Olbia, 13:05 Uhr: Fast wär’s perfekt gewesen. Immerhin, die erste Etappe meiner ku-/furios geplanten Reise (ich will immer noch von Palau nach Alghero-Aeroporto Fertilia, siehe Teil 1) verlief äußerst geschmeidig. Ein pünktlicher Überlandbus, eine Handvoll Mitfahrer, ein typischer Busfahrer mit schnittiger Sonnenbrille, leere Straßen und eine sichere, pünktliche Landung an der „stazione ARST“.

Als auch noch die Sonne durch die Wolken lugt, bin ich fast geneigt zu sagen: Besser geht’s nicht.

Versteckt am Ende einer Seitenstraße: die "stazione" Olbia
Versteckt am Ende einer Seitenstraße: die „stazione“ Olbia

Fast. Denn der Fahrer wirft uns in Olbia an einer Haltestelle in einer stark befahrenen Straße raus. Zack – da bin ich nun. Und habe keine Ahnung, wie man von hier aus zum Bahnhof kommt. Ich hätt ja den Fahrer fragen können, aber die Bustür ist schon wieder zu, der Bus um die nächste Straßenecke gebogen.

Auch sonst ist niemand da, den ich fragen könnte – die Sarden fahren ja alle Auto, außerdem ist Mittagszeit und niemand zu Fuß unterwegs. Hm… Der soll gleich hier irgendwo sein, der Bahnhof…  Ich suche nach Straßen- oder Hinweisschildern. Nichts.

Da hilft nur der uralte Orientierungstrick: ab in die nächste Bar (die wissen alles), Wein bestellen (das entspannt) und nach dem Weg fragen. Ich hab ja noch eine  Stunde Zeit, bis der Zug um 14:09 Uhr abfährt. Der Kellner erklärt den Weg: Der Bahnhof sei gleich da vorn die Straße runter rechts. Er ist tatsächlich einfach zu finden – wenn man denn weiß, wo man suchen muss. Da will ja auch keiner hin. Doch, ich will.

In Eile zum Gleis.
In Eile zum Gleis.

Das Bahnhofsgebäude ist echt gut versteckt, dazu schmucklos und übersichtlich: ein Warteraum mit drei Leuten, links eine elektronische Tafel mit den Ankünften („Arrivi“) und rechts den Abfahrten („Partenze“). Ich sehe erstmal keinen Zug nach Sasssari (mein nächstes Etappenziel vor Alghero), aber der nach Porto Torres fährt um 14:09 Uhr ab und steht auch schon da. die Bahnhofsuhr zeigt kurz nach halb zehn an. Stehengeblieben.

Als ich einsteige, frage ich drinnen kurz den Schaffner: „per Sassari“? und der Herr antwortet mit ernster Miene: „Porto Torres“. Als ich mich leicht panisch umgucke und die Stufen fast schon wieder rückwärts runter bin, sagt er: „via Sassari“ und grinst. Des Bahnbeamten größte Freude ist das Necken von Fahrgästen. Hmpf.

Mein hochmodernes online erjagtes Ticket mit Barcode faltet er in Sekundenschnelle auseinander und wieder zusammen, ohne auch nur irgendwas einzuscannen. Steht Sassari drauf = gut ist.

Wie Regionalbahnen halt so sind

Mein erster Eindruck vom Zug ist irgendwie durchwachsen: 1. Ich habe es schlimmer erwartet, 2. Aber es ist schlimm.

Ob die noch was kann?
Ob die noch was kann?

Meine Vorurteile gegenüber Zügen im Süden waren: voll, dreckig, stinkend, im schlimmsten Fall Ungeziefer. Die Wahrheit: normal voll, relativ sauber (sogar die Toiletten), mittlere Geruchsbelästigung nur durch müffelnde Vorhänge an den Fenstern. Ich setze mich an den Gang.

Das graue Retro-„Design“ tut im ersten Moment massiv in den Augen weh. Nachdem der Schmerz nachlässt, fühle ich mich in der Zeit zurückversetzt und hoffe nur, dass die schön aussehende, mechanische Notbremse im Ernstfall irgendeinen Effekt hat. Mit riesigem Gebrüll fährt der Zug an. Alles in allem ein Fortbewegungsmittel. Qualitativ sehr nah an dem Flensburg-Express, mit dem ich früher immer durch Schleswig-Holstein gegondelt bin.

Ich komme mir vor wie im letzten Jahrhundert – mit ein paar kleinen Maßnahmen (Holzwänden, Sitze ohne Polster und mehr Schafgeruch) könnt man da noch näher rankommen. Ein Anflug von Nostalgie … und Handyklingeln.

Retro-Schick. Am Ende find' ich's gar nicht so schlimm.
Retro-Schick. Am Ende find‘ ich’s gar nicht so schlimm.

Die junge Sardin mir gegenüber mit hellblauem Carpisa-Koffer und passendem Beauty Case telefoniert mit ihren Eltern und macht ein schrecklich angefressenes Gesicht, obwohl sie eigentlich richtig hübsch ist. Ich höre raus, dass sie zu irgendeinem Familienfest muss. Als wir später ins Gespräch kommen, erzählt sie, dass sie in Mailand wohnt und da das richtige Leben sei. Sie hasse es, nach Sardinien zurückzukehren und in diesem Zug in dieses zurückgebliebene Dorf ihrer Eltern zu fahren.

Keine Nostalgie, frage ich? Nein, es sei  furchtbar, das sei ein kleines, altes Dorf voller Nichtsnutze und Leuten, die im Gestern leben. Sie freue sich heute schon wieder auf Mailand, nie wieder würde sie in Sardinien wohnen wollen. Komisch ist: Ich glaube es ihr sofort, auch wenn ich’s nicht verstehe. Mein neugierig-verklärtes Sardinienbild bekommt eine mächtige Beule.

Von Ost nach West: Schweine und Weine

Wir halten. Irgendwo im Nirgendwo. Weder links noch rechts der Strecke sieht man einen Bahnsteig im klassischen Sinn. Dennoch steigt jemand ein. „Enas“, höre ich hinter mir jemanden sagen. Hier scheint es nur „un bel niente“ zu geben, ein schönes Nichts.

Nicht "als wär": Die Zeit ist stehengeblieben.
Nicht „als wär“: Die Zeit ist stehengeblieben.

Das soll gar nicht despektierlich sein, denn so ein Nichts hat was für sich. Das Highlight ist eine Herde sich jagender Schweine und ein Mutterschwein, hinter dem sieben Ferkel her rennen. Die Welt ist hier ein bisschen mehr in Ordnung als an der ICE-Schnelltrasse Frankfurt-Köln.

Die alte Bahnhofsuhr in Monti zeigt 10:20 Uhr an. Die in Olbia 10:05. Vieles spricht dafür, dass die Zeit tatsächlich stehen geblieben ist…

Rund um Monti ist es wunderschön: Weinberge, sanft ansteigende Hügel, schöne Herbstfarben, rote Tannenwälder… Moment mal, rote Tannen? Nadelbäume wechseln doch gar nicht die Farbe? Und dann weiß ich es wieder: Von wegen Herbstfarben, das sind verbrannte Bäume. Hier muss es in diesem Jahr am Hang ein kräftiges Feuer gegeben haben.

Blick aufs Städtchen Oschiri
Blick aufs Städtchen Oschiri

Der Zug legt sich in die Kurven rund um die Hänge, vorbei an Weinhängen, kargen Feldern, Stein- und Korkeichen, einsamen Höfen; ein kleiner Fluss läuft idyllisch parallel zur Strecke. Ich ahne, warum die Bahn hier pünktlich an jedem Bahnhof hält: Es gibt nichts, was ihn aufhalten könnte.

„Siamo in arrivo a Berchidda“, tönt es aus dem Lautsprecher. Hier steigt etwa die die Hälfte der Fahrgäste aus. Das Dorf markiert einen Außenposten des Weinanbaugebietes, ab hier werden die Wiesen weiter und trockener, die Landschaft breitet sich flacher aus.

Man reist nicht, man fährt nur mit

An der Strecke: un bel niente.
An der Strecke: un bel niente.

Vom Bahnhof Oschiri, der außerhalb liegt, blickt man auf das Städtchen, das in einer sonnigen Senke liegt. Niemand steigt ein, niemand steigt aus. Hier gibt es scheinbar alles, was man braucht, so dass man nicht weg muss. Oder es gibt sonst nichts, so dass man nicht hin muss.

