Oktober 2015. An der Reling der Mobyfähre steht ein Pärchen in Outdoor-Klamotte. Beide hatten die Nacht erst auf den ungemütlichen Sesseln der Schiffsbar und dann auf dem harten Boden verbracht. Und nun begrüsste sie Sardinien statt mit einem türkisfarbenen Traum mit dicken grauen Wolken.
Man hielt sich umarmt, aber sah sich vorsichtshalber nicht an. Beider Blick war leicht verzweifelt auf den eintönigen Horizont gerichtet.
Sie sprachen Bände: »Was haben wir bloß getan?« und »Hab ja gleich gesagt, lass uns in die Dom-Rep fliegen …«
Tja, schon irgendwie dumm gelaufen. Da flieht man vor dem nordeuropäischen Schietwetter ans Mittelmeer und dann … ist es auf der Insel am Ende genauso? Und was dann? Sitzt man im Ferienort und nichts geht?
Das dunkle Grau der späten Nacht entwickelte sich derweil über der Isola Tavolara zu einem hübschen Morgenblau. Toll!
Das schwarze Schaf freute sich auf die geplante Trekking-Tour am Wochenende. Endlich wieder ins Freie.
Keine Stadt, keine Büros, keine Termine, keine Erledigungen … einfach die lahmen Glieder bewegen, ungestört und völlig allein. Und: Die Insel weitgehend frei von den Touri-Horden.
Jetzt lässt sich hier das gute alte schöne Nichts geniessen, das Bel Niente.
Von dem gibt es zugegeben recht viel im Herbst auf Sardinien. Die Insel hat einen Gang zurückgeschaltet, und tatsächlich wirkt alles auf den ersten Blick wie eingeschlafen.
Als schwarzes Schaf wird man ja auch mal schwarzmalen dürfen. Also guckt es sich das Lamento der Leute, die irgendwie schaffen, auf Sardinien im Herbst zu verzweifeln, auch kurz an. Natürlich nur, um es auszukontern.
Und hier kommt, auf Platz eins der Weltklasse-Klischees für Sardinien in der Nebensaison:
Applaus, Applaus, Applaus! Und jetzt wieder hinsetzen und vermutlich zwei Dinge ehrlich zugeben:
Beides lässt sich ändern. Ersteres ganz leicht, zweiteres so mittel.
Am sichersten ist das Prinzip »Stadt statt Dorf«. Dort, wo viele Menschen sind, ist auch viel los. Jedenfalls mehr als dort, wo keine sind.
Wenn in Porto Cervo und Umgebung in der Nebensaison etwa 200 Familien wohnen, in der Provinz Cagliari rund um die Inselhauptstadt aber eine halbe Million Menschen – wo gehe ich dann am besten hin, wenn ich was erleben möchte? Richtiiiiig …!
Wir helfen noch ein bisschen weiter, mit der Liste der grössten Orte auf Sardinien: Cagliari (155.000 Ew.), Sassari, Quartu S. Elena, Olbia, Alghero, Nuoro, Oristano, Carbonia, Selargius, Iglesias, Assemini, Capoterra, Porto Torres, Sestu, Monserrato (20.000 Ew.).
Der Süden schlägt den Norden – vier Städte im nördlichen Teil, zwei etwa in der Mitte, neun im südlichen Inseldrittel, mit Schwerpunkt um die Hauptstadt Cagliari. Das sind nicht immer die schönsten Orte, aber die lebendigsten.
Wer es beschaulicher mag, probiert einfach mal Cabras statt Costa Smeralda, San Sperate statt San Teodoro, Porto Botte statt Porto Pollo, Baunei statt Budoni, Pattada statt Palau, Carloforte statt Cala Gonone.
Oder anders gesagt: Fahrt in ein echtes Dorf statt in eine Touristensiedlung, besucht ein „paese tipico“ statt eines „villaggio turistico“. Fahrt von der Küste (Ausnahmen wie Bosa oder La Maddalena bestätigen die Regel) ins Landesinnere. Oft reichen schon 10, 20 Kilometer. Such Dir ein echtes sardisches Dorf und niste dich dort ein paar Tage ein.
Natürlich steppt da nicht überall der berühmte Bär – wir reden in den vorgenannten Fällen immerhin von Einwohnerzahlen zwischen 3.000 und 9.000, die meisten Gemeinden auf Sardinien haben unter 10.000 Einwohner.
Aber die sind genau das Geheimnis und die Haupt-Zutat für „hat eben doch nicht alles zu“. Einheimische = Sarden = ganzjährig anwesende Menschen. Nicht nur Leute, die Ferienhäuser haben oder vermieten, keine Schönwetter-Bewohner, keine Festland-Gastgeber.
Nein, echte Einheimische! In Orten wie Barumini, Iglesias, Sestu oder San Vito leben saisonunabhängig immer die gleichen Menschen.
Leute, die lieben, leiden, arbeiten und ebenfalls Spaß haben wollen. Und die gehen da – von wirtschaftlich bedingten Ausnahmen mal abgesehen – auch nicht weg. Natürlich gibt’s ein paar Verrückte auch in Touriorten, aber die musst Du kennen oder mühsam suchen.
In echten, gewachsenen Orten ist auch der zweite Grund keiner mehr: „Wissen, wo was ist“ ist relativ schnell aufzulösen. Entweder stolperst Du nämlich selbst über ein beleuchtetes Restaurant oder eine Unterkunft. Oder Du triffst auf ansprechbare Menschen … eine ganz verrückte Sache!
Auf Sardinien spricht man miteinander. Der Zaubertrick ist also: Fragen. Das fällt manchem schwer (das schwarze Schaf stammt selbst aus Norddeutschland, da redet man nu auch nicht sooo viel), aber ist es am Ende gar nicht.
In nahezu jedem Ort gibt es mindestens die drei wichtigsten Auskunftsstellen:
Der Dorfplatz / Kirchplatz. Die alten Herren, die oft als Fotomotiv missverstanden werden, haben wertvolle Tipps – wenn man die Scheu überwindet und sie freundlich anspricht. Ist das Eis einmal gebrochen, geben sie gern Auskunft – über egal was. Sie kennen das Dorf und die Umgebung seit Jahrzehnten. Wir bekamen wir schon schöne Tipps für Wanderungen („Lei conosce un bello antico sentiero?“ – „Kennen Sie einen schönen alten Wanderweg?“) und Dinge, die nicht im Reiseführer stehen. Hilfreich ist, schon etwas vorbereitet zu sein und möglichst konkret zu fragen – wenn Du schon dieses oder ein anderes Dorf durchsucht hast, dann sag das besten dazu. Unerwarteterweise hat das Schaf bei seinen vielen Ausflügen ausgerechnet bei den älteren Leuten Grund zur dreifachen Vorsicht gefunden: 1. Speziell der ältere Sarde lamentiert sehr gern. Mit dem Satz konfrontiert, hier wäre ja alles zu, haut er gern in die gleiche Kerbe („Siiii, non c’è niente!!!“) und jammert dass es früher ja alles besser war und die Nonna nur die Tür aufgemacht und das ganze Dorf verpflegt hat und so weiter. Nix gewonnen, ausser bestätigt zu bekommen, dass in Germania, Svizzera, Austria oder wo immer man herkommt, ja alles auch so viel besser ist. Da gibt’s das nicht, dass ein Restaurant pleite macht. Doch, aber … naja, das geht gefühlt ewig weiter. Wohl dem, der da den Absprung findet. – 2. Manch einer der Herren spricht Deutsch, meist weil er in den Sechzigern mal in Deutschland gearbeitet hat. Das ist im ersten Moment praktisch, und wenn sie dabei im Thema bleiben, ist das auch sehr fein und bereichernd. Aber im zweiten Moment sind gerade die redseligen Herren manchmal merkwürdig. Da werden eher im rechten politischen Lager angesiedelte Sympathien gezeigt, und zur Not auch mal offen mit dem Führer oder dem Duce sympathisiert. Dem Schaf stellt sich da die Wolle auf, und es kontert dann mit „tempi brutti!“ – „hässliche Zeiten!“. In Extremfällen geht es nach einem zackigen „Grazie e Buongiorno!“ direkt seines Weges. Das sorgt für Befremdung, aber schadet nicht. – 3. Bleibst Du bei den Netten und Freundlichen aber länger als nötig, stellt sich Dir die fast unlösbare Aufgabe, sich wieder zu befreien und die diversen Einladungen zum Abendessen und die Gegend zu zeigen und die Famiglia kennenzulernen, abzulehnen. Das gilt übrigens insbesondere wieder für die alleinreisenden Damen. Wenn Du meinst, ganz schlau einfach die die älteren Frauen anzusprechen, die sich ebenfalls gern in Grüppchen irgendwo im Dorf treffen: Bei ihnen ist der Weg vom anfänglich skeptischen Blick bis zum „Du bist Teil der Familie und ich bemuttere Dich“ sehr, sehr, sehr kurz.
Die Sarden sind extrem hilfsbereit und in der überwältigenden Mehrheit der Fälle gastfreundlich und nett. Gerade im Hinterland und in der Inselmitte hilft man sich und heisst Gäste Willkommen. Punkt. Auch wenn sie manchmal abweisend wirken – sie sind es quasi nie.
Auffällig in allen Fällen: Hilfreich ist, wenn der Reisende ein wenig Sprache mitbringt und von sich aus den Anfang macht. Ein Sprachkurs vor dem Urlaub, oder den Urlaub als solchen umzufunktionieren, ist nicht die schlechteste Idee für das Reisen im Herbst.
Wenigstens Bitte, Danke, guten Tag, dazu ein paar nette Worte und die Fragen, die man fragen möchte – all das kann man gut mit Online-Wörterbüchern wie Leo oder einem Sprachführer in der linken Hand hinkriegen.
Und wer dann zugeben muss, doch nicht so gut Italienisch zu sprechen, befindet sich eh schon längst in einer konstruktiven Atmosphäre. Dein Gegenüber wird sich mühen, in irgendeiner Sprache oder mit Händen und Füssen zu helfen.
Schnell noch zu der zweiten der meistgesagten Nebensaison-Miesmacher-Phrasen:
Hallo??? Im Gegenteil!!! Erst in der Nebensaison wird die Insel so richtig zugänglich!
Natürlich nur der „echte“ Teil. Der „künstliche“ verkriecht sich tatsächlich. Ja, das Partyangebot ist in der Hauptsaison deutlich höher – aber die DJs legen jetzt halt in irgendwelchen Kellern in Nuoro auf oder in einem kleinen Club im Vorort von Cagliari.
Nein, die Beachbars haben jetzt nicht jede Nacht bis in die späte Nacht offen. Am Freitag oder Samstag aber manchmal doch – achtet auf Aushänge in den Bars und Supermärkten. Oder durchstöbert facebook und dieses Internet, von dem die alle reden …
Der Trenino Verde wird langsam eingemottet, dafür kann man geniale Wanderungen entlang der Bahnstrecke machen. Achtung, falls er doch noch fährt, man ist manchmal wirklich erstaunt. Huch, eben war doch alles noch so einsam …!
Die Busverbindungen sind ausgedünnt, aber man kommt immer noch zu den von „normalen“ Leuten nachgefragten Tageszeiten von A nach B. Auch ein Hasendorf in Bayern ist nicht besser angebunden. Fahr mit der Bahn durchs Land, und Du fühlst Dich wie ein Insider.
Die schicke Lounge am Strand ist zusammengeräumt, aber viele Betreiber haben ganz oft eine nette Alternative in der nächstgelegenen Stadt und einen Zettel an die verrammelte Tür gepinnt. Wer jetzt ganz pfiffig ist, bringt sich eben seine eigene Liege, die wärmende Decke, den Wein und die Musik selbst mit.
Und wenn an der Costa Smeralda die Clubs und Top-Restaurants schliessen, offenbaren sich die wirklich schönen Dinge.
Es ist, als würde das Wasser wie bei einer Ebbe verschwinden, und plötzlich sieht man die Muscheln und Einsiedlerkrebse, die man bei Flut gar nicht gesehen hat.
Ansonsten ist die Zeit für alle Aktivurlauber:
Schwimmen: Doch, doch. Für alle, die sonst in der Ostsee baden müssen, ist auf Sardinien immer noch Strandzeit. Kein Sarde geht ins Wasser – die Nordeuropäer aber schon. Denn das ist noch aufgeheizt vom Sommer, und an sonnigen Tagen (die es wirklich nicht zu knapp gibt) ist das Meer noch genauso blau und schön. Und die Strände sind viel leerer. Jetzt geht auch richtig Schwimmen, im Sinne von Bahnen ziehen – ungestört und sportlich. Anschliessend in der nicht mehr so heftigen Sonne trocknen, und schon ist alles perfekt.
Und auch nicht müde wird das schwarze Schaf, auf den „Autunno in Barbagia„, die Herbstfeste in der Inselmitte hinzuweisen. Bis Weihnachten ist jedes Wochenende was los.
Kann keiner sagen, da gäb’s nix.
Wir wünschen dem Pärchen von der Fähre (vielleicht waren sie auch einfach bloß müde) und allen anderen tapferen Reisenden, dass sie den Inselherbst aktiv, frei und mit allen Vorteilen geniessen können.
Viel Spaß in der Nebensaison!
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Klaus
13. Oktober 2015 at 16:25Schön aber auch informativ geschrieben, danke für den Beitrag – bist Du die gesamte Zeit auf der Insel ?
sigrid
14. Oktober 2015 at 22:19mein liebes scharzes schaf!
nachdem ich heute in dichten wolkengebilden über die alte ss125 nach santa maria navarrese gefahren bin und jetzt gemütlich In der ferienwohnung sitze ( und nicht auf dem balkon), weil es doch kräftezehrend war, aber soooo schön!!!, kann ich dir nur ganz und gar zustimmen und dich zu deinem neuen, schönen herbstartikel beglückwünschen. sie ist wundervoll im herbst, unsere lieblingsinsel und bietet viel… man muss nur genauer hinschauen und sich vielleicht auch mal für die grauvariationen begeistern.
und morgen scheint vermutlich wieder die sonnne.
du hats mal wieder den nagel auf den kopf getroffen! gut gebääht, schwarzes schaf
könnt ich’s so gut sagen…
aber es reicht ja, wenn du es kannst, ich zitiere dich dann auf meinem blog 🙂
alles liebe, sigrid von o-solemio
Heidi
14. Oktober 2015 at 23:16Bin seit Freitag wieder zurück aus Orosei. Und abgesehen vom Sturm waren das wirklich tolle Tage bei meinen Freunden von der Insel. Endlich mal die Cala Luna Wanderung gemacht (zurück per Boot da unsere sardische Berggams Antonio ein unglaubliches Tempo hatte und so nach nur einer Stunde zurück am cala Fuili war ;-), die Dorfkneipe genossen, noch ein letztes Eis im Smeralda genossen und dem Bauch die letze Bräune des Jahres verpasst. Ich hab schon jetzt wieder Sehnsucht… Und nehme mir mal wieder vor italienisch zu lernen – wie jedes Jahr 😀
Deine Website ist herrlich!