚entre ortata) arrangiert.

Allein das klingt schaurig und dazu angetan, das Böse zu vertreiben. Und das soll es ja auch tun. Doch es ist noch nicht alles.

Auf der Brust trägt Su Battileddu einige Glocken, sos marrazzos, die auch die Arbeitstiere auf dem Land tragen. Diese Glocken verstecken halb su chentu puzone, einen Stiermagen. Dieser ist gefüllt mit Blut und Wasser, das nach und nach austritt. Wie erwähnt, für die Düngung des Feldes, das damit fruchtbar gemacht wird.

Su Battileddu sieht merkwürdig aus und trägt blutige Mägen. Ok. So weit so gut. Doch es geht noch weiter.

Archaische Szenen in Lula

Mehrere Szenen spielen sich in Lula ab:

Su Battileddu streift durch das Dorf. Im Gefolge sind die Battileddos Massajos, die Aufseher der Tiere, in einfacher, bäuerlicher Kleidung.

Der Custode von Su Battileddu geht nicht zimperlich mit ihm um
Der Custode von Su Battileddu geht nicht zimperlich mit ihm um

Zwei oder drei sind die Aufseher des Opfers / custodi della vittima. Auch ihre Gesichter sind mit Ruß aus dem Holz der Korkeiche / sughero tief schwarz, sie tragen Stöcke und socas / Lederbänder. Damit binden und peitschen sie das Opfer.

Besonders einer, als Inbegriff des Bösen, jagt den armen Su Battileddu vor sich her, schlägt und misshandelt ihn.

Die Menge an Zuschauern verdeckt manchmal die Sicht auf die weiteren Szenen, wenn du allem folgen willst, musst du schnell sein.

Die Battileddos Gattias sind Männer, die als Witwen verkleidet sind und Männerstiefel tragen. Sie intonieren sos attitos, Beerdigungsgesänge, zu Ehren des Karnevalsopfers.

Die Witwen beklagen Su Battileddu
Die Witwen beklagen Su Battileddu

Zusammen mit den Glocken, die von Su Battileddu tönen, bildet der Gesang einen schaurigen Klangteppich in den Straßen des Dorfes.

Die Battileddos Gattias setzen sich hier und da in einem Kreis auf den Boden und nötigen jemanden aus dem Publikum, mitzumachen. Manche versuchen,  umstehende Mädchen und Frauen zu fangen, zu Boden zu werfen und zu küssen. Einige Battileddos wiegen eine Puppe aus Lappen in ihren Armen, und halten sie den Frauen in der Menge hin, damit sie sie füttern.

Die Stiefel der Witwen
Die Stiefel der Witwen bei »Zwicken ohne Lachen«

Dann spielen sie »Zwicken ohne Lachen« (sard.: pitzilica e non rie / ital.: pizzica ma non ridere). Einer beginnt und piekt den Nächsten in die Seite, der wiederum seinem Nächsten, rundherum. Wer zuerst lacht, zahlt das Pfand. Gewöhnlich in Wein.

Apropos Wein: Zwei der Battileddos Massajos ziehen einen Wagen, auf dem ein dritter sitzt und Wein an die Umstehenden ausgibt.

Tod und Wiedergeburt

Im Laufe des Umzugs / sfilata verliert Su Battileddu seine Kräfte. Anfangs noch kraftvoll und wehrhaft, braucht er zwischendurch Pausen in Hausecken.

Wiederbeleben mit Wein
Mit Wein wird Su Battileddu bei Kräften gehalten

Irgendwann versinkt er in einer Art Delirium, bis er fast stirbt. Das geschieht auf dem zentralen Festplatz des Dorfes, unterhalb der Kirche.

Die Umstehenden bilden einen Kreis. Die Battileddos versuchen, in su chentu puzone, den Magen, den Su Battileddu mit sich trägt, zu stechen, damit das Blut austritt.

Wenn das Opfer schliesslich auf den Boden fällt und sich nicht mehr bewegt, ruft jemand laut »L’an mortu, Deus meu, l’an irgangatu!« / »Sie haben ihn umgebracht, mein Gott, sie haben ihn abgemetzelt!«.

Su Battileddu im Sterben
Su Battileddu im Sterben

Die Witwen indes inszenieren sein Begräbnis mit skurrilen Gesten und Gesängen, sos attittos, traditionelle Klagelieder bei Beerdigungen.

Su Battileddu wird auf den Karren gelegt und damit die Wiedergeburt symbolisiert. Mit einem Becher Wein kann Su Battileddu letztlich wieder belebt werden.

Karneval von Lula: Gestern und Heute

In Lula, in diesem kleinen Ort in der Barbagia, findet sich mit Su Battileddu eine der archaischsten und rohsten Traditionen inselweit.