Überhaupt bestätigt sich an diesem Tag: Der Sarde an sich fährt nicht weg, nirgendwo hin. Wenn doch, dann ins nächste Dorf oder zu Familienbesuchen. Auf jeden Fall nur, wenn man muss – niemals freiwillig. Und er reist nicht, er fährt nur mit. Das mag ein Grund sein, warum die Bahn so zweckmäßig ist. Sie ist ein Fortbewegungsmittel.

„Ich bin heute ohne Auto, ich muss den Zug fahren“, erklärt eine Dame auf dem Sitz schräg gegenüber am Telefon, „Ich komme später, ich muss in Ozieri auf einen Bus warten.“ Ah, ein völlig normaler Vorgang also. „Nächste Woche fahre ich bestimmt wieder Auto, das ist besser.“

Der Zug rauscht durch die Landschaft
Der Zug rauscht durch die Landschaft

Sie sagt das – ähnlich wie die junge Frau auf dem Weg zum Pflichtfamilienbesuch – in einem fast gleichgültigen oder vielmehr schicksalergebenen Tonfall. Mir fällt auf, dass sich auch niemand bei niemandem oder über irgendetwas beschwert.

Auch, als der Himmel draußen endlich ganz blau ist und die Sonne die Temperatur im Zug immer weiter steigen lässt, öffnet niemand ein Fenster (geht wahrscheinlich eh nicht). Die Karre wird zum Backofen, niemand lamentiert. Keiner scheint eine funktionierende Klimaanlage zu erwarten. Keiner, der nach dem Schaffner ruft und ihn und „die Bahn“ für irgendetwas schuldig spricht.

Das wirkt wie eine Kapitulation vor dem Zug. Man ergibt sich. Man erträgt es. Wie ein Schaf die Schur. Duldungsstarre.

Verkehrsknotenpunkt im Niemandsland

Im Dämmerzustand passieren wir unzählige Bahnhöfe, halten aber nicht. Welcher Zug denn dann? frage ich mich noch, das hier ist ja immerhin kein ICE und soviele Züge kann’s ja nicht geben. Da teilt sich die bislang eingleisige  Strecke plötzlich in mindestens zehn nebeneinanderliegende Schienenstränge. „Siamo in arrivo a Ozieri – Chilivani“ lautet die Durchsage.

Zeit für einen Plausch in Ozieri-Chilivani
Zeit für einen Plausch in Ozieri-Chilivani

Ich bin ehrlich erstaunt. Das, was ich bei meiner Recherche für einen umständlichen Umsteigepunkt und ein Kaff mit Nichts gehalten habe, entpuppt sich nun als der Verkehrsknotenpunkt überhaupt. Von hier aus geht es nach Cagliari, Oristano, Macomer, Sassari, Porto Torres; alle wichtigen Städte sind angebunden, auch Überlandbusse fahren hier ab.

Die Züge sind so getaktet, dass sie sich hier treffen. Fast. Denn wir stehen. Und stehen. Und warten. Zugdieselaroma strömt durch die offenen Türen und macht mich schläfrig. Die Bahnleute halten ein Schwätzchen und es geht erst weiter, als alle da und die Gespräche fertig sind.

Im Übrigen fahre ich auf der ältesten Bahnstrecke Sardiniens: 1872 wurde der Abschnitt Sassari-Porto Torres fertiggestellt, am 6. Dezember 1874 wurde die Strecke von/bis Ozieri feierlich eingeweiht (während die Arbeiten an der Strecke Olbia-Cagliari aus finanziellen Gründen immer wieder unterbrochen werden mussten).

Jeden Tag fahren 176 Züge auf der Insel und transportieren 12.900 Menschen über ein 432 km langes Streckennetz. Das ist nicht wirklich viel, aber passt zu dem Eindruck, den ich heute gewonnen habe: Es ist nicht das bevorzugte Verkehrsmittel der Sarden.

Blick ins Tal, ganz hinten unten die Trinità di Saccargia
Blick ins Tal, ganz hinten unten die Trinità di Saccargia

Meins schon. Das hat was von Zwangsentspannung. Ich gucke durch halbgeschlossene Augen und das verdreckte Zugfenster. Alles liegt so friedlich da.

Der kleine Zug schraubt sich vor Sassari hinauf auf einen Berg. Mir war bei Autofahrten nie bewusst geworden, dass die Stadt erhaben liegt, tatsächlich sind es auch nur ca. 180 Meter über dem Meer. Aber es reicht, dass der Zug kämpft.

Man blickt hinunter in das grüne Tal, in dem die berühmte Abteikirche Santissima Trinità di Saccargia steht, daran schließt sich das Gewerbegebiet an der SS 131 bei Codrongianus an. Immer wieder trötet er sein Warnsignal, sogar einen Tunnel haben sie für den „treno“ durch den Berg gehauen.

Etappenziel: Sassari!

Ich bin da. Noch etwas benommen stehe ich auf dem Bahnsteig, der sich in nullkommanix leert, und sehe mich um. Pulsierende Stadt sieht anders aus. Wo muss ich lang? Wo ist mein Bus nach Alghero?

Schöner Bahnhof: Sassari
Schöner Bahnhof: Sassari

Meiner Orientierungslosigkeit wird hier nicht geholfen. Ich finde gerade mal den Ausgang aus dem Bahnhof, aber wieder keine Hinweisschilder. Gehe wieder rein, auf der Suche nach Plänen, Informationen, irgendwas.

Ich muss sehr hilflos aussehen, wie ich da rumtapse, denn mich spricht ein Polizist an: Ob ich etwas suche. Ja, sage ich, ich brauche einen Bus nach Alghero oder zum Flughafen. Der Busbahnhof sei gleich da vorne, sagt er, und schickt mich die Straße hinunter, über die Kreuzung, 500 Meter geradeaus.

Hier werden Sie geholfen.
Hier werden Sie geholfen.

Vertrauen ist alles auf Sardinien. Ich folge seiner Beschreibung unbeirrt. Auch, wenn der Bürgersteig zwischenzeitlich nicht einmal begehbar ist, und am Ende nur zwei Busse und drei verfallene Wartehäuschen darauf hindeuten, dass es sich hier um einen echten Busbahnhof handeln könnte.

Die Bigletteria: ein beklebter Container, darin sitzt eine Dame, die mir sagt, der Bus nach Alghero-Fertilia sei gerade abgefahren. Dann erstmal nichts.

Bevor ich spontan zusammenbreche (sollte alles umsonst gewesen sein?), frage ich sicherheitshalber nach: Gibt es heute noch einen anderen? Ja, sagt sie. Um 18:15 Uhr. In gut zwei Stunden. Du blöde Kuh! denke ich. Erstmal hängen lassen…

Tatsächlich, ein Bus nach Fertilia!
Tatsächlich, ein Bus nach Fertilia!

Aber egal, es ist alles gut. Ich kaufe ein Ticket für 4 Euro, mache einen Zweistundenstreifzug durch Sassari und tatsächlich kommt pünktlich um 18:15 Uhr ein komfortabler Bus, der mich in einer halben Stunde Fahrzeit und auf direktem Wege zum Flughafen bringt.

Es ist Abend und die Sonne geht unter, als ich in Alghero-Fertilia ankomme. Experiment geglückt, und das Schaf um die Erkenntnis reicher: mit Geduld und Vertrauen geht alles.

2 Comments

  1. Gentleman

    15. Juli 2014 at 19:15

    Schöner Artikel. Ich musste herzhaft lachen, sehr schön geachrieben.
    Ich bin auf den Artikel gestoßen weil ich gerne mit dem Flieger nach Alghero fliegen würde und dann mit dem Bus nach Muravera fahren wollte. Nach dem Artikel denke ich mir hingegen, dass es einfacher ist in Deutschland einen anderen Flughafen aufzusuchen um in Cagliari zu landen, also näher an Muravera… Eine Busfahrt in Sardinien stelle ich mir vor wie eine orientierungslosen Wanderung in einer Wüste vor. Trotzdem freue ich mich auf einen eventuellen Sardinienurlaub!

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    • nicole

      15. Juli 2014 at 20:58

      Hallo! Die Strecke Alghero-Muravera ist in der Tat etwas für Fortgeschrittene – käme auf einen Versuch an 😉 Aber was eigentlich gehen müsste: Bus Alghero > Sassari, dann mit dem Zug Sassari > Cagliari, dort Bus Cagliari > Muravera. Und je nach Ankunftszeit und Fahrplan ein Zimmer in Sassari oder Cagliari nehmen und dort einen schönen Abend verbringen – geht in beiden Städten sehr gut 🙂

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