Die sardische Gastfreundschaft, die Achtung und die Fürsorge für das Wohl von Fremden ist inselweit sprichwörtlich.

Gleichzeitig gibt es – speziell in neuerer Zeit, bedingt durch die landesweite Krise und Arbeitsmangel – auch auf der Insel Strömungen, die sich gegen Überfremdung aussprechen und fremdenfeindliche Tendenzen erkennen lassen.
In dem kleinen Dorf Perdasdefogu (früher: Foghesu) in der Quirra sind solche Stimmungen eher selten. Denn das Dorf feiert bereits seit drei Jahrhunderten am 11. September „Sa strangìa – festa dell’accoglienza allo straniero“ – ein Fest zur Begrüssung von Fremden.
Das Fest geht bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück und in einer Zeit, als die Abneigung gegenüber den piemontesischen Besatzern extrem hoch war.

Fremdsein ist nicht immer nur eine Frage von schwarz oder weiss!

Fremdsein ist nicht immer nur eine Frage von schwarz oder weiss!

Der 1741 geweihte Priester Don Giovanni Corona aus Perdasdefogu predigte regelmässig von seiner Kanzel Regeln für einen guten, freundlichen Empfang und für die soziale Integration.

Das war ziemlich viel verlangt, denn auch die Skepsis gegenüber Fremden ist den Sarden historisch bedingt anerzogen: Bereits seit 1300 existiert das Sprichwort „furat chie benit dae su mare“, der ist ein Dieb / ein Eindringling der vom Meer kommt.

Eine große Liebe Fremden gegenüber gab es nicht.

Auch – oder vielleicht erst recht – nicht in Foghesu, diesem kleinen abgelegenen Dorf in der Quirra.

Die Feindseligkeit gegenüber jedermann, der über das Meer kam – waren es nun zuvor Spanier oder eben später die Piemontesen – lebte auch hier.

Denn die savoyischen Herrscher der Insel beuteten das Land aus und holzten weite Teile uralter Olivenhaine und Eichenwälder zwischen Ulassai und Tertenia ab (mehr über Sardiniens Wälder lest ihr hier).

In einem alten Lied von Francesco Ignazio Mannu heisst es: „Fit pro so Piemontesos sa Sardigna una cuccagna“ – die Piemontesen wissen, dass Sardinien eine Goldgrube ist“. Holz und Holzkohle waren wahres Gold für die Flotte der Savoyer, und man bediente sich.

Natürlich war man in der Region darüber keineswegs glücklich – im Lied heisst es ein Stück weiter: „Malaitu cuddu logu, die diese zenia criat“ – „Verflucht sei das Land, dem ein solcher Stamm geboren wurde“.

Eines Tages, am 11. September 1730, machte sich ein weiterer Zug vollgeladener Ochsen- und Pferdekarren auf den Weg hinab an das Meer, wo die Schiffe nach Imperia beladen wurden.

Ein Industrieller aus dem Piemont mit Namen Candia, der diesen und vorangegangene Fuhren beauftragt hatte, ging allein nach Foghesu hinauf. Er sah ein Dorf, das wirklich nicht reich war und wegen der Ausbeutung weiter verarmte.

Quelle: www.prolocofoghesu.org

Der Umzug zu Ehren des Erlösers Quelle: www.prolocofoghesu.org

Im Dorf allerdings waren Männer damit beschäftigt, die – gar nicht so ärmlichen – Braten für das Fest des Erlösers (ein Fest, das seit 1600 am Folgetag, dem 12. September stattfindet) zu bereiten.

Kinder schnitten am Fluss Schilf, flochten daraus kreuzförmige Träger, die mit bunten Tüchern behangen wurden. Die Frauen säuberten die Straßen und brachten Blumen in die Pfarrkirche.

Don Corona, der Priester, näherte sich dem Piemontesen freundlich und erklärte ihm, warum alle so beschäftigt waren und lud ihn zum Abendessen in das Pfarrhaus ein.

Am nächsten Tag während der Messe sprach er zu den Kirchgängern, die natürlich entrüstet waren, dass er einen Abend mit dem verhassten Fremden verbracht hatte, und nutzte dabei einen alten Reim des Dorfes:

„Prus unu esti strangiu, prusu der depeus sie cumpangiu“ – Je fremder uns jemand ist, desto mehr müssen wir ihm Gesellschaft leisten.

„Seus totus fradis, filgius de una matessi babbu. E chi capitaus nosu in logu algènu?“ – Wir sind alle Brüder, Söhne desselben grossen Vaters. Und was, wenn wir uns selbst in einem fremden Land befänden?

Sodann rief der Priester den neuen Tag des Fremden weltlichen Feiertag „Sa dì’e sa strangìa“ aus.

Es sei ein Zeichen der sardischen Hochkultur, die „Furat“, die Eindringlinge, die über das Meer kommen, von Feindseligkeit zu erlösen und ergänzte: „An Land sind wir alle gleich.“

In der Kirche hatten alle verstanden, was er sagen wollte – und seither wird das Fest zusammen mit dem Fest zu Ehren des Heiligen gefeiert. Die Gastfreundschaft umfasst seit Jahrhunderten nun ausnahmslos jeden, der in das Dorf kommt und hier offensichtlich nicht heimisch ist.

Nachdem die Savoyer „durch“ waren, beruhigte sich die Lage durch Besatzer ja etwas, und im letzten Jahrhundert waren die „Fremden“ insbesondere Hirten und Familien aus anderen Dörfern Sardiniens, die während der Transumanza mit ihren Herden vom Gennargentu bis in die Ebene durch das Dorf zogen und für einige Zeit ein Zuhause brauchten.

Fremdsein kann auch heissen, einfach weit weg von Zuhause und auf die Hilfe von anderen angewiesen zu sein. Da reicht, wenn man aus Atzara kommt und nach Muravera über die Berge wandert.

Im 20. Jahrhundert zog der Tourismus auf der Insel ein, und man freundete sich mit diesen „Fremden“ an, hiess sie gern willkommen.

Routen der Migranten im Mittelmeer - und Todesfälle

Routen der Migranten im Mittelmeer – und Todesfälle Quelle: it.wikipedia.org

In diesem Jahrtausend bekommt „Sa strangìa“ allerdings eine neue, grössere Bedeutung.

Fremde kommen jetzt aus aller Herren Länder, die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer reissen nicht ab.

Nach Sardinien kommen sie hauptsächlich aus afrikanischen Ländern via Algerien über das Meer. Nicht alle wollen bleiben. Unsere Lieblingsinsel ist für sie nur der erste Schritt.

Aber vielen bleibt keine andere Wahl. Sie werden in Sammelunterkünfte gesteckt, und dann nimmt die italienische Bürokratie ihren Lauf. Je weniger sie in die bestehenden Dorfgemeinschaften integriert werden, desto mehr entwickeln sich dabei auch ungute Strömungen.

Was wir alle dabei nicht vergessen sollten: Das sind in den seltensten Fällen Schmarotzer oder Leute, die Luxus  wollen. Sie kommen auch nicht aus Spaß hierher.

Fast jeder, der den lebensgefährlichen Weg auf sich nimmt, hat einen Schicksals- oder Lebensweg oder gar ein grosses Leiden hinter sich, das vermutlich weit hinter dem liegt, was wir – inklusive aller arbeitslosen Sarden oder Italiener oder Deutsche oder sonst einem auf höherem Niveau lamentierenden Festlandeuropäer – zuletzt als schlimm empfanden.

Perdasdefogu hat es zu all dem noch mit anderen „Besatzern“ zu tun. Denn da sind die Militärtruppen, die seit Jahren in der Quirra fragwürdige Schiessübungen mit uranhaltiger Munition machen und erneut ohne Rücksicht auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Land und Leuten agieren.

Die Toleranz wird da durchaus hart auf die Probe gestellt.

Aber wenn ein bunter, freudiger Umzug durch die Strassen eines kleines sardischen Dorfes führt, und in der Dorfkirche San Sebastiano Themen wie Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass zwischen Einheimischen und Fremden aus Nordafrika, dem Senegal, den Filippinen, der Ukraine und Brasilien offen diskutiert werden, sieht es beim gemeinsamen „Abendessen der fünf Kontinente“ tatsächlich so aus, als hätten hier doch viele Menschen etwas sehr wichtiges verstanden.

Am Ende eines dieser Feste zitiert jemand aus einem Dokument des Europäischen Parlaments über die Rechte von Migranten – Worte die denen des Priesters aus Foghesu nicht unähnlich sind:

„Der Fremde ist unser Bruder. Wir Menschen auf der Erde sind alle gleich.“

Die Geschichte von „Sa Strangìa“ ist mehr denn je eine Lektion in länderübergreifender Gastfreundschaft und Verantwortung – und eine Antwort auf wachsende Intoleranz, auf Abneigungen gegen Fremde und rassistische Strömungen aller Art.

An dem Septemberwochenende 2015 allerdings mischten sich in Perdasdefogu gleich vier Feste – das zu Ehren des Heiligen, ein Fest der Langlebigkeit (tatsächlich leben die Menschen hier besonders lang, und die Sardin, die mit 108 Jahren bisher am ältesten wurde, stammt ebenfalls aus dem Dorf), und das erste Bierfest des Dorfes: la festa delle birre artigianali.

„Nur“ eine Buchpräsentation und die Messe am folgenden Sonntagmorgen war dem Tag der Fremden gewidmet.

Wir hoffen, dass das kein schlechtes Zeichen ist, nachdem in vorangegangenen Jahren sehr viel mehr auf die Beine gestellt wurde.

Na los, Foghesu, mach weiter! So wie seit drei Jahrhunderten!

Die Menschen in Europa – ob sie hier nun heimisch sind oder nicht – brauchen Euer Fest mehr denn je.

 

Quellen:

http://lanuovasardegna.gelocal.it/regione/2011/09/11/news/sa-strangia-una-lezione-di-tolleranza-1.3532354

http://lanuovasardegna.gelocal.it/regione/2013/09/11/news/amicizia-e-condivisione-il-rito-antico-della-strangia-1.7726117

https://www.facebook.com/proloco.perdasdefogu.1?fref=ts

http://lanuovasardegna.gelocal.it/nuoro/cronaca/2015/09/11/news/lo-scrittore-tonino-serra-stasera-presenta-il-suo-libro-1.12077067

 

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