Der Deutungen gibt es viele. Die einfachste meint, es sei der Winter, der geopfert und zu Grabe getragen wird. Andere sagen, es sei ein tatsächliches Opfer, man hält ihn für einen Wahnsinnigen, der (zu Unrecht) verfolgt wird. Wurden früher vermeintlich Wahnsinnige aufs Feld getrieben und selbiges mit ihrem Blut gedüngt? Denkbar ist hier im urigen Inneren Sardiniens auch das.

Ist Su SuBattileddu ein Wahnsinniger?
Ist Su Battileddu ein Wahnsinniger?

Der Name könnte von battile stammen. Im sardischen Sprachgebrauch bedeutet das Wort »nutzlose Sache«, »Lumpen« und bezeichnet in Bezug auf eine Person einen »Nichtsnutz«. Der griechische Begriff bathileios hingegen bedeutet »reich an Ertrag« – und kann sich tatsächlich auf die Ernte und das Düngen beziehen.

Was den alten Dionysos betrifft, passt das Ritual ganz gut: »Aus den kultischen Gesangs-, Tanz- und Opferriten entwickelten sich die griechische Tragödie und Komödie in religiösem Kontext.« (Quelle: Dionysien » Wikipedia). Obwohl die Griechen nie als Besatzer auf Sardinien waren, fand ihr Einfluss trotzdem den Weg hierher, über andere Völker, die diese Riten pflegten und mitbrachten. Sowas passiert ja in der Welt öfter mal, und es ist nicht immer schlecht, was da kommt. Wobei man bei Su Battileddu durchaus geteilter Meinung sein könnte.

Su Battileddu vor Lenin, im Wandel der Zeiten
Su Battileddu vor einem Murales von Lenin – im Wandel der Zeiten

Die Tradition verschwand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und verlor sich dann völlig während des Krieges. Erst zur Jahrtausendwende interessierte sich die Forschung für die antiken Masken und Kulturen Sardiniens. Und auch die Sarden lernten, sie wertzuschätzen, auch als Anziehungspunkt für den Tourismus auf der Insel. Wieder auferstanden ist der Karneval von Lula 2001 und wird seitdem jährlich gezeigt.

Zum Glück ist das heute nur noch eine Geschichte, erzählt im Rahmen des sardischen Karnevals. Wobei … Sie zeigt auch, wie schlimm tatsächliche Opfer und vermeintlich Verrückte in ganz früheren Zeiten behandelt wurden. Und auch heute leidet der, der vermeintlich nicht in die Gesellschaft passt. Und manchmal geht das blutig aus. Insofern doch aktuell.

Dazu gesellt sich ein weiteres Phänomen, das sich auch in anderen Karnevalsritualen findet: eine Art Verwandlung. Fragt man nämlich Leute, die bei dem Sepktakel aktiv teil haben oder hatten, wird oft von einer „Verwandlung“ gesprochen. Man lebt ein anderes Leben.

In Lula ist es insofern etwas speziell als dass es – schaut man genau hin – auch transsexuelle Züge hat. Einige der Protagonisten tragen nämlich eine Peitsche, die aus einem getrockneten Rindergenital gefertigt ist – ganz klar ein Element antiker Fruchtbarkeitsriten. Dies zusammen mit der Tatsache, dass die Männer durch die Verkleidung vom Mann zur Frau werden und ihre Geschlechtlichkeit und die Grenze zwischen männlich und weiblich sich für die Dauer des Rituals auflöst, ist durchaus ein Weg, auch im Heute mit verschiedenen Identitäten umzugehen.

Wir als Besucher können in Lula vor allem eins lernen: Empathie. Verständnis. Für andere. Für Anderssein. Dafür, dass nicht alles unter der Sonne Sardiniens und der Welt so ist, wie wir uns das mit unserem begrenzten Schubladendenken vorstellen.

Auf jeden Fall musst du echte Verständnishürden überwinden. Denn in Lula scherzt man nicht. Da ist das Blut kein Foto, sondern echt und rot …

No Happyend beim Karneval von Lula: Su Battileddu wird abgemetzelt
Schauriger Karneval von Lula: Su Battileddu wird abgemetzelt

Der Termin für den Karneval in Lula ist stets der Samstag direkt vor dem Karnevalssonntag. Aktueller Termin: 2. März 2019 – Programm auf sardegnainblog.it

Fotos: Daniele Sanna

Redaktioneller Hinweis: Artikel zuerst veröffentlicht im Februar 2013 auf diesem Blog. Ein knappes Jahrzehnt später reiste das schwarze Schaf erneut nach Lula, und wagte sich etwas näher heran.

Mittendrin statt nur dabei!
Das schwarze Schaf wird in Lula Teil des Rituals.

1 Comment

  1. Katie

    5. März 2019 at 16:37

    Wow, wie genial du das beschrieben hast. Hab davon noch nie was gehört, also von der ganzen Tradition, aber der Beitrag hat mich sofort gefesselt! 🙂

    Reply

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